Sg BENEQETTO i:ROCE ■O ■i RANI^EEMERKUNQEN E1NE3 PHILOSOPHEN ZUM WELTKRIEGE Qemalt von Giacomo Qrosso /\ C4/VÄ. BEN TTO CROCE RANDBEMERKUNGEN EINES PHILOSOPHEN ZUM WELTKRIEGE I914 — 1920 * MIT GENEHMIGUNG DES VERFASSERS ÜBERSETZT VON JULIUS SCHLOSSER AMALTHEA-VERLAG ZÜRICH / LEIPZIG / WIEN Alle Rechte vorbehalten C o p y r i g h t I 9 2 2 by A m al t hea - V er 1 a g, Zürich / Leipzig / Wien Spamersche B u ch dr u ck er ei in Leipzig „Wahrheit ist Licht, und Licht ist der Welt Leben." Croce VORWORT DES ÜBERSETZERS Was ein Mann wie Benedetto Croce von der höchsten Warte des Gedankens aus während des Welt- krieges gedacht, gefühlt, geäußert hat, das zu erfahren scheint mir namentlich für uns Deutsche im höchsten Grade notwendig und nützlich zu sein. Denn ich habe die feste Überzeugung (und ich meine, eine nicht mehr ferne Zukunft wird mir Recht geben), daß hier nicht nur der größte Philosoph unserer Zeit (was nicht all- zuviel besagen würde, auch den Modegötzen gegen- über) zu uns spricht, sondern überhaupt der stärkste Denker seit der ersten Hälfte des vergangenen Jahr- hunderts, dort anknüpfend, wo die letzten wirklich großen Denker, die der deutschen romantischen Philo- sophie, den Faden haben fallen lassen, und diesen wieder aufnehmend, über tote Kathederphilosophie hinweg: in seiner vierbändigen ^^Philosophie des Geistes^^ . Croce, der zeitlebens nie etwas anderes als ein einfacher Privat- gelehrter sein wollte, der jede akademische Laufbahn bewußt verschmäht und trotzdem „Schule" gemacht hat, der im Kriege seines innigen Verhältnisses zum echten deutschen Geist und Wesen halber verfemt und geschmäht worden war, der sein Land vor dem furchtbaren Wagnis, in das es geschichtliches Schick- sal trieb, solange als möglich zurückhalten wollte, dann aber stark und männlich seine Pflicht als Bürger erfüllt hat, — wie, sagt das nachfolgende Buch auf jeder Seite, vorbildlich auch für uns Deutsche — dieser Mann war bis vor kurzem Unterrichtsminister des Königreichs, und daß er diese schvvrere Bürde übernehmen konnte und übernahm, ist ebenso ein schönes Zeugnis für den w^ohl- bekannten, auch von ihm selbst mit Recht betonten „buon senso" seines Volkes — im stärksten Gegensatz zu gallischem Nervenkoller —, wie für sein eigenes, aufrech- tes, aber nie beirrbares nationales Fühlen. Niemals hat Croce gegen seine Überzeugung gesprochen, stets frei und offen seine Meinung gesagt, vor allem den eigenen Volksgenossen, wie dessen Verbündeten, und uns, den „Feinden" von damals, ja für diese, mitten im Kriege, mehr als einmal seine Stimme erhoben. Das ehrt ihn, wie uns, ehrt auch sein so oft gerade von den lateini- schen „Brüdern" so gründlich verkanntes und von oben herab behandeltes Land. Es ist starke, nährende, frei- lich oft auch heilsam bittere Kost, die uns hier gereicht wird, wieder im höchsten Gegensatz zu der viel ein- gänglicheren, begehrten und gerühmten des zweifellos edlen, aber auch viel weichlicheren und voreinge- nommeneren Romain Rolland. Und das brauchen ge- rade wir in diesen schwersten Tagen deutschen Ge- schehens ! Croces Aufsätze sind in verschiedenen Zeitschriften und Tageszeitungen, vor allem in der von ihm heraus- gegebenen „Critica" erschienen; gesammelt w^urden sie als ein Band der von seinem treuen Anhänger G. Ca- stellano besorgten „Pagine sparse^^ (4 Bde., Neapel, R.Ricciardi 191 9); eine Auswahl daraus bietet, mit Ge- nehmigung von Autor, Herausgeber und Verleger, der vorliegende Band. Was nun dem Übersetzer vor allem am Herzen lag, war aber, ein Mittleramt zwischen den beiden großen, in Glück und Leid stets schicksalhaft und 8 einzig in Europa verbundenen Völkern, die sich eben so männlich gemessen haben, auszuüben; und darin glaubte ich, als ihnen beiden und nur ihnen, durch Blut und Sinnesart angehörig, dazu ein Bürger der zwischen ihnen liegenden Ostmark, eine gewisse Sen- dung erfüllen zu können, an dem Brückenbau mittun zu dürfen, der sie schon heute wieder einander nähert. Ich habe es auch hier versucht, Croces unerhört kraftvollen Stil, den langen Atem seiner Perioden, in welche die sich drängenden Gedanken oft fast gewalt- sam gepref3t werden , nachzubilden , auf die Gefahr hin, ungelenk zu werden ; es schien mir für das Wesen des Denkers wichtig zu sein. Es mag aber das nachdenkliche Wort in Erinnerung gebracht werden, das der weise Cid Hamet ben Engeli durch den Mund seines Junkers von der Mancha voll orientalischer Gelassenheit ausspricht: „Bei alledem scheint es mir, daß Übersetzen aus einer Sprache in die andere — handelt es sich nicht um die Königinnen der Sprachen, Griechisch und Latein — gerade so viel heißt, als wenn jemand niederländische Tapeten von der Rückseite betrachtet, wo man wohl die Figuren sieht, aber durchkreuzt von Fäden, die sie undeutlich machen, und nichts von der Glätte und dem Aussehen der Vorderseite erkennen lassen . . . Doch will ich da- mit nicht sagen, daß dieses Geschäft des Übersetzens keine löbliche Sache sei, denn es gibt schlimmere Dinge, mit denen der Mensch sich beschäftigen kann und die weit weniger Nutzen stiften." Abbazia, im Sommer 1921. J. S. ALS EINLEITUNG EIN INTERVIEW MIT B. CROCE {Corriere d'ltalia., Rom^ 13. Okt. 191 4). — Ich richtete an ihn die Fragen des Tages : Gibt es zwei verschiedene und ein- ander entgegengesetzte Gesittungen? Glauben Sie an den Unterschied von Rassen und Stämmen? Glauben Sie, daß der deutsche Militarismus sich im Wider- spruch zu der modernen, industriellen Gesittung be- findet? Croce ließ sie lächelnd über sich ergehen; auf jede Frage folgte ein Stillschweigen. Da ich mir dachte, daß dieses Stillschweigen eine Ermutigung bedeutete, fuhr ich fort: Sind Sie den Federkriegen der italieni- schen und ausländischen Zeitungen über dies Verhältnis der italienischen Kultur zum französischen und deut- schen Geiste gefolgt, über die größere Verwandtschaft, die . . . Ja, — unterbrach mich Croce — ich habe diese und andere Erörterungen ähnlicher Art gelesen, nicht allein in den italienischen Zeitungen und aus ihnen, wie man sich leicht vorstellen kann, in den französischen und englischen ins gehörige Licht gestellt, sondern auch Schriftchen, Rundschreiben, Kundgebungen, offene Briefe, wie ich sie Tag für Tag von deutschen Gelehrten, Philologen und Philosophen erhalte, die auch ihrer- seits in den erwähnten Streitigkeiten Partei ergreifen und ihre Meinung oder vielmehr ihr heiß verfoch- II tenes Glaubensbekenntnis mit vieler geschichtlicher Gelehrsamkeit und mit Darlegungen zu stützen suchen. Wollen Sie wissen, was ich davon halte? — Gerade darauf kommt es mir an. — Es ist sehr einfach. Ich betrachte das alles als Ausstrahlungen des Kriegszustandes. Es handelt sich nicht so sehr um vernünftige Erwägungen, als um den Zusammenprall von Leidenschaften ; nicht um logische Lösungen, sondern um die Bekundung nationaler An- sprüche, so edel sie auch sein mögen, nicht um wirk- liche Vernunftgründe, sondern um vorgespiegelte, von der Einbildung erzeugte ... — Demnach glauben Sie, daß diese Fragen nicht wahrheitsgemäße Lösung finden können .f' — Ich glaube, nach beendetem Krieg wird man zur Einsicht kommen , daß der Boden Europas durch einige Monate oder Jahre nicht nur unter der Last der Waffen, sondern auch unter der des Aberwitzes ge- zittert hat. Franzosen, Engländer, Deutsche und Ita- liener werden sich schämen oder werden lächeln, und für die Urteile, die sie von sich gegeben haben, um Nachsicht bitten ; sie werden sagen, daß es nicht Urteile, sondern Gefühlsausdrücke gewesen sind. Noch mehr werden wir Neutrale zu erröten haben, die wir oft, als von einer offenkundigen Sache, von deutscher Bar- barei gesprochen haben; unter allen Torheiten, als Früchten der Jahreszeiten, wird diese den Vorrang be- haupten, weil sie sicherlich die gewaltigste ist. — Sie bedauern also diesen Wettkampf gegenseitiger Verleumdung.? — Hören Sie — schloß Croce -, die Philosophie der Geschichte werden wir später zu verwirklichen haben. Für jetzt wollen wir bloß auf unsere Ange- 12 legenheiten achten, wie es unsere Pflicht ist, und uns auf die Ereignisse ohne Taumel und ohne Hast vor- bereiten. Sollte es uns späterhin gelingen, allen recht und allen unrecht zu geben, wie es zweifellos der künftige Geschichtschreiber tun wird, so wird das ein schöner Be- weis unserer Stärke sein. Und, glauben Sie mir, es würde uns nicht zum Nachteil ausschlagen, weil Wahrheit und Klarheit niemals schaden können. Empfiehlt man den Leuten doch, auch im Augenblick höchster Gefahr nicht den „Kopf" zu verlieren ! 13 ANLÄSSLICH EINER UNTERSCHRIFT De- zember igi4 {La Critica XIII). — Ein geistreicher junger Mann, der Philosophie beflissen und mein guter Freund, richtet in den Spähen einer pohtischen Zeitung [Idea nazionale vom 5. Dez. 19 14) eine Art Vorladung an mich: ich solle erklären, wieso ich vor einigen Monaten meine Zustimmung zu einem Briefe erklärt hätte, gerichtet von einigen italienischen For- schern an den Leiter des Deutschen archäologischen Instituts in Rom, der einen Aufschub des Urteils über die dem deutschen Heere aufgebürdete Zerstörung des Doms von Reims verlangt hatte. Nun bin ich in Wahrheit über alles das, v^as ich, als freier Bürger, im politischen Wesen der gegenwärtigen Stunde, zu tun für gut befinde, niemand anderem als meinem Gewissen Rechenschaft schuldig, und darum habe ich bis jetzt allen Anwürfen oder vielmehr Beleidigungen gegenüber geschwiegen, die ein paar junge politische Literaten mir entgegenzuschleudern beliebten; sie scheinen zu verlangen, daß ich mit ihrem Hirn denken solle, statt mit dem meinen, wie das mein alter Brauch ist. Aber da es sich jetzt nicht darum handelt, der Mitarbeiter der Idea nazionale vielmehr ein Tages- ereignis zu einer großen philosophischen Frage auf- bauscht und eine weitläufige Untersuchung über den Wert der „Geschichte von heute" anstellt, die nicht weniger Geschichte ist als die, die „Geschichte von morgen" sein wird; da wir mithin damit das Gebiet 15 der Philosophie betreten, so kann ich recht wohl und zwar in dieser Rundschau antworten. Vor allem habe ich es nicht nötig, zu erklären, daß ich die „Geschichte von heute" für eine vollkommen echte Geschichte halte, da gerade dies ein seit langer Zeit in mir ausgereifter und in meinen Büchern über die Theorie und Ge- schichte der Historiographie dargelegter Begriff ist. Allein um ihn gänzlich zu verstehen,bedarf es vieler Auf- merksamkeit und feinen Unterscheidungs Vermögens; es mißversteht ihn, wer den historischen (oder gefühls- mäßig-historiographischen) Augenblick einer Schrift oder einer Erzählung, die sich geschichtlich nennt, mit dem gefühlsmäßigen (oder rein gefühlsmäßigen) Augenblick verwechselt, der sich kraft der Einheit des Geistes ebenfalls in jener Schrift oder jener Erzählung vorfindet. Beispielsweise: Die gemäßigte Schule der italienischen Wiedererhebung unternahm es, unter dem Antrieb der nationalen Bestrebungen, das Wirken des Papsttums im Mittelalter von neuem zu überprüfen: da nun die Romantik und der liberale Katholizismus die Einsicht in jenes Wirken förderten, so verstanden jene Geschichtschreiber sehr gut, was die voltairisieren- den Geschichtschreiber nicht getan hatten , daß das Papsttum das Erbe der lateinischen Kultur an sich ge- nommen und gegen die Barbaren geltend gemacht hatte, in einer den neuen Zeiten entsprechenden Form, das heißt als christliches Römertum. „Ge- schichte von heute" und „historiographischer Augen- blick" also — dadurch förderten die Schriften jener Historiker die wissenschaftliche Geschichtschreibung und brachten ihr Begriffe, die einen festen Bestandteil unserer modernen Anschauungen ausmachen. Allein jene Historiker hatten außer der Leidenschaft, die sich i6 zur Geschichtschreibung erhöhte, noch eine andere: die sogenannte neuguelfische Utopie, das Papsttum als einzigen Hort des Guten, damals, jetzt und immer; und diese Utopie (die der Geschichte der liberalen katho- lischen Politik angehört) von jenem historischen Be- griff zu unterscheiden, (der, wie erwähnt, der Ge- schichte des Denkens angehört), das ist Pflicht des Kritikers ; würde er sie miteinander vermengen, so wäre er nicht imstande, jenen Schriftstellern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, vermöchte nicht einmal den Unterschied, der zwischen dem einen und dem andern im Hinblick auf ihr Verdienst als Geschichtschreiber obwaltet, erkennen, und die Troya und Capponi ver- mengten sich ihm mit den Balbo und Gioberti. Ist dies klar? — Mein Freund wird freilich sagen, daß er nicht unterscheiden wolle, und ich muß wiederholen, was ich ihm in dieser Rundschau im Hinblick auf andere festumrissene Aufgaben gesagt habe : daß er da- mit irregeht und darauf verzichten muß , die Lehre von der Historiographie zu entwickeln und ihre Ge- schichte darzustellen, da diese durchaus auf dieser Grundunterscheidung ruht. Wünscht er noch einen weiteren Beweis? Da er nicht unterscheiden will, zwischen Darlegung der Wahrheit und Gefühlsäußerung, und eine reine Ge- fühlsäußerung für ihn ebenso viel gilt als die Er- forschung der Wahrheit, weil diese, seiner Ansicht nach, nichts anderes als eine „Wahrheit der Tat nach" ist, so wäre auch seine an mich gerichtete Vorladung ungerechtfertigt; und ich könnte mich, wollte ich seine eigentümliche Ansicht mir zu eigen machen, darauf beschränken, ihm zu antworten, daß meine „Aktua- lität" mindestens ebenso viel wert sei als die seine, 2 Croce, Randbemerkungen eines Philosophen I ^7 meine Ungereimtheiten ebenso viel, als die von seiner Seite, und damit Gott befohlen! Überhaupt möchte ich meinem Freunde (v^ie andern jungen italienischen Philosophiebeflissenen) raten, sich in jenem Nach- denken zu üben, das die Unterschiede aufspürt und das ebenso nötig ist als das Bewußtsein der Einheit- lichkeit des Wirklichen, das sich, ohne jenes Nach- denken, in abstrakte Einheitlichkeit verliert. Ich möchte ihm noch einen v^eitern Rat geben : sich in jenem andern Unterscheidungsvermögen zu üben, das zwischen Phi- losophie und praktischem Tun liegt, gemeiniglich der gesunde Menschenverstand genannt wird, und ver- bietet, auf Aussprüche Piatos oder Kants zurückzu- greifen, wenn man seine Magd oder den Kutscher aus- schelten will. Der Brief, zu dem ich meine Zustimmung erklärt habe, war kein philosophischer Text, noch hatte ich ihn verfaßt; auch wäre er, hätte ich ihn geschrieben, von vielen Unterzeichneten nicht unterfertigt worden, da sie ihn möglicherweise abgeschmackt oder schul- füchsig gefunden hätten : es war ein gemeinsames Un- ternehmen, und wer in einer Versammlung für eine Tagesordnung stimmt, geht über manches Wort, das ihm überflüssig erscheint, hinweg und bescheidet sich bei manchem andern, das er im Hinblick auf seine eigenen Wünsche vermißt. Handelte man nicht also, so würden keine Tagesordnungen mehr zustande kom- men, noch wäre es möglich, sich zu irgend einem ge- meinsamen Schritt zusammenzutun. Man müßte da- heim bleiben und wissenschaftliche oder dichterische Schriften verfassen. Das, worauf es bei einem solchen gemeinsamen Schritt ankommt, ist, daß man sich sei- nen Grundgedanken aneignet; ich kann meine Ver- wunderung darüber nicht verhehlen, daß mancher über i8 eine Sache so viel redet und tüftelt, deren leitender Gedanke ganz klar zutage liegt. In Italien hatte in- folge von offenkundig zurechtgemachten Telegram- men, die von einer Gruppe der Kämpfenden kamen, eine Reihe von heftigen Kundgebungen gegen die „deutsche Barbarei" eingesetzt, die die HeimatWinckel- manns so behandelten, als w'äre sie die eines Attila oder Omar; und nun wendet sich ein deutscher, seit vielen Jahren in Italien lebender Forscher, Freund und Kollege italienischer Forscher, Leiter eines wissenschaftlichen Instituts, in höflicher Form an seine italienischen Be- rufsgenossen, im Namen jener wissenschaftlichen Brüderschaft, die über den nationalen Kämpfen steht, und ersucht, man möge das Endurteil über das Vor- gehen der Deutschen vor Rheims aufschieben, bis sichere Belege darüber vorliegen. War es also nicht vollkom- men natürlich, daß einige italienische Forscher es für großherzig und pflichtgemäß ansahen, ein Wort der Zustimmung auf jene Aufforderung hin zu äußern? Die Sache mag andern ja nicht zu Gesichte ge- standen haben: aber was hat damit die Lehre vom „zeitgenössischen Wesen" aller Geschichte,* und der „Geschichte von heute", die ebenso Geschichte ist wie die „von morgen" zu schaffen? Würde der in Rede stehende Artikelschreiber einer schlechten Handlung geziehen werden, und wendete er sich an mein Billig- keitsgefühl, das Urteil so lange aufzuschieben, bis er die Belege, die jene Anklage als verleumderisch er- härten, vorlegen könne, müßte ich dann, im Namen des „zeitgenössischen Wesens" der Geschichte seine Bitte abweisen, und dem blinden Trieb des Augen- blicks gehorchend, ihn einstweilen verdammen ? Unser Brief an Prof. Delbrück mag — es steht das auf einem »• _ . 19 andern Blatt — aus politischen Gründen Mißfallen er- regt haben bei denen, die es für förderlich halten, ge- genwärtig Deutschland in düstern Farben zu malen und aus ihm ein Ungeheuer oder Schreckgespenst zu machen ; aber es erscheint mir keineswegs notwendig, dabei die Philosophie zu bemühen. Ich halte es im Gegenteil für klug, sie nicht zu bemühen; denn es könnte ihr einfallen, die Mahnung auszusprechen, daß die Therapeutik der Lügen weder für ein Einzel- wesen noch für ein Volk etwas sonderlich erquickliches hat; und die Geschichte möchte ihrerseits in Erinne- rung bringen, daß im Zeitraum der nationalen Wieder- erhebung, nach der mißlungenen Revolution von 1848/49, Nicolo Tommaseo die Italiener anspornte, aller Weichlichkeit zu entsagen und sich „ein wenig zu Kroaten machen"; desgleichen haben die besten Männer der vaterländischen und freiheitlichen Bewe- gung stets gemahnt, die Schmähungen gegen Radetzky zu unterlassen und sich wohl vor Augen zu halten, daß ebenso wie die Italiener das Recht hatten, gute italienische Patrioten zu sein, ebenso Papa Radetzky für sein Teil „ein ausgezeichneter Heerführer und ein guter österreichischer Patriot" gewesen ist. ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE {Italia nostra 6. Dezember 1914^). — Aufrichtig gesagt, würde ich es vorziehen, wenn die Rede nochmals auf den Krieg und die Haltung Italiens kommt, meine Stimme ab- *) C. bemerkt hierzu: Es war das eine Zeitschrift, die in jenen Tagen eine überstürzte Entscheidung der öffentlichen Meinung Italiens zugunsten einer der beiden kämpfenden Gruppen zu verhindern suchte; für mein Teil war ich überzeugt, daß Italien in einer oder der andern We se am Kriege wetde teilnehmen müssen und daß es sich lediglich um die Art und den Zeitpunkt handelte. 20 zugeben, einfach abzugeben, so wie es der Brauch ist, wenn man den Schluß einer Diskussion verlangt und erhält. Ich meine sogar schon in gewissem Sinne abgestimmt zu haben, als ich meine Billigung der Ziele aussprach, die die Zeitschrift Pro Italia nostra verfolgt. Und da die Gründe dieser meiner Abstimmung nichts sonderlich Auffälliges haben, so genügt es, daß ich sie mir selbst hinreichend klar gemacht habe ; wo- zu die andern zum Überdruß wiederholen, die sie schon einige Male von gewichtigeren Stimmen als der meinen gehört haben.? Ich will daher bloß sagen, daß ich seit dem Aus- bruch des Krieges Gelegenheit hatte, mit vielen Ita- lienern der verschiedensten Art zu reden, in Neapel und auf Reisen in andere Teile Italiens ; die Empfin- dung, die ich bei diesen Gesprächen feststellen konnte, entsprach in ihren Hauptumrissen durchaus der mei- nen : — Schaudern vor diesem Krieg, der sich in einer der Geschichte ganz neuen Gestalt darstellt ; — Be- wunderung und Mitgefühl für die Kraft und den Opfermut, der von allen im Kampf stehenden Völkern so reichlich bezeugt wird; — die Unmöglichkeit für einen Italiener, die eine oder die andere der miteinan- der kämpfenden Gruppen anzufeinden oder (was das- selbe ist) ausschließlich und grundsätzlich mit einer von ihnen zu fühlen, und unsere eigenen Ziele selbst von ihr vertreten zu sehen; — Genugtuung darüber, daß Italien nicht seinerseits dazu beigetragen habe, das fürchterliche Wirrsal noch zu vermehren; — fester Entschluß, alle Anstrengungen zu machen, um uns vorbereitet zu halten, aber zugleich auch die Über- zeugung, daß unser Eingreifen nur dann und in der Art stattfinden könne, wenn uns die Notwendigkeit 21 dazu zwinge; — eine leise Hoffnung bei einigen zu Träumen (aber edlen Träumen) Geneigten, daß Italien, außer seine eigenen völkischen Interessen zu vertreten, zur gegebenen Zeit mit andern Völkern w^etteifern könne, dieser grauenhaften Zerstörung jeglicher Art von menschlichen Kräften ein Ende zu machen. So habe ich zu mir gesagt: — Das ist unser echtes, tiefes Volksgefühl ; es entspricht den schönen Eigen- schaften des Ebenmaßes und der Unparteilichkeit, die dem italienischen Geiste zu eigen sind, wit den besten Überlieferungen unserer Entw^icklung zu einem modernen Volk im achzehnten und neunzehnten Jahr- hundert. Gewiß, außer daß ich solchen Unterredungen bei- wohnte, habe ich auch eine lange Reihe von Artikeln gelesen, die seit drei Monaten Italien anspornen, sich in den Krieg zu stürzen, mit den drohenden Worten (die sich ebenfalls schon seit drei Monaten wieder- holen): „Jetzt oder niemals!"; die mit fein ausgeklü- gelten Gründen beweisen, wie die Bestrebungen Italiens sich vollkommen mit denen einer der kämpfenden Gruppen decken und die ebendeshalb den Krieg an der Seite dieser Gruppe empfehlen. Wenn ich auch die aufrichtigste Hochschätzung für den patriotischen Eifer, den man zuweilen in diesen Mahnungen und hinter der Darlegung jener Gründe empfindet, aner- kenne, so kann ich mich doch nicht zu diesem krie- gerischen Kredo bekehren und habe zu seinen Apo- steln nicht allzuviel Vertrauen. Denn ich bemerke unter ihnen sehr viele, die ich in den letzten Jahren schon kennen gelernt und am Werk gesehen habe, als Improvisatoren neuer Philosophien, neuer Sozialismen, neuer Formeln in Dichtung, Malerei, Musik: ohne 22 daß uns jemals neue Religionen oder Philosophien oder andere als höchst mittelmäßige Dichtungen, Ge- mälde und Tonwerke beschert worden wären. Und ich fürchte, daß sie sich jetzt mit der nämlichen un- klugen Leichtfertigkeit darauf geworfen haben, Politik und Krieg zu improvisieren, und über das Los unseres gemeinsamen Vaterlandes zu entscheiden. Mit der nämlichen unklugen Leichtfertigkeit, aber unter viel größeren Gefahren, da in jenem andern Fall die Ge- fahr bloß im unnützen Verbrauch von Papier und Druckerschwärze lag, hier aber das Schicksal Italiens auf dem Spiele steht. Worüber ich mich aber vor allem wundere, ist der Versuch, ein Volk mit Hilfe von Vernunftgründen und Mahnungen zum Kriege zu bewegen. Der Krieg ist gleich der Liebe und dem Hasse etwas, das tausend Vernunftgründe und Mahnungen nicht zu erzeugen verstehen, aber das plötzlich, man weiß nicht wie, von selber entsteht, Seele und Körper ergreift, ihre Kräfte verhundertfacht, ihnen die Richtung gibt, und seine Rechtfertigung in sich selbst hat, durch die bloße Tat- sache, daß es da ist und wirksam wird. Ich wünsche meinem Lande, daß es den Krieg nur dann beginnen möchte, wenn es selbstwillig auf diesen Wendepunkt von Liebe und Haß gelangt ist, der das Unterpfand des Sieges oder wenigstens e'ines ruhmvollen Ringens bedeutet. Und ich denke mit Schauder an das, was sich bei einigen Völkern ereignet hat (und die Geschichte Italiens selber bietet dafür Beispiele!), als der Krieg durch die Vernünfteleien Ungeduldiger hervorgerufen worden war. 23 DEUTSCHE KULTUR UND ITALIENISCHE POLITIK {Italianostra 2y,Dex. 1914). Lieber Freund! Auch Du stimmst also in den Chor ein, den wir aus Zeitungen vernommen haben, kaum daß ich und an- dere Gelehrte den Brief des Prof. Delbrück unter- zeichnet haben ? Auch Du wiederholst, daß „wir das Unrecht begehen, unsern Forscheranteil an deutscher Philosophie und Wissenschaft, an Kant und Hegel, auf das Gebiet der Politik zu übertragen ?" Mir schien es ganz natürlich, wenn irgend ein Tagesschreiber, in gutem oder schlechtem Glauben, aus Torheit oder Böswilligkeit dergleichen in Umlauf gebracht hat; aber von Dir, der Du mich kennst, von Dir, der die Ge- wohnheit des Überlegens besitzt, hätte ich mir nicht erwartet, was ich in der Sprache Lombrosos: „Echo- gerede" oder in der Leibnitzens : „Psittazismus" nennen möchte, um zu vermeiden, es auf gut deutsch : Papa- geiengeschwätz zu nennen! Wie doch? Wenn ich seit vielen Jahren sage und drucken lasse, daß die große Zeit des deutschen Ge- dankens, wie sie sich zwischen 1780 und 1830 abge- spielt hat, nicht mehr im besonderen Deutschland an- gehört, in derselben Art, wie die große Zeit des helle- nischen Gedankens nicht mehr dem heutigen Griechen- land, sondern der Menschheit zugehört? Und daß die Deutschen von Tieute, längst von ihr geschieden, zu ihr im nämlichen Verhältnis wie jedes andere Volk "stehen, vielleicht sogar mit einer gewissen Minder- wertigkeit anderen Völkern gegenüber, da diese Ge- danken in Italien und in England besser verstanden und fruchtbarer gewesen sind, als in Deutschland? Mein ganzes bescheidenes Tagwerk war immer darauf gerichtet, italienische Überlieferungen wieder aufzu- 24 nehmen, sie mit Bestandteilen anderer Kulturen zu be- reichern und zu verschmelzen, und so die Arbeit fort- zusetzen, die auf dem Gebiet der Forschung von den Männern unserer Wiedererhebung begonnen v^^orden ist. Derart, daß die deutschen Kritiker meiner Bücher und die Professoren der deutschen Hochschulen, die von ihren Lehrstühlen herab ihre Schüler auf sie auf- merksam machen, zu bemerken pflegen, es seien „aus- gesprochen nationalistische" Bücher, und darum „mit einiger Vorsicht" zu lesen ! Selbst eine deutsche Uni- versität, die mir vor Jahren durch Zuerkennung ihrer Doktorv^ürde ihr Wohlv^ollen bezeugt hat, hob in der Begründung des Diploms hervor, daß ich propugnntor apud Italos acernmus (der schärfste Vorkämpfer auf ita- lienischem Boden), nicht der deutschen Philosophie der Gegenv^art, vielmehr derjenigen Kants und Hegels sei, sublimioris illius phHosophiae (jener höheren Phi- losophie), und setzte hinzu sui tarnen juris, das heißt „auf meine Weise". Auch habe ich italienischen Philosophiestudenten, die sich mit Stipendien nach Deutschland begaben, und mich um Rat fragten, Viel- ehe Kollegien sie belegen sollten, stets geraten, ihre Stipendien dazu zu benützen, um Deutschland kreuz und quer zu bereisen, dieses prächtige Land und seine große Zivilisation kennen zu lernen, v^as aber die Philosophie betreffe, überzeugt zu sein, daß sich in jeder italienischen Bücherei die Hilfsmittel finden, um sie zu studieren, so daß „die philosophischen Reisen sich in der Zeit und nicht im Raum abspielen." Ich soll also in der Tat so töricht gew^orden sein, kindischerweise die Bewunderung für die großen Männer mit der politischen Parteinahme für die Län- der, in denen sie geboren sind, zu vermengen? Da 25 müßte ich ja in politischer Hinsicht allen Völkern, die jetzt im Kriege stehen, zuneigen: England wegen Shakespeare, Frankreich wegen Cartesius, Rußland wegen Tolstoi, mithin sämtlichen, etwa mit Ausnahme des armen Serbiens, dessen dichterischen oder philo- sophischen Genius — meine Unkenntnis mag daran schuld sein — ich bisher nicht kennen gelernt habe. Du würdest viel mehr ins Ziel treffen, wenn Du, was das heutige Deutschland anbetrifft, von meiner tiefen Bewunderung für seine politische und sittliche Kraft sprächest. Aber auch damit könntest Du mir keine Schuld nachweisen ; denn wer bewundert nicht dieses Deutschland? Es tun dies ja sogar jene, die es verabscheuen oder zu verabscheuen vorgeben; denn in diesem Abscheu liegt Neid, Eifersucht, Wider- streben — alles in allem genommen Ehrfurcht und Bewunderung; in der Abneigung liegt der Versuch gewaltsamer Gegenwirkung gegen eine selbstwillige Neigung, die allzuviel Tadel gegen uns selbst in sich schlösse. Sieh, ich war einmal leidenschaftlich für den parlamentarischen Sozialismus nach Art von Marx, später für den syndikalistischen nach Art Sorels ein- genommen, ich erwartete von dem einen wie dem andern eine Umgestaltung des gegenwärtigen Lebens. Und beide Male sah ich dieses Ideal von Arbeit und Gerechtigkeit sich auflösen und verflüchtigen. Jetzt aber ist in mir die Hoffnung auf eine in der geschicht- lichen Überlieferung beschlossene und durch sie ge- löste proletarische Bewegung erwacht, auf einen staat- lichen und nationalen Sozialismus, und ich denke, daß dieser, den die Demagogen Frankreichs, Englands und Italiens — (die nicht dem Proletariat und den Arbeitern, sondern, wie mein verehrter Freund Sorel sagt, den 26 „Schädlingen" [noceurs] den Weg bahnen) — nicht oder nur recht übel und mit schließlichem Mißerfolg ins Werk setzen werden, vielleicht eben durch Deutsch- land hervorgebracht werden dürfte, das den übrigen Völkern ein Beispiel und Vorbild geben wird. Daher beurteile ich das Verhalten der Sozialisten in Deutsch- land wesentlich anders als ihre Genossen in Italien, und glaube, daß diese deutschen Sozialisten, die sich mit dem Staat und seiner eisernen Manneszucht völlig eins fühlen, die wahren Bahnbrecher der Zukunft ihrer Klasse sein werden. Aber nicht einmal dies mein Urteil über das heutige Deutschland ist der Leitgedanke, der mein gegenwärtiges politisches Verhalten und meinen Beitritt zu der Gruppe Pro Italia nostra bestimmt. Denn so hoch, so erhaben auch die Kraft Deutschlands sein mag, die Verwick- lung der Ereignisse könnte uns, so wie sie uns zuerst zur Neutralität geführt hat, zwingen, zum Besten Italiens uns gegen Deutschland zu stellen. Wenn uns dieses zum Beispiel herausfordern würde, wenn es irgendwie unsere Bestrebungen bedrohte oder unsere nationale Würde antastete, so würde augenblicklich aus meiner Brust alle Bewunderung ihm gegenüber, alle unzeit- gemäße Bewunderung verschwinden, und es bliebe nichts als mein Gefühl als Italiener übrig, erregt und verschärft durch die Herausforderung. Hier ist aber der springende Punkt. Jetzt und dauernd treibt uns nicht das mindeste gegen Deutschland, so wie uns gar nichts in die Arme der übrigen kämpfenden Völker treibt. Freilich, die Einbildungskraft schafft Schreck- bilder von Gefahren im Falle eines deutschen Sieges; aber sie schafft deren ebenso für den Fall des Sieges der andern, und für alle möglichen andern Fälle. Allein 27 die Einbildungskraft ist die Mutter der Furcht, und Gefahren drohen bei jeglichem Schritt im Leben; und gerade deshalb weil es Gefahren gibt, darf man nicht den Kopf verlieren und sich in den Abgrund stürzen. Gegen Deutschland werden jetzt und fortwährend nur schwache Vernunftgründe ins Treffen geführt: die der Republikaner oder der Sozialisten von der Richtung Mussolinis, von den Nationalen in das treffende Leit- wort zusammengefaßt: „Für die Demokratie, aber nicht für Italien", sowie jene der Nationalen, die sich ihrer- seits in dem andern Leitwort zusammenfassen ließen: „Für den Krieg und nicht für Italien". Beides ist allzu- wenig. Du wirst sagen : Aber es ist doch immerhin gut, den Fall eines notwendigen Zwiespalts mit Deutschland vorauszusehen und sich darauf vorzubereiten. — Ein- verstanden, vorausgesetzt, daß du hinzufügst: auch der andere Fall müsse vorausgesehen werden, der eines Zwiespalts mit den Gegnern Deutschlands, und dafür Vorbereitungen getroffen werden. Schalten wir also die beiden Sätze, die sich gegenseitig ergänzen und auf- heben, aus, so ergibt sich, daß wir über die Notwendig- keit einig sind, uns für jeden Fall gerüstet zu halten: und darin ist die übergroße Mehrheit der Italiener mit sich und mit ihrer Regierung einig. Ich habe für meine Person gesprochen, da ich weder die Pflicht noch das Recht habe, im Namen der übrigen Mitglieder der Gruppe Pro Italia nostra zu sprechen; vielleicht sind aber die andern, oder viele von ihnen, von denselben Gedanken aus zum selben Endergebnis gelangt. 28 UNVERDIENTES GLÜCK {Italia nostra 31. Jan-- ner 1915). — Bekanntermaßen ist es nützlich, denen ein aufmerksames Gehör zu schenken, die eine von der unseren abweichende Ansicht vertreten, w^eil in jeder Ansicht stets irgendeine Forderung steckt, die w^enigstens in diesem ursprünglichen Leitgedanken berechtigt ist. Den Ausbruch unserer persönlichen und festbegründeten Überzeugungen, die uns oft gegen die der andern un- duldsam machen, zurückzuhalten, uns genaue Rechen- schaft von jenen Wahrheiten und jenen Forderungen geben, das heißt unsere Kräfte selbst erhöhen und sie dem Gegner nehmen. Hier handelt es sich nun um einen Gedanken, der oft in den Gesprächen und den Schriften mancher auf- taucht, die Italien anstacheln, sich ohne v^eiteres in den europäischen Krieg zu stürzen. Italien (sagen sie) hat sich seine Einheit nicht durch die Kraft seiner Söhne allein erworben, sondern durch die politische und militärische Unterstützung anderer Staaten, als ein für das europäische Gleichgewicht nütz- liches Gebilde. Auch während der ersten fünfzig Jahre seiner Einheit hat es keinen genügenden Beweis dafür erbracht, daß es allein vorteilhaft zu handeln verstehe. Hält es sich im gegenwärtigen Kriege abseits, so wird es, als Nichtkämpfer, moralisch noch mehr geschwächt unter den übrigen Völkern, seien sie nun Sieger oder Besiegte, dastehen. Jetzt ist der Augenblick da, um uns nicht bloß von den Beschuldigungen, die die Fremden gegen uns richten, zu reinigen, sondern (was mehr heißt) auch von denen, die wir selbst gegen uns richten, von den Anwürfen, die uns unser Gewissen macht, und die eine Art Mißtrauen und Niederge- schlagenheit in unser ganzes gesellschaftliches und 29 politisches Leben bringen, gerade so wie dies im Einzel- leben eines Menschen der Fall ist, der sich gering ge- achtet fühlt und sich selber gering achtet. Wie ich schon sagte, liegt in dem allem etwas Wahres; denn was sollten sonst die Sätze vom „Stern Italiens," von dem „geschaffenen Italien" und den „zu schaffenden Italienern" und ähnliche besagen, die gleich nach 1 860 von den Lippen der Männer der Wieder- erhebung kamen? Man könnte jedoch vielmehr die Frage aufwerfen, wieso diejenigen, die jetzt mit so harten Worten die Wunden Italiens aufdecken, sich nicht schon vorher der Schäden unseres nationalen Bestandes be- wußt geworden sind, nicht den Warnungsruf aus- gestoßen und ihre Tätigkeit auf deren Heilung ge- richtet haben? Was haben alle diese Italiener bis zum Vorabend des Krieges getan, die sich jetzt in eifernde Hüter der nationalen Ehre und in Schmähpropheten des Krieges verwandelt sehen ? In welcher Weise haben sie zu der bürgerlichen Erziehung, zum geistigen Fort- schritt, zur wissenschaftlichen Geltung, zu der politischen und sozialen Festigung des italienischen Volkes bei- getragen? Es sind das Fragen, die zu Beschwerden und Anklagen führen würden, und auf denen ich dar- um nicht weiter bestehen will, sowohl, weil ich der- gleichen für wenig nützlich halte, als auch deshalb, weil sie in diesem Fall nicht einmal dem, der sie er- hebt, den bittern Trost gewähren, sich von der Schuld, die er an andern tadelt, rein zu wissen. Die Sünden eines Volkes verbreiten sich über alle seine Glieder und lasten auf jedem wie persönliche Sünden. Es be- reitet keine Freude, wenn man sagt: Ich für mein Teil habe das getan, was ich schuldig war; oder: Ich für meinen Teil habe mich bestrebt, den Ver- 30 blendeten die Augen zu öftnen. — Was nützt es? Diese Verblendeten, diese Andern, diese Plebs, diese Menge sind wir dennoch selber, weil wir alle zusammen Italien sind. Mithin wollen wir alles Unnötige und Aufreizende beiseite lassen und von dem sprechen, was gegen- wärtig nottut. Welches Übel bemerkt man denn in unserer nationalen Entwicklung.? Daß wir von 185g bis 1 870 ein Ergebnis erreicht habeii, das größer war als unsere Anstrengungen, als unsere bürgerliche und militärische Vorbereitung; wir haben in der Folge an unserem nicht ganz verdienten Glück gelitten und leiden noch daran. Sei es denn. Welches Heilmittel schlägt man uns aber jetzt vor? Daß wir, nach lange vernachlässigter Vorbereitung, nachdem wir bis gestern andere Dinge im Sinn gehabt haben, jetzt auf einmal tun sollen, was wir in Jahrzehnten nicht getan haben, daß wir mit einem Streich von Genialität und Helden- tum die verlorne Zeit einbringen, und uns begierig in den Krieg stürzen, um aus ihm geläutert hervor- zugehen, und befähigt zu den Sternen des Ruhms auf- zusteigen. Nehmen wir nun an, die Sache gelingt uns, so ist es im übrigen sicher, daß sie uns nur mit der reich- lichen und großmütigen Mithilfe jenes Glücks gelingen kann, das uns andere Male so sehr genützt und ge- schadet hat. Und dann? Was wird die Folge des vom Glück gekrönten Unternehmens sein ? Daß wir Italiener immer mehr in unsere gewohnte Untätigkeit und Zwecklosigkeit versinken werden, voll geringen Ver- trauens in uns selbst im alltäglichen, gewöhnlichen Leben, immer auf außerordentliche Augenblicke rechnend, auf Wunder der Begeisterung, der Genialität, 31 der beschwingten Worte, alles in allem, auf das Glück. Es scheint mir klar. Der unwissende Schüler, der in den der Prüfung unmittelbar vorausgehenden Tagen, ohne sich über das weise Sprichwort: „Es kommt dar- auf an, sich bestrebt zu haben, nicht bestrebt zu sein," Gedanken zu machen, eine Stegreifvorbereitung an- stellt und es mit Hilfe des Glücks erreicht, den Prüfer zu hintergehen und ein günstiges Zeugnis zu ergattern, bleibt nachher derselbe Esel wie vorher und ist sittlich noch schlechter geworden. Ich lasse dabei die Mög- lichkeit des Durchfallens unberührt, das heißt, (um wieder auf Italien zu kommen), daß uns diesmal das Glück nicht hilft, weil dies unserem Geiste ein so schauerliches Schauspiel bietet, daß man sich auf der Stelle, von Schrecken erfaßt, zurückzieht. Alles in allem: hat Italien Schulden zu sühnen? Setzen wir den Fall. Allein kommt es vernünftigen Menschen zu, als Weg der Sühne gerade den zu wählen, der, wenn überhaupt etwas erreicht wird, da- zu führt, die Zahl der „zu sühnenden Schulden" noch zu vermehren und der selber eine dieser „Schulden" ist? Mir scheint, daß Nachdenken über die jüngste Ver- gangenheit Italiens (mit dem üblen Ausgang aller genialen und großtuerischen Streiche, den sie uns vor Augen führt) uns zu einem ganz andern Verhalten auffordert. Haben wir Schulden abzubüßen (und wir haben dies sicherlich), so beginnen wir, möchte ich sagen, sie von jetzt an zu sühnen, in der gesunden un- mittelbaren Form der Sühne, die sie erfordern. Um uns ist der europäische Krieg? Nun gut, trachten wir ernsthaft zu sein : Fördern wir alle Anstrengungen, die auf die möglichst beste Bewaffnung und Ausbildung unseres Heeres zu Land und zu Wasser abzielen, folgen 32 wir den Ereignissen, bereit mit umsichtiger Kraft zu handeln, im alleinigen Namen des Vaterlandes, denn nichts als das Vaterland steht jetzt in Frage. Wir werden in den Krieg eintreten oder nicht: dies hängt nicht von uns ab, sondern von der Notwendig- keit, die uns die eine oder die andere Entscheidung auferlegen wird; und sollte es uns infolge des Krieges beschieden sein, noch eine weitere Sühne auf uns nehmen zu müssen, so wird, uns dies leichter fallen, weil wir uns seitdem freiwillig auf den rechten Weg der Sühne begeben haben, der die Arbeit ist. Aber es handelt sich für jetzt nicht blof3 um den Krieg, sondern um die ganze Lebensführung. Nun wohl, wenn jetzt der mit irgendeinem Dienst Betraute (und wäre es ein Straßenkehrer!) mit größerem Eifer seine Pflicht erfüllte; wenn der Lehrende sich mit mehr Hingabe den Aufgaben seines Lehrberufs widmen wollte, und wäre dieser auch so wenig kriegerisch als die semitische Sprachkunde oder die höhere Geometrie; wenn der Schriftsteller mit größerer Aufmerksamkeit als gewöhnlich auf die Wahrheit der Tatsachen und die Logik der Gedanken in seiner Prosa achtete; wenn jeder, dem ein Amt anvertraut ist, es mit Liebe um- faßte, und sich nicht mehr bemühen wollte, wie in ver- gangenen Tagen die Bande, die ihn an dieses fesseln, zu lockern, um der eigenen Bequemlichkeit zu frönen; wenn alle diese und andere, mit deren Aufzählung man noch ein gutes Stück weiter fortfahren könnte, sich derart verhielten, würden sie der tragischen Göttin des Krieges das einzige würdige Opfer darbringen und eine geistliche Übung betätigen, die uns in den Stand setzen würde, im besten Leibes- und Geisteszustand zu sein, falls der Krieg über uns hereinbricht. 3 Ctoce, Randbsmerlnmgen eines Philosophen 33 Ich bin mir bewußt, von nüchternen und langweiligen Dingen zu reden. Es ist poetischer und unterhaltender, die Sünden Italiens damit zu sühnen, daß man, wie es an der Universität Neapel geschah, einen bescheidenen deutschen Lehrer der deutschen Sprache auspfeift, und unter großen Geschrei Triest und Trient von einem verlangt, der den neapolitanischen Studenten nichts anderes bieten kann als die Anfangsgründe eines ihnen unbekannten Alphabets^) oder, wie es in Rom ge- schah, einen polnischen Lehrer der Pandekten auszu- ^) Anmerkung C.s: Der deutsche Lehrer, den ich in dieser Art, aus einem Gefühl der Gastfreundschaft heraus, gegen die studentischen Angriffe in Schutz nahm, war Dr. Klemperer, ein Forscher von vielem Verdienst, und unter anderem Verfasser eines scharfsinnigen Buches über Montesquieu. Aber er war Deutscher im verwegensten Sinn des Wortes. Das heißt un- fähig, die Psychologie und die geistige Verfassung anderer Völker zu ver- stehen. Nachdem Italien den Krieg erklärt hatte, verließ er Neapel, ohne sich von mir, nicht einmal mit einer Visitenkarte, zu verabschieden, und steuerte, nach Deutschland zurückgekehrt, zu dem vielberufenen, gegen Italien gerichteten Heft, das die Süddeutschen Monatshefte in München veröffent- lichten, einen Aufsatz mit italienischen Erinnerungen bei, in dem er alle Äußerungen abdruckte, die aus meinem Munde wie aus dem anderer Ita- liener, mit denen er verkehrt hatte, gekommen waren. Das war sicherlich nicht höflich, dafür scheint er jedoch in diesem unerlaubten Reportertum sehr peinlich gewesen zu sein, soweit ich, was mich betrifft, urteilen kann, das heißt, soviel ich darüber im Marzocco (XX. Jahrg. Nr. 30 vom 25. Juli 1915) gelesen habe, da mir jenes deutsche Heft niemals vor Augen ge- kommen ist. In der Tat schreibt der Marzocco, den Aufsatz Klemperers ausziehend und ironisch erläuternd: „Teufel! Ein gebildeter Mensch, der glaubt, Italien sei erlaubt das zu tun, was Deutschland getan hat, und der nicht weiß, daß es seine Pflicht gewesen wäre, lediglich das zu tun, wat Deutschland ihm aufgetragen hätte! Gipfelpunkt des Vermessensl — Das Gemüt des ehrenwerten Vertreters deutscher Universitätskultur in Italien begreift nicht diesen seltsamen psychologischen Vorgang. Und seine Ver- wunderung nimmt zu, wenn er im gastlichen Hause Benedetto Croces — wo er, nach eigenem Geständnis, den größten Anteil und das tiefste Ver- ständnis für Deutschland gefunden hatte — vom Hausherrn die Erklärungen, die der deutsche Kanzler im Reichstage über die scheinbare Neutralität Belgiens abgegeben hatte, eine „abstoßende Roheit" nennen hört; Henedetto Croce, dieser große Bewunderer des deutschen Charakters, erlaubte sich also an der Aufrichtigkeit Herrn Bethmann Holiwegs zu zweifeln. Unglaub- lich 1" (G. S. Gargäno, im Marzocco a. a. O.) 34 pfeifen, weil er sich nicht, wie es die Studenten for- derten, für einen deutschfeindlichen Polen erklärte. . . Dann wird ja der Krieg kommen, und uns, ohne daß wir weitere Anstrengungen zu machen brauchen, Wissenschaft, Kunst, Philosophie, Reichtum, Sittlich- keit, Glück und so weiter und weiter schenken. In- zwischen wollen wir die Bücher schließen, die Arbeits- räume fliehen und uns in den Tempel des Krieges be- geben, will sagen ins Kaffeehaus! GEGEN DIE NEBELHAFTIGKEIT UND DEN MATERIALISMUS IN DER POLITIK i) {Italia nostra, Jänner 191 5). — Wer die politischen Gruppenbildungen, die jetzt in Italien besonders unter der Jugend erstehen, verfolgt, die Aufsätze in ihren Zeitschriften liest und den umlaufenden Äußerungen sein Ohr leiht, hat Gelegenheit, den Gegensatz oder das Durchkreuzen zweier sich entgegenstehender Grundanschauungen zu beobachten: die eine könnte man die der bedingungslosen Gerechtigkeit, die andere die des Kampfes ohne Gerechtigkeit nennen. Die erste hat ihre nächsten Vorläufer im Humanitäts wesen des achtzehnten Jahrhunderts, das sich teilweise im Mazzinianismus fortsetzte; die zweite namentlich in der sozialistischen Ideologie, die von den Beziehungen zwischen den Klassen der Gesellschaft auf die zwischen den Völkern und Staaten übertragen wurde. Die erste ist seraphisch, und darum wenig menschlich; allzu menschlich die zweite, und deshalb unmenschlich; die eine neigt zur Abstraktion und zur ^) Es muß bemerkt werden, daß dies ein älterer, bereits aus dem Jahre 1912 stammender und in dem Buche: Cultura e vita morale (Bari 1914) abgedruckter Aufsatz Croces ist, den die obengenannte Zeitschrift 1915 von neuem wiederzugeben für angemessen hielt. 3» 35 Gleisnerei, die zweite zum Materialismus und Zynis- mus; beide gewähren keine Befriedigung und sind trotzdem beide auf Gründe gestützt, die, obgleich ein- seitiger Art, dennoch niqht aufhören, anscheinend höchst wirksam zu sein. Wie kann man in der Tat leugnen, daß die Gerech- tigkeit, die Achtung des Menschen vor dem Menschen, der Verein der Geister zu gemeinsamer Pflege des Wahren und des Guten, die Unterordnung unter ein allgemeines Maß grundlegende und unerläßliche For- derungen seien, ohne die das Leben allen Sinn, alle Führung, alle Wärme verlieren würde und in seinem tiefsten Innern nicht mehr seine liebsten Stimmen ver- nehmen könnte? Wie kann man anderseits verkennen, daß Leben Kampf ist, mitleidsloser Kampf, daß der Krieg sein Gesetz hat, daß die Geschichte eine Ge- schichte der Kriege, nicht der Friedensschlüsse ist, von Taten der Kraft, nicht von Zugeständnissen, daß dieser Kampf jeden Tag ausgefochten wird; wehe denen, die nicht daran teil und in ihm Partei nehmen, den Neutralen und den Menschen der „reinen Hände", die schließlich solche sind, die im Schöße ruhen ! Wie könnte man dem nicht beistimmen, der uns erinnert, Italien habe seine Wiedererhebung ins Werk gesetzt, um Taten der Liebe, nicht solche des Hasses zu voll- bringen, Werte der Zivilisation, nicht der Gewalt; und wie könnte man dem unrecht geben, der bitter über diese schönen Worte lächelt, die von den Tat- sachen in jedem Augenblick widerlegt werden, und die den unumstößlichen Beweis erbringen, daß Italien, auch wenn es wollte, sich der Notwendigkeit nicht zu entziehen vermag, ungerecht mit den Ungerechten und gewalttätig unter den Gewaltmenschen zu sein? 36 Das Endergebnis der einen wie der andern Auf- fassung ist Pessimismus: ein leidender Pessimismus im ersten Fall, gezwungen zur Untätigkeit oder zu vergeblichen Predigten (was gerade Untätigkeit be- deutet), zu endlosen Verwahrungen, Klagen, Verzweif- lungsseufzern ; ein tätiger Pessimismus im andern Fall, aber der einer falschen Tätigkeit, die nur handeln will, um zu handeln, um sich zu rühren und zu betäuben, wohlbewußt etwas zu tun, das der Gerechtigkeit, das heißt mithin des Wertes entbehrt. Wie man sieht, befinden wir uns einem alten Problem gegenüber, das man fast verzweifelt nennen könnte: dem des Widerspruchs zwischen Moral und Politik und zwischen privater, bürgerlicher Sittlichkeit, dem Problem des Machiavellismus, das lange Jahre hindurch für unsern Villari einen Gegenstand des Nachdenkens und der Kümmernis gebildet hat, weil er in Wahrheit niemals den Mittelbegriff zu finden vermochte, der ihm den Ausgang aus jener Gegensätzlichkeit verstattet hätte. Auf dem Felde der Antithesen ist das Problem auch unlösbar; man hat sich von einer Seite zur anderen gewandt, oder ist erschöpft in der Mitte verblieben, kummervollen Blickes das Los des Menschen betrach- tend, der zur Unreinheit und zur Unsittlichkeit ver- dammt ist. Es ist unnötig zu sagen, daß die wahre Un- reinheit gerade in diesem Bewußtsein der Ohnmacht, in diesem trostlosen Hinnehmen dessen, was als schlecht erkannt wird, liegt. Weit besser ist es, sich von einem zum andern entgegengesetzten Grundsatz zu schlagen, was, wenn schon nichts anderes, doch etwas Tragisches hat! Um den MittelbegrifF zu finden, ist es vor allem flötig, zwischen zwei ganz verschiedenen Reihen voii Werten zu unterscheiden, den allgemein menschlichen 37 Werten, die man die der Kultur nennt und den Er- fahrungswerten oder wie sie auch genannt werden, den geschichtlichen. Die Wissenschaft, die Kunst, die Sitt- lichkeit bieten Beispiele für die ersten; Rom oder Griechenland, Italien oder Frankreich, Monarchie oder Republik, Staat oder Kirche, Beispiele der zweiten: geschichtliche Bildungen oder Einrichtungen, die aus den Anstrengungen vieler Geschlechterfolgen und un- zähliger Einzelwesen hervorgehen, besondere Tat- sachen, in denen die allgemeinen oder menschlichen Werte Körper und unterscheidende Merkmale an- nehmen und Bedingung und Grundlage für weitere Tätigkeit bilden. Das unterscheidende Merkmal beider Reihen ist durchaus klar: die ersten sind höchste In- stanzen, die zweiten nicht, die ersten sind nicht erzeugt und unvergänglich, die zweiten entstehen und vergehen. Nichts steht über dem Wahren oder dem Guten; jedoch über Rom und Griechenland, Italien und Frankreich, Staat und Kirche hinaus gibt es etwas Höheres; Rom ist tot, das alte monarchische Frankreich lebt nur noch mehr im Hirn einiger Literaten, Kirche und Kaiser- tum sind traurige Ruinen; das italienische und das deutsche Volk kann sich erschöpfen und verschwinden, wie die Hethiter und die Karthager verschwunden sind: die Kategorien des Wahren und des Guten aber leben und werden so jung und wirksam fortleben wie am ersten Tag der Welt, und fortdauernd die alte Welt verjüngen. Hat man diesen Unterschied erfaßt, so ist damit der Wert jener zweiten Reihe von Werten nicht geleugnet, gerade so, wie es abgeschmackt wäre, den Wert eines Erbgutes deshalb zu leugnen, weil es ein- mal aufgezehrt und zerstreut sein wird; in der Zwischen- zeit ist es eben weder aufgezehrt noch zerstreut, sondern 38 stellt eine Kraft und ein mächtiges Werkzeug für das menschliche Handeln dar. Ist es angemessen, die Kultur- werte zu verteidigen, so ist es nicht minder angemessen, die geschichtlichen Werte zu verteidigen, wie im übrigen alle empfinden und tun, weil alle, ohne daß es vieler Gründe bedürfte, sich getrieben fühlen, ihr Familien- gut zu verteidigen, ihre Heimat, ihre Kinder, alle Ein- richtungen, denen sie zugehören. Nur daß die Kulturwcrtc, kraft ihres Charakters der Allgemeinheit, sich entwickeln und miteinander ringen, ohne daß jemals einer von ihnen den aadcrn unter- drückt, sondern im Gegenteil jeder den andern fördert: die Wissenschaft, die nicht Sittlichkeit ist, indem sie eben diese neu kräftigt; die Sittlichkeit, die nicht Wissen- schaft ist, indem sie diese fördert. Die Erfahrungswerte hingegen, gegründet (könnte man in der Ausdrucks- weise der Logik sagen) nicht auf reine, sondern auf Vorstellungsbegriffe, das heißt ihrem Wesen nach Tat- sachen, nicht Begriffe, kämpfen miteinander, indem einer den andern zerstört und sich an seine Stelle setzt: Rom zerstört Karthago, das Germanentum Rom, das Kaisertum die Kirche und die Kirche das Kaisertum, endlich der moderne Staat alle beide. Hier erhebt sich aber die angstvolle Frage von Seiten derer, die sich un- rettbar in einen Vernichtungskampf dieser Art hinein- gerissen fühlen, und die, als Menschen, sich beugen, zweifeln, Gott das heißt das eigene Gewissen fürchten : für wen und für was sollen wir Partei nehmen? Stellen die menschlichen Werte die einzigen beharrenden und höchsten Werte dar, welche der geschichtlichen Ein- richtungen verkörpert sie mit Ausschluß der andern oder vor ihnen.? Welcher von ihnen hat den Anspruch auf unsere völlige Hingabe? 39 Auf diese Frage kann es keine andere Antwort geben, als daß alle jene gegensätzlichen und miteinander- kämpfenden Einrichtungen gleicherweise die mensch- lichen Werte verkörpern und zugleich nicht verkörpern: alle tragen Recht und Unrecht in sich, alle sind wert verteidigt zu werden und ebenso wert, zugrunde zu gehen, und wer von der Philosophie einen Fingerzeig erwartet, um für die eine oder die andere Partei zu er- greifen, wird niemals auf seine Rechnung kommen, da die Philosophie, gleich unersättlich wie die Ge- schichte, sie sämtlich anerkennt und sämtlich verwirft; allein da alle diese Einrichtungen eben einen wahren Leitgedanken und eine der Verteidigung werte Seite aufweisen, wenngleich jede zum Tode verurteilt ist, So muß jede vorerst verteidigt werden: und von wem andern wird sie denn anders verteidigt werden als von ihren Söhnen? Italien vom Italiener, Frankreich vom Franzosen, die Monarchie von dem, der von der Monarchie, die Republik von dem, der von dieser lebt. Sie anzugreifen, oder ihren Tod herbeizuführen, dafür ist der da, der es im Schilde führt; es ist nötig, daß auch einer vorhanden ist, der seine Gedanken darauf ge- richtet hält, ihr Leben zu schützen und zu verlängern. Keiner darf sich, wenn er dieses Amt der „Pietät" er- füllt (ausgenommen in dem Falle, daß er den Beruf des Geschichtsschreibers ausübt, und nur in dem Augenblicke, als er dies tut) auf die gegensätzliche Einrichtung blicken, um sich im Namen einer ab- strakten Gerechtigkeit über ihr Gutes Gedanken zu machen, sondern jeder muß einzig und allein, und allen gegenüber, das Gute der Einrichtung, der er angehört, behüten ; so wie ein Rechtsanwalt nicht auf den Vor- teil des Gegners seines Klienten bedacht ist, oder ein 40 Soldat nicht Sorge tragen wird, seinen Feind, der sich eine Blöße gibt, zu warnen; der unpassende Edelmut würde in diesem Fall „Verrat" genannt werden. Die Ver- teidigung der Einrichtungen, denen wir uns zugehörig fühlen, ist die nächste Pflicht; und es gibt, soviel man weiß, keine andern tatsächlichen Pflichten als diese nächsten. Die Gesamtheit der Kulturwerte, die unter dem Namen von Gerechtigkeit oder Menschlichkeit versinnbildet werden, läßt sich werktätig nicht anders als mittelst dieser wagemutigen Verteidigungs- und Ausfallsstellung vollführen, weil die allgemeinen Pflichten sich nur betätigen lassen, wenn man aus jener Abstraktheit, die den Namen des Himmels führt, auf die Erde hinabsteigt, in Raum und Zeit, und sie in unsere nächste Nähe rückt. Im Leben sind wir gleich Besatzungen und Schildwachen, die da und dort vom Weltgeist verteilt sind; wir würden diesem übel dienen, wenn wir die Posten, die er uns anvertraut hat, ver- lassen wollten, um ihm eine abstrakte, kraftlose und unerwünschte Huldigung dazubringen. Gewiß kann der Fall eintreten, der Augenblick kom- men, wo wir weichen und die Sache verloren geben, zulassen müssen, daß der Gegner unsere Verteidigungs- stellung besetzt, uns ihm unterwerfen, mit ihm aus- gleichen; es kommt der Augenblick, in dem der Welt- geist seine Besatzungen und Schildwachen verschiebt, einige Gruppen verschmilzt und andere teilt, um neue Kämpfe vorzubereiten. Wer sich dann darauf versteift, den nicht mehr zu haltenden Posten zu verteidigen, kann wohl eine im dichterischen Sinn anziehende Fi- gur sein, in der Geschichte Cato oder in der Literatur der ehrenfeste Ritter Don Quijote heißen. Aber Dort Quijote ist eben Don Quijote, das heißt, Sinnbild eines 41 verrückten Heldentums, nicht politischer Tüchtigkeit ; und Cato verdiente wirklich zwischen Hölle und Him- mel gesetzt zu werden, in die zweideutige Stellung eines Hüters des Fegefeuers, die ihm Dante gegeben hat; noch vor den Sarkasmen eines Mommsen traf ihn Hegels Urteil, seine Seele sei wohl groß, aber nicht genug groß gewesen, da er Rom nicht zu überleben verstand, das heißt einen Wert, der, so groß er auch gewesen sein mag, doch immer zufällig und dem Un- endlichen, als welches der Geist des Menschen ist, unter- geordnet bleibt. Freilich verdeutlicht uns das sittliche Mitgefühl, das uns die Don Quijote im Schrifttum und die Catonen in der Geschichte einflößen, die große Achtung, die der menschliche Geist dem zollt, der, auch über das Notwendige hinaus, den ihm vom Schick- sal oder von Gott angewiesenen Platz verteidigt. Diese Haltung ist verdienstlich, weil sie dem Gotterwählten, dem Sieger selbst nützt, das heißt dem, der der neue Vertreter des Weltgeistes in einem bestimmten Augen- blicke ist, da sie seinen Sieg schwieriger und erhabener macht, und der auf diese Weise das Beste des Gegners in sich aufnimmt. Nicht die Bekehrung oder der Gesin- nungswechsel an sich ist es, der mißfällt, weil dies dem Leben selbst widerstreben hieße, das sich fort- während umkehrt und ändert, sondern Bekehrung, die geistige Leichtfertigkeit, Wechsel, der sittliche Schwäche ist, hervorgerufen durch Gedankenlosigkeit oder privaten Vorteil. Die Hartnäckigkeit dagegen, falls sie nicht Heuchelei oder Eitelkeit, sondern überströmende und fanatische Leidenschaft der Pflicht ist, mag wohl ein Fehler sein, aber ein aristokrati- scher Fehler, der sozusagen vor gemeineren Fehlern behütet. 4» Die Parteigänger der abstrakten Gerechtigkeit, die die Erfahrungswerte mit den absoluten verwechseln und diese nach Art jener behandeln wollen, stürzen sich damit nicht nur in ein eitles Beginnen, sondern sie werden, aus übelverstandener Liebe zur Gerechtigkeit, ungerecht; in allzugroßem Vertrauen auf die abstrakte Gerechtigkeit machen sie sich eines allzu geringen Ver- trauens auf die konkrete Gerechtigkeit schuldig, die sich in der Welt darstellt und die die einzige ist, die mit Nutzen angerufen und gefördert werden kann. Gleicherweise, wenn nicht schlimmer, irren die Partei- gänger des Kampfes ohne Gerechtigkeit, wenn sie, aus der entgegengesetzten Einseitigkeit heraus, die abso- luten Werte in solche der Erfahrung verkehren, nichts anderes als das Vaterland oder die Partei, den Gau oder die Familie, die Klasse oder die Rasse in ihrer Unmittel- barkeit und Roheit vor sich sehen, den edlen Krieg des menschlichen Geschlechts in jenen unedlen, von dem Polybius spricht, verkehren, in den aufständischer Söldner, einen Vernichtungskrieg ohne Waffenstillstand, ohne Treu und Glauben. Die Erfahrungswerte, das heißt die vom bloßen Kampf begrenzten, haben ihre Schranke in den Kulturwerten; und deshalb wird der ebenso bewundert, der sein leibliches Glück und sein Leben dem Vaterland oder der eigenen Partei zum Opfer bringt, wie derjenige Tadel und Abscheu erregt, der dem einen oder der andern die Wahrheit oder die Sittlichkeit opfern will : Dinge, die ihm nicht zugehörig sind, „ungeschriebene Göttergesetze", die kein mensch- liches Gesetz verletzen kann. Es gibt ein uns räumlich ziemlich nahegerücktes Volk, das die Beleidigung und den Hohn gegen die feindlichen Völker für eine gute Waffe hält; allein es ist es eine wenig sichere und schließ- 43 lieh den, der sich ihrer bedient, selbst schädigende Waffe ; daher der Rat, sie von Zeit zu Zeit mit der anderen, der Schmeichelei, zu vertauschen, die nicht weniger unge- eignet ist, dort, wo die Völker unter sich nicht durch ihre Laune, sondern ihre geschichtliche Sendung ent- zw^eit sind, und sich untereinander nur soweit und für solange ausgleichen können, als es ihnen die Geschichte zubilligt oder auferlegt, durchaus nicht so oft und so viel, wie die Launen des Gefühls oder abstrakte Gedanken- verbindungen es heischen. Es gibt ferner ein anderes, in der europäischen Gesittung hervorragendes Volk, das, wenn es die harten Notwendigkeiten der Politik und des Krieges zu erfüllen hat, dies gerne mit einem Grinsen der Wildheit tut, die an den Hunnen Attila oder den Langobarden Alboin erinnert, als er, nicht befriedigt davon, Kunimund besiegt und dessen Schädel zum Trinkbecher gemacht zu haben, die Tochter des Ge- töteten zwang, aus der schauerlichen Schale zu trinken. Aber weder Falschheit noch Verleumdung, weder Be- leidigung noch Lust an Verrat und Gemetzel gehören zu den Pflichten des guten Bürgers und des aufrichtigen Vaterlandsfreundes. Auch wo der Kampf zu Listen zwingt, die Verstellung, und zu Taten, die Gewalt sind, muß das Bewußtsein, höhern Absichten zu dienen und einer Notwendigkeit zu gehorchen, vor der die eigenen Stimmungen und Neigungen zurücktreten müssen, den Gemütern etwas Strenges und selbst Schwermütiges verleihen. Ich weiß nicht, ob Fürst Bismarck wirklich die Emser Depesche gefälscht hat, und gebe sogar zu, wenn man will, daß er nicht anders handeln konnte und seine Pflicht als guter Preuße erfüllt hat; allein die Genugtuung, mit der er wiederholt den begangenen Betrug erzählte (um so schlimmer, wenn er ihn tatsäch- lieh nicht begangen und sich seiner nur ins Leere hin- ein gerühmt hat!) ist zu verurteilen, wirft einen Schatten auf sein Andenken, und lastet wie eine zu sühnende Schuld auf dem großen Volke, das sein Tun bewundert hat, wenn anders der Mangel an Bedenken und ein ge- wisses Etwas von Rohem und Zynischem, das man häufig am heutigen Deutschland bemerkt, eine Schuld ist. Vielleicht erklärt es diese Lust an der Schadenfreude, wenn der in Ungnade gefallene Bismarck unter sich herabzusteigen scheint, da wirklich an diesem ganz Großen irgend etwas Kleinliches war. Als eine viel feinere Natur enthüllt sich uns Cavour, der, zu Ver- stellungskünsten ganz ähnlicher Art wie denenBismarcks gezwungen, den Zwiespalt zwischen dem, was er nie- mals für sich selbst zu tun gewagt hätte, und dem, was er für Italien getan, empfand; er starb wie ein Held, auf seinem Sterbelager nicht von sich, sondern von Italien sprechend. Wollen die modernen Italiener, mit so erhabenen Beispielen aus ihrer jüngsten Geschichte, um den halt- losen Liberalismus und Humanitarismus, die politische Naivetät, in der sie sich allzulange gewiegt haben, gut- zumachen, sich deshalb den trüben Gelüsten überlassen, die die Fürsprecher des nationalen Kampfes ohne Ge- rechtigkeit und ohne Treue hegen .? Wollen sie das frei- beuterische Italien der Borgia eines neuesten Dichters und Rhetors zum Höchsten ihrer Seele machen, und nicht lieber jenes, von dem Niccolo Tommaseo geträumt hat, „streng und demütig, gewappnet und liebend"? Das Gleichgewicht des Gemütes und geistige Feinheit sind italienische Errungenschaften, die, wie ich glaube, etlichen Landgewinn aufwiegen, und die mit aller Ent- schiedenheit gegen die Übertreibungen und Entartungen 45 sowohl der Nebelhaften wie der Materialisten der Politik aufrecht erhalten werden sollten. KAMPFMETHODEN DES ITALIENISCHEN NATIONALISMUS [Italia nostra, 3. Jänner 1915). - Es ist ein Jahr oder wenig mehr, da suchte mich ein Nationalist, der ein alter Freund von mir ist, auf; er gab mir seinen Wunsch kund, mit mir, dessen Redlich- keit und Klarheit des Urteils (wie er sich höflicherweise ausdrückte) er sehr schätze, eine Unterredung über den Nationalismus zu pflegen. In dieser freundschaftlichen Unterhaltung suchte ich meinem national gesinnten Freunde klar zu machen, daß das Unrecht des Natio- nalismus darin bestehe, sich selbst auf das Feld der Demokratie und der nationalen Undiszipliniertheit, die er ja doch bekämpfen wolle, zu begeben; damit werde eben die Möglichkeit genommen, die gegnerische Partei zu überholen und in sich selbst aufgehen zu lassen, wie dies jede Partei, die der anderen in Wahrheit überlegen sein wolle, tun müsse. — Die spätem Ereignisse haben mir vollständig recht gegeben. Nicht daß ich ein Pro- phet wäre! Immerhin fehlt mir aber nicht eine durch lange Übung gefestigte Fähigkeit, die logischen Folgen gewisser geistiger Einstellungen zu erkennen, auch be- vor sie noch in Tatsachen oder Worten Gestalt an- nehmen. Freilich hat sich der Ausgleich des Nationalismus mit dem Demokratentum und der freimaurerischen Französelei, den wir eben mitmachen, auch dorthin erstreckt, wo ich wegen der verschiedenen Gemüts- anlage und Herkunft der Einzelnen eine gewisse Schei- dung erhofft hätte. Denn leider haben sich die Nationalen jetzt die übelsten Kampfmittel der äußer- 46 sten Parteien zu eigen gemacht: Verdächtigung und persönliche Beleidigung. Es ist eine Richtschnur für anständige Kamptesweise (ganz verschieden von der, vvrelche die politischen De- magogen und Marktschreier aller Zeiten anwenden), den Gegner nur in dem zu treffen, vvras er gegen die Sache, die w^ir für gerecht ansehen,*vorbringt und tut, wie allein in dem, was mit ihr zusammenhängt. Alles, was über diesen Umkreis hinausgeht, ist ein unerlaubter Versuch von Vergewaltigung, die — so urteilt der ge- sunde Menschenverstand — unsern Behauptungen nicht zugute kommt, sondern lediglich deren Schwäche ent- hüllt. Sehen wir doch ein wenig zu ! Die Nationalen haben beispielsweise (darin die Sozialisten der Mussolinischen Richtung nachahmend) die „deutschen Gattinnen" des einen oder andern Gegners deutschfeindlicher Verleum- dungen und des überstürzten Krieges aufs Tapet ge- bracht. Wer verleiht ihnen das Recht, in das innerste Heiligtum des Gewissens einzudringen und für sicher anzunehmen, ein Mann schöpfe seine Gesinnung aus dem ehelichen Gemach? Vermögen sie nicht einzu- sehen, daß eine Anklage dieser Art zu denen gehört, die sich nicht abwehren lassen, und daß sie darum das Wesen einer abscheulichen Vergewaltigung annimmt? Gewiß wären wir Gegner imstande, ein Verzeichnis der französischen, englischen, russischen oder serbischen Frauen, Freundinnen oder Geliebten der Nationalen aufzustellen; aber wir unterlassen es nicht nur aus Achtung gegen die Damen, sondern auch gegen uns selbst. Ist es schön, den Gegner mit einer Waffe anzu- greifen, die dieser für sein Teil verschmäht, weil sie unredlich ist? 47 Weniger schlimm ist es, wenn man mir gegenüber (dem man keine ausländischen Frauen vorwerfen kann) dazu greift, über die Fragen der Ästhetik, der Logik oder der literarischen Kritik, von denen ich in meinen Schriften gehandelt habe, abfällig zu sprechen ! Allein auch das ist, überlegt man's recht, unerlaubt; denn im vorliegenden Falle bin ich nichts anderes als ein unab- hängiger Bürger, der seine Gefühle oder seine Ansichten über das öffentliche Wohl kundgibt. Ich könnte ein ganz schlechter Kritiker und Philosoph und ein vor- trefflicher Politiker sein oder umgekehrt, je nach Be- lieben. Oder will vielleicht einer oder der andere dieser Artikelschreiber aus dem Unmut, den gewisse poli- tische Darlegungen von mir erregt haben, Vorteil ziehen, um sich für irgendein vorausliegendes, nicht gerade schmeichelhaftes Urteil meinerseits über seine Verse und seine Prosa zu rächen? Auch das wäre unerlaubt. Lassen wir demnach die Ehefrauen, die Ästhetik und die Philosophie beiseite und sprechen wir, wenn es ge- fällig ist, von Italien, das den Gegenstand unseres Zwie- spalts bildet. Ich achte im gegebenen Fall alle, auch die, die ich nicht achte, und vermesse mich, die gleiche Behandlung zu fordern. Will man sie mir nicht zuteil werden lassen, so mag man einer Sache gewiß sein : daß ich für mein Teil nicht das Recht der Wiedervergeltung, oder wie man heute nach der Ausdrucksweise der Zei- tungsschreiber zu sagen pflegt, „Repressalien", in An- wendung bringen werde, die mir widerstreben. DIE POLITIK EINES PHILOSOPHIEREN- DEN CHEMIKERS [Critica XIIl, 1915).- Wir sind in dieser unsorer Rundschau immer bestrebt gewesen, die Beobachtung der eigenen Grenzen zu. empfehlen; +8 darum muf3ten wir Physikern, Ärzten, Mathematikern, wenn sie aus dem Stegreif Philosophie betrieben, ent- gegentreten, darunter auch dem Chemiker Ostwald, als Verfasser eines philosophischen Systems unter dem Titel einer „Naturphilosophie". Denn die Grenzüberschrei- tung ist gefährlich und sie schädigt nicht nur das Feld der Philosophie, sondern noch viel schlimmer das der politischen und praktischen Fragen; hier gibt es immer einige oder viele, die die Dilettantismen und Kindlich- keiten der Sonderforscher als „Offenbarungen der hohen Gedanken des ausgezeichneten Gelehrten usw." gläubig aufnehmen. Und nun zeichnet eben Ostwald, der vom Chemiker sich zum Philosophen, und vom Philosophen zum Politiker erhebt (oder herabsteigt), mit sicherer Hand das künftige Europa unter deutscher Vorherr- schaft, die den übrigen Völkern die politische, gesell- schaftliche und wirtschaftliche Richtschnur geben, und falls diese sich nicht dazu bequemen wollen, bereit sein wird, „sie mit Gewalt dazu zu zwingen". Allerdings macht Ostwald ein kleines Zugeständnis: „Wir denken nicht daran (sagt er), nach dem Siege der übrigen Welt die deutsche Sprache, den deutschen Gedanken, nicht einmal die deutsche Ästhetik und Kunst aufzuzwin- gen . . ." ; denn dem stehen einige „praktische Schwierig- keiten" entgegen, auch „der Geist, in dem sich unsere Kultur entwickelt hat!" Einstweilen stellt er aber die vollkommene Vereinheitlichung des Maß- und Ge- wichtswesens in Aussicht, dann die Vollendung ver- schiedener Unternehmungen wissenschaftlicher Art, wenn die Vereinigten Staaten von Europa unter deut-. scher Leitung und mit dem deutschen Kaiser als Vor- sitzenden, das Amt der Zivilisation der Menschheit auf sich genomrnen haben werden. Der gelehrte Chemiker 4 Croce, Randbemerkungen eines Philosophen AQ hat sich wohl nie die Frage gestellt, was für eine Wissen- schaft und was für eine Kunst wohl aus einer Massen- arthäufung von Völkern, die gleich einer Herde behan- delt werden sollen und der Empfindung von Freiheit und Würde beraubt sind, hervorgehen soll : ein Zweifel daran wäre das Anzeichen einer geistigen Feinheit, über die er augenscheinlich nicht verfügt. Wäre dies der Fall, so hätte er vielleicht darauf verzichtet, jetzt über Politik, wie vorher über Philosophie zu schreiben. Als guter Patriot, der er zweifellos ist, hätte er sonst bemerken müssen, daß er seinem eigenen Lande großen Schaden tut, wenn er der Welt das als deutsches Ideal ver- kündet, was gerade der deutsche Nationalfehler ist: die Pedanterie. HEGELFEINDLICHE VERSTIMMUNGEN (Critica XIII^ 1915)- — Im eigensten Bereich dieser Randbemerkungen verbleibend, die wundersame Aus- sprüche, so wie wir sie aus Zeitschriften, Rundschauen und Büchern sammeln, kurz erläutern sollen, können wir unmöglich an einem der verschiedenen Aufsätze vorübergehen, die Guglielmo Ferrero verfaßt hat, um mit der Leuchte seines Gedankens den europäischen Krieg zu erhellen ; es ist der über Internationale Gerech- tigkeit, erschienen im Secolo vom 21. April. Diesmal können die Erläuterungen fast wegbleiben, da die Aus- züge genügen werden. Ferrero hat es mit Hegel zu tun, der, wie es scheint, sein hohes sittliches Gefühl be- leidigt und dessen Gedankengang er folgendermaßen wiedergibt: „Die Tyrannei ist ebenso heilig wie die Freiheit, weil, wäre sie nicht, der Mensch nicht einmal den Gedanken der Freiheit fassen könnte. Gesegnet auch der Krieg, weil er die Antithese und mithin die 50 Bedingung des Friedens ist . . . Es gibt keinen gelun- genen Schurkenstreich, der sich nicht auf diese Weise rechtfertigen Ueße." Wie unsere Leser gleich bemerken werden, ist dieses „ebenso heilig" etwas, das nicht aus dem Gehirn Hegels, sondern aus dem Ferreros stammt, und es steht hier, um den demokratischen Lesern des „Secolo" den gebührenden Schauder einzujagen. Was das Weitere anbelangt, daß die Freiheit die Ge- waltherrschaft voraussetze und der Frieden den Krieg, so wäre es höchst seltsam, wenn Hegel oder irgendein anderer vernünftiger Mensch das Gegenteil behauptet hätte; nämlich, daß der Begriff des Friedens ohne den des Krieges entstehen könne, der Begriff der Freiheit ohne den der Gewaltherrschaft oder der der Mehrheit ohne den der Minderheit, das Ja ohne das Nein! Es folgt dann ein geschichtliches Bruchstück, in der Art jener Geschichte, wie sie Ferrero vorzutragen pflegt, ohne jede Hemmung verlaufend, weil vollkommen er- funden. „Als der Hegelianismus aus den nördlichen Ländern, in denen er geboren worden war, in die Welt hinaus drang und die Grenzen des alten Römerreichs zu überschreiten versuchte, erweckte er bei seinem Er- scheinen eine Art vonSchauder. Diese unselige Sophistik, die alle Merkmale des Guten und Bösen zu Nutz und Frommen aller Streber — mochten sie Völker, Staaten, Klassen, Parteien und einzelne Menschen sein — ver- wischte, flößte den höher stehenden, tieferen und edleren Geistern der lateinischen Lande Entsetzen ein." Das soll der erste geschichtliche Abschnitt der Schicksale des Hegelianismus sein, von dem man nicht weiß, wo und wann er sich entwickelt haben soll ; gewiß nicht in Italien ; denn die Einführung des Hegelianismus fiel mit dem nationalen Erwachen zusammen, mit den liberalen 4» 51 Bewegungen und mit der Revolution von 1848: in Neapel v\rar „Hegelianer" gleichbedeutend mit „Ver- schwörer gegen die Bourbonen" ; und Hegelianer waren gerade damals bei uns alle die „zuhöchst stehenden, tiefsten und edelsten" Geister, die ihr ganzes Leben für das Vaterland dahingaben. Gehen wir zur zweiten Periode über: „Hieraufkamen aber die politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, die Befleckung der Klassen und ihrer Bestrebungen, das Zeitalter des Eisens und Feuers, der Sieg der Quantität, das Aufkommen des geschäftstüchtigen Bürgertums. In dieser ungeheueren Umwälzung und Verkehrung machten vor den Augen der unwissenden rohen Kaufmannsregierungen alle Philosophien, die dazu beitrugen, die Grundsätze von Gut und Böse zu vermengen, irgendwie Glück oder er- weckten zum mindesten nicht den Abscheu wie früher. Das Jahrhundert wurde unduldsam und zugleich Zu- geständnissen hold. Wenn auch nicht gerade die Philo- sophie Hegels (den niemand mehr las), so verbreitete sich doch sein Geist über die Welt, bis ..." Alles das soll sich in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zugetragen haben, bekannt dadurch, daß sie den Philo- sophien jeder Art abgeneigt war, sowie durch den Triumph der Naturwissenschaften und des mit ihnen verbundenen Positivismus, durch ihr Ideal eines all- gemeinen Friedens und den demokratischen Traum von einem tausendjährigen Reich! Freilich hat uns Ferrero längst an dergleichen Auf-den-Kopfstellen hergebrach- ter Meinungen gewöhnt, er, der ein andermal entdeckt hat, daß Italien nach 1860 den Protestantismus, die Mystik, die Metaphysik sich zu eigen gemacht und die schönen Künste vernachlässigt habe! (Vgl. Critica IX, 52 52.) Alles Gift der Sache liegt jedoch in der dritten „Periode" der Geschichte des Hegeltums, wie sie Ferrero uns mit Meisterhand umreißt: „. . . bis zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in diesem unserem Lande, das immer der bevorzugte Boden von Abenteurern aller Art gewesen ist, der Versuch gemacht wurde, jene Philosophie (den Hegelianismus) unter seinem wahren Namen wieder zur Geltung zu bringen: eine der traurigsten Erscheinungen in diesen fünf- zehn Jahren sittlicher und geistiger Auflösung, von der man hoffen darf, daß der europäische Krieg ihr irgendwie ein Ende bereiten werde." Daß hier von uns die Rede ist, liegt auf der Hand; noch klarer ist es, daß Ferrero — der, kühn gemacht durch den Wirbel und die geistige Verworrenheit des Tages — so gut wie er es vermag, sein Mütchen zu kühlen sucht für das Hemmnis, das sein Ehrgeiz (der wohl nicht der eines „Strebers" war?), eine gewisse Lehr- kanzel für Geschichtsphilosophie in Rom zu ergattern, in dem offenen Wort eines dieser „Abenteurer" ge- funden hat. Wir fragen aber, ist es möglich, daß er jetzt noch, in der Kriegszeit, an Armseligkeiten von dieser Art denkt.? ITALIENS EINTRITT IN DEN KRIEG UND DIE PFLICHTEN DES GELEHRTEN {Critica XII, Mai 1915). — Als im Juli des vorigen Jahres der europäische Krieg ausbrach, war es sofort klar, daß Italien früher oder später in der einen oder anderen Weise in ihn hineingezogen werden würde, und daß wir am Beginn eines langen Zeitraums von Kriegen und gründlicher Umstürze stünden, eines jener Sprünge nach vorwärts, die das menschliche Geschlecht unter unge- 53 heueren Erschütterungen vollzieht; — für unser Teil entschlossen wir uns, unsere Kräfte wohl zu sammeln, um, klaren Geistes bei bedrängter Seele, unsere For- schungen und Arbeiten fortführen zu können. Keine würdige Sache erschien uns jedoch jenes Sichverlieren in hohle Einbildungen und noch hohlere Worte, das wir sogleich an sehr Vielen unter dem Anschein einer edelmütigen Besorgnis um die Ge- schicke der Menschlichkeit und des Vaterlandes wahr- nahmen, das aber in den meisten Fällen tatsächlich nichts anderes war, als die einfache Hingabe an den stets verlockenden Trieb zur Denkfaulheit, verhüllt unter dem Vorwand des Krieges und des zu gewärtigenden Eintritts Italiens in den Krieg. Es sind das Einbildungen und Schwätzereien, die, lassen sie sich auch nicht gänz- lich verhindern (weil auch sie im Verlauf der Wirklich- keit ihr Amt ausfüllen), doch Dinge sind, die nicht gefördert werden dürfen, weil sie sich ohnehin von selbst bewegen, vielmehr in Schranken gehalten wer- den müssen. Ebensowenig vermochten wir uns, nach der Art solcher Wirrköpfe, in der Erwartung zu beruhigen, nach dem Kriege würde eine neue Kunst, ein neuer Stil, eine neue Wissenschaft, eine neue Philosophie, eine neue Geschichtschreibung erstehen; wir vermoch- ten es nicht, weil wir allzugut wußten, daß dies alles nicht Gaben sind, die vom Himmel fallen, oder mecha- nische Ergebnisse militärischer Siege und politischer Umwälzungen, sondern Werke des Gedankens, der seine Arbeit unberirrt fortsetzt, die neuen Ereignisse bewältigend, daß mithin, wer vor dem Kriege nicht die Fähigkeit und die Methode zu arbeiten und zu denken besessen hatte, sie auch nach dem Kriege nicht 54 zu erwerben imstande sein werde, gleichsam als wäre das eine einfache Folge des Krieges. Auch hielten wir es keineswegs für löblich, was wir fast überall (und in Frankreich nicht weniger als in Deutschland) an unterschiedlichen in der Wissenschaft hervorragenden Männern gesehen haben und sehen: nämlich, wissenschaftliche Begriffe als Stütze dieser oder jener zufälligen politischen Ansicht zur Ver- teidigung oder zum Angriff auf dieses oder jenes Volk zu gebrauchen; obwohl sie damit sicher vermeinen, als gute Bürger, gute Patrioten oder treue Staatsdiener zu handeln. Allein über der Pflicht gegen das Vater- land steht die Pflicht gegen die Wahrheit, die alles andere in sich begreift und rechtfertigt; die Wahrheit verdrehen, Lehren zu zimmern, wie zum Beispiel die, die wir jetzt, zu unserer nicht geringen Verwunderung, von hervorragenden deutschen Geschichtsforschern und Theoretikern darlegen hören, — daß der wahre Zukunftsstaat nicht der auf völkischer Grundlage ruhende, sondern jener sei, der den „natürhchen Be- standteil" des Volkstums überwunden habe und in rein juridischer Form, nach Art Österreich-Ungarns, aufgebaut sei! — oder die Anwendung, die Bergson von seiner Lehre des „Mechanismus" auf den deut- schen Generalstab und der des „lebendigen Schwunges" auf den französischen macht! — fürwahr, das alles ist nicht ein dem Vaterland erwiesener Dienst, sondern ein Schandfleck, der ihm angehängt wird, ihm, das auf den Ernst seiner Forscher ebenso zählen können muß wie auf die Züchtigkeit seiner Frauen. Der Mann der Wissenschaft darf nicht mit den Leiden- schaften wetteifern, wenn diese am Werk sind, Trug- bilder von Liebe und Haß zu schaffen, wenn er auch 55 nicht erwarten kann, mit seiner Wissenschaft jene außerhalb der Wissenschaft entstandenen Bilder aus- zulöschen, wirksam im Leben, wo sie ihre selbsttätige Richtigstellung in andern aus abweichenden oder ent- gegengesetzten Gefühlen stammenden Bildern finden. Während nun einige literarische Zeitschriften Italiens schon seit Monaten ihr Erscheinen „des Krieges wegen" eingestellt, andere dagegen es aufgegeben haben, von Literatur und Kunst zu handeln, um ihre Spalten mit mehr oder weniger törichten Aufsätzen über den Krieg zu füllen, hat sich in dieser unserer Rundschau keine Rück- wirkung des Krieges bemerkbar gemacht; sie setzte ihre geschichtlichen Untersuchungen, ihre philosophischen Erörterungen, ihre kritischen Urteile fort, als gäbe es kei- nen Krieg. Wohl haben wir anderwärts, so gut wir es ver- mochten, unsere Bürgerpflicht erfüllt, indem wir poli- tische Erklärungen abgaben und jene Dienste leisteten, die wir leisten zu können glaubten; vielleicht haben auch wir uns bei diesen Gelegenheiten zu Einbildungen, ja selbst zu müßigem Gerede verführen lassen; allein wir haben uns wohl gehütet, aus dieser der Wissen- schaft gewidmeten Rundschau die Tribüne unseres Patriotismus, das Tagebuch unserer Besorgnisse und Ängste, unserer persönlichen Hoffnungen zu machen. Wir wissen nicht, ob dieses Verhalten, das uns der Billigung wert erscheint, auch allgemein gebilligt wird; wir haben vielmehr in mancher Rundschau oder Tages- zeitung gelesen, oder es ist uns zu Ohren gekommen, daß wir die gegenwärtige Gelegenheit unterlassen hät- ten, „unser Wort in die Wagschale zu werfen, um in 'der Schicksalsstunde Italiens den Geistern den Weg zu weisen, sie zu berichtigen und anzufeuern". Auf Grund welchen Ansehens hätten wir dies tun sollen.? Wo es 56 sich um den Vorteil und die Ehre des Vaterlandes han- delt, fühlen wir uns keinem andern Italiener nachstehend, aber ebensowenig über ihm stehend; und uns irgendeines auf dem Gebiet der Forschung erworbenen Ansehens zu bedienen, um unserem einfachen Bürgerwort mehr Gewicht zu geben, das scheint uns unerlaubt. Eine Dichtung entsteht, wenn die Eingebung vorhanden ist, und die Eingebung läßt sich nicht befehlen, auch nicht im Namen des Vaterlandes; ebensowenig die Wissenschaft, falls ein Gedankenproblem vorhanden ist, ein Problem, das nicht zu jenen gehört, die von der Vaterlandsliebe gestellt und gelöst werden. Aber Dichtung wie Wissenschaft dürfen sich nicht dazu her- geben, das schweigsame, verborgene, geheimnisvolle Schöpferwerk von Gefühl und Willen mit falscher Poesie und falscher Wissenschaft aufzuputzen. Mit solchen Vorsätzen, oder besser mit der Dar- legung, die wir von solchen schon seit langem gefaßten und ins Werk gesetzten Vorsätzen gegeben haben, wol- len wir die vorliegende Rundschau auch weiter fort- führen; in der Hoffnung, etwas Nützliches und darum nicht Unerwünschtes denen zu tun, die auch während des europäischen und nationalen Krieges das Bedürfnis haben, täglich einige Stunden ihrem gewohnten Tage- werk des Studiums zu widmen; jedenfalls wollen wir von jetzt an auf uns selber wohl acht haben, das heißt uns selber nach der Wiederkehr des Friedens den Vor- wurf zu ersparen suchen, wir hätten die uns zur Ver- fügung stehende Zeit schlecht angewendet oder gerade- zu vergeudet. Auf der andern Seite wollen wir uns klare Rechenschaft von der Entwicklung des geschicht- lichen Gedankens Italiens, der durch so viele Fäden mit seinem politischen Gedanken verknüpft ist, zu verschaffen suchen, von der Morgenröte seiner Wieder- erhebung an bis zum gegenwärtigen Tage ; desgleichen eine genaue Kenntnis der Kulturbestrebungen in den verschiedenen Landschaften Italiens während der letz- ten fünfzig Jahre ^) ; denn sind das nicht ebenfalls vater- ländische „Erfordernisse" ? Wer dazu imstande ist, hat unterdessen die Verpflichtung, diese und andere ähn- liche Erfordernisse nicht außer acht zu lassen, will er nicht (und damit greifen wir auf das zu Beginn Gesagte zurück) mit dem Glorienschein des Außergewöhnlichen eine ganz gewöhnliche Faulheit und Unschlüssigkeit umkleiden. D'ANNUNZIOUNDCARDUCCI(Cr/V/r^X7//, Mai 191 5). — In dem beklemmenden Augenblick knapp vor der Kriegserklärung ist Gabriele d'Annunzio nach Italien zurückgekehrt, den wir nicht zum Hohn, sondern ihm zum Lobe „Ex-Dichter" nennen wollen; nämlich um zu erinnern, daß er trotz allem dem ita- lienischen Schrifttum Blätter von wundervollster Poesie geschenkt hat; es wäre ungerecht, sie in dem Sturm des Tadels zu vergessen, den jener schlechtere Teil seines Wesens vollauf verdient, welcher sich von den „Schiffsoden" über die Dramen, das Buch der „Elektra" und die „Gesänge von Übersee" zum „Kirchfest von Quarto" erstreckt, einem des ersten großen Kriegs des vollständig geeinten Italiens wenig würdigen Tageruf. Hingegen sind, nachdem der flüchtige Lärm der Kund- ^) Croce spielt damit auf seine „Geschichte der italienischen Geschicht- schreibung seit Beginn des 19. Jahrhunders bis auf unsere Tage" an, die erst Ende 1920 zum Abschluß kam, sowie auf die von verschiedenen Mit- arbeitern herrührenden „Beiträge zur Geschichte der italienischen Kultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts" (nach Landschaften, Toskana, Pie- mont, Venetien usw.), die noch fortlaufen. D. Ü. 58 ■ gebungen und der hochtrabenden Reden verhallt ist, die Litaneien des „Kirchfestes", die „Fromme Jung- fräulichkeit der Dardanellen", das „Wappne den Bug und lichte die Anker, der Welt entgegen", und ähn- licher abgeschmackter Schwulst gänzlich zur Seite ge- treten ; dafür drängen sich die Bilder, Strophen, Rhyth- men Giosue Carduccis von selbst allen auf die Lippen. Ein Wunder der Wahrheit, das w^ieder ersteht, gerade als man es erstickt und der Vergessenheit anheim- gegeben dachte; aufrechte Worte, deren Wert, deren Wirksamkeit ew^ige Dauer hat! Denn dies ist wirklich der Krieg, den Giosue Carducci sein ganzes Leben hin- durch im Herzen getragen hat : der Krieg, den er immer unter den Sinnbildern nächster und ferner Vergangen- heit besungen hat, und der seine ganze erhabene, schwermutvolle Dichtung gestaltet. So huldigen wir dem Andenken unseres letzten nationalen Sehers, der vor der stolzen Statue von Donatellos heiligem Georg vergeblich geseufzt hat: Sankt Georg! — könnten 's diese müden Augen sehen, Daß vor dir zog' im vollen WafFenschmuck Vorbei ein Volk von Helden! und der durch lange Jahre ein von seinen Träumen so sehr verschiedenes Italien um sich erblickte, in dem sich gleichwohl mühsam das neue vorbereitete, jenes, das jetzt duldet, denkt und schafft. An diese unsere Rundschau heftet sich irgendwie eine unbestimmte Nachrede oder ein Verdacht der Ab- neigung gegen Carducci, der Anschwärzung seines Werkes, nicht etwa, weil wir jemals Grund zu diesem Urteil gegeben hätten, sondern weil ein paar junge Leute, die nichts Besseres zu tun hatten, vor mehreren Jahren darüber ein Geschrei erhoben, wir beleidigten 59 Carducci, und sich als seine großherzigen Verteidiger aufspielten. Allein in den Aufsätzen über Carducci, 1910 in dieser Rundschau veröffentlicht, die eben den Anlaß zu diesem echten und rechten, wenn auch ganz unterhaltenden Verleumdungsfeldzug gaben, war gerade der Versuch gemacht, den kraftvollen und originalen Kern der Dichtung Carduccis, ihren geschichtlich- sittlich-bürgerlichen Kern, herauszuschälen gegen jene Kritiker, die sie als „Professorenpoesie" bezeichnet hat- ten, wie gegen jene anderen, die von Carducci lediglich einige wenige „landschaftliche" Bruchstücke gelten las- sen wollten, Vorläufer, wie sie behaupteten, der „Laudi" d'Annunzios. So möge es einmal gestattet sein, uns selbst abzuschreiben und in dieser Rundschau einen schon vordem in ihr abgedruckten Abschnitt zu wiederholen; einen unter jenen Aufsätzen, die sehr gut auf den vorliegenden Fall passen. „Was Carducci's Herz entflammte (schrieben wir damals), was er unablässig anstrebte, war Italiens Größe. Alles, was dessen Geister durch ein Jahrhundert ersehnt und gesucht hatten, von den Republikanern von 1799 bis zu den Carbonari von 1820 und dem Jungen Italien von 1831; von Murats Soldaten bis zu denen, die Venedig und Rom verteidigten und die Österreicher aus den lombardischen Ebenen vertrieben; was Ros- settis, Berchets, Leopardis, Manzonis Gesänge und die Prosa Giobertis und Guerrazzis befeuert hatte; die Verschwörung, die Revolution, Schrifttum und Ge- danke Italiens während eines ganzen Jahrhunderts, alles dies klang noch in ihm nach und verbreitete sich in weiten Wellenringen in seinem Geiste, auch nachdem ein so ansehnlicher Teil jener Bestrebungen Wirklich- keit geworden war. „Italien über alles" : das war sein 60 Leitsatz, und da die Männer der Wiedererhebung das Ideal eines kampftüchtigen ItaUen aufgestellt und zu verwirklichen gesucht hatten, in vollem Bewußtsein davon, daß die Vernachlässigung der WafFentüchtig- keit und die Einbuße an Manneszucht und militä- rischen Tugenden den Verfall Italiens verursacht und begleitet hatten, sowie daß das künftige Italien die erste Regung seines neuen Lebens auf den napoleonischen Schlachtfeldern geoffenbart hatte — so träumte Car- ducci vor allem von einem kriegerischen Italien: Die Italiener (die sich nach jenem Ausspruch eines franzö- sischen Generals, der übrigens der Widerhall eines über- kommenen und jahrhundertalten Urteils war, „nicht schlagen"), sollten sich schlagen, und Carducci froh- lockte ; er sah nicht auf die Uniformen der Kämpfenden : Freiwillige der Republik oder Soldaten der Monarchie, Demokraten nach französischem Muster auf Barri- kaden fechtend, oder Verteidiger des alten Piemont gegen die Franzosen, in geordneten Schlachtreihen für die Ehre und für ihr kleines Vaterland fallend: „Und wohl ersteht und siegt, Wer für die Heimat fällt Im heil'gen Glanz der Waffen!" Was verschlug es ihm, ob es junge Studenten waren, die einem unbestimmten Humanitätsgefühl folgend, die Waffen gegen die Türken trugen, oder Truppen- offiziere, die Bataillone von Askaris gegen die Abes- synier führten? Sie schlugen sich, und Carducci um- faßte sie alle mit der gleichen Bewunderung und dem gleichen Anteil. Aber da jene Bewegung der italienischen Wieder- erhebung in einer seltenen geistigen Höhe begründet und ausgedrückt war und dem Lande nicht nur durch 6i das vollbrachte Werk zur Ehre geneicht, sondern auch weil sie die Feinheit, den Adel, den maßvollen Geist dieses alten Stammes bekundet, so verkehrte sich das von den Männern der Wiedererhebung und von Carducci gepflegte kriegerische Ideal niemals in jenen Aben- teurermut und in jene barbarische Roheit, die später Imperialismus und Militarismus genannt wurden. Der Vertreter des wiedererstandenen kriegerischen Italiens, und Carduccis größter Held war Garibaldi, der (wie treffend gesagt worden ist) „ruhmgekrönt durch glück- liche WafFentaten zu Land und zur See, in der Hei- mat und an fernen Gestaden, dennoch niemals das Schwert des Kriegers oder des Eroberers zu führen schien, sondern es als Werkzeug der Gerechtigkeit und als Sinnbild künftigen dauernden Friedens schwang". Die Triebfeder jenes Ideals war nicht der Trieb des wilden Tiers oder des Plünderers, sondern das Be- dürfnis nach Manneszucht und der Wunsch, den Stamm des italienischen Bürgertums wieder zur Blüte zu bringen. Vor zwei gleicherweise für das Vaterland ge- storbenen Dichtern, Petöfi und Mameli, verbarg Car- ducci nicht seine Vorliebe für den zweiten, den Kreuz- fahrer der Idee, fein, milde, heldenhaft, der soldatischen Wildheit des andern bar. Darum verbindet sich sein kriegerisches Ideal ohne Zwang mit dem Abscheu vor dem Geist der Eroberung und Unterdrückung. Die Soldaten Italiens wollen nicht schöne fremde Küsten plündern und den Adler Roms, weiter Flüge gewohnt, ziellos ins Weite tragen ; wohl aber ihre Her- zen, ihre Fahnen und Erinnerungen aufrecht halten, die Alpen und die beiden Meere schützen. Die Bogen des Forums erwarten neue Triumphe, aber nicht von Königen oder Cäsaren, nicht solche über kettenbeladene bz Menschen; sie erwarten Italiens Triumph über das schwarze Zeitalter und über die Ungeheuer, von denen es die Völker befreien wird. Auch dort, wo es den Anschein hat, daß Carducci den Krieg verherrlichte, betrachtet er gedankenvoll das Schicksal des Krieges, lastend auf dem Menschengeschlecht, für das „Friede" ein zweifelhaftes Wort bedeutet. Allein er möchte dieses harte Schicksal brechen; wann wird der Friede seine reinen Schwingen aus dem Blute erheben.? Wann wird die Sonne nicht Müßiggang und Kriege für Ge- walthaber bestrahlen, sondern die fromme Gerechtig- keit der Arbeit?" So ruft unser Erinnern an Carducci in diesen Tagen unsere alten Gedanken an ihn wach, gegen- wärtig und lebendig gemacht durch die Ereignisse des Heute ; sie brauchen nicht ihren Dichter zu erwarten, und erfordern keine andere Dichtung, da diese schon in den Worten gegeben ist, die Giosue Carducci mit seinem besten Herzblut genährt hat. PHILOSOPHIE UND KRIEG {Critica XIII, August 1915). — Was ich im vorigen Hefte über die Pflichten der Männer der Wissenschaft in der Kriegs- zeit schrieb, hat die Verwunderung Garganos (Mar- zocco, I. August) erregt, der sogar davon Anlaß nimmt, den Nutzen der Philosophie in Zweifel zu ziehen. Ich meine jedoch, daß die Verwunderung meines geschätz- ten Gegners sich sogleich bei der Erwägung legen wird, daß die Philosophie nicht bloß die Wirklichkeit, son- dern auch sich selbst, das heißt ihre eigenen Grenzen, kennt, und wohl weiß, daß, sowie die großen Staats- lenker niemals Philosophen, sondern Menschen der Leidenschaft und des Willens gewesen, so auch die 63 Kriege durch den tiefen Trieb und die Leidenschaften der Völker, die mit ihrer dunklen Arbeit die Wege der Zukunft erschließen, bestimmt und getragen worden sind. Dem Philosophen, insofern er Patriot ist, liegt zu Kriegszeiten keine andere Pflicht ob, als die Philo- sophie beiseite zu lassen und sich mit seinem Volk völlig eins zu fühlen : Volk zu werden. Was ferner den „Nutzen" der Philosophie anbelangt, so braucht er weder hervorgehoben noch verteidigt zu werden, da eine ewige Grundwirksamkeit des menschlichen Geistes dessen nicht bedarf; hier handelt es sich nur darum, klarzustellen, daß ihr Nutzen in ihr selbst beschlossen ist und darin liegt, daß sie für das Hervorbrechen der Leidenschaften und des werktätigen Handelns immer höhere Bedingungen schafft; mildert und verfeinert die Kunst die Gemüter, so erhellt sie der Gedanke. Befindet sich aber das Tun im vollen Strom seiner Ent- wicklung, so ist es vergebens, philosophische Hilfen dafür bieten oder fordern zu wollen : oportet studuisse, non studere, es ist dann die Zeit des Bewährens, nicht die kritischer Forschung und Darlegung. Macht die deut- sche Philosophie Deutschland zu dem, was es jetzt ist? Man behauptet es, und trotzdem verhält es sich nicht also. Sicherlich hat die philosophische Erziehung dazu beigetragen, Deutschland geistig kraftvoller zu machen (ebenso wie sie es mit dem italienischen Volke im Zeitalter der Renaissance getan hat) ; aber an sich hat sie kein Ver- dienst und keine Verantwortlichkeit an der unbezähm- baren Sucht nach Wachstum und Ausbreitung, die das deutsche Volk ergriffen und es zu einem wütenden Ringen mit den übrigen Völkern Europas geführt hat; und noch viel weniger an diesem oder jenem werk- tätigen Entschluß der Deutschen, an der Verletzung der 64 belgischen Neutralität, an der Beschießung offener Städte, am Flug lenkbarer Luftschiffe über Paris und ähnlichem. Selbst die Lehre vom Recht als Macht (alles eher denn deutsch in ihrem Ursprung, vielmehr italienisch, von Macchiavelli an bis auf Vico und den Abbe Galiani) ist gänzlich unschädlich ; und bis gestern haben wir uns ihrer bedient, Philosophen wie Histo- riker, werden dies auch morgen tun, wie ich für mein Teil mich ihrer auch heute bediene, um den Gang der Geschichte zu verstehen: da ich nicht im mindesten gewillt bin, sie mit der hohlen Fortschritts-, Auf- klärungs- und Wohlfahrtslehre des achtzehnten Jahr- hunderts zu vertauschen. Allein jene Lehre ist weit- räumig genug, um ebensowohl die Macht der Aristo- kratie, wie jene der Demokratie, die der Nationalität, wie jene der Menschenrechte in sich aufzunehmen; gerade so, wie in der Umwälzung von 1 848 Konser- vative, Liberale wie Sozialisten an der Hegeischen Philosophie eine Stütze fanden, als einer geistigen Grund- lage, die den allerverschiedensten werktätigen Ent- schließungen gemein war. Lese ich die Schriften und Aufsätze, die mir aus den Ländern unserer Verbündeten, namentlich aus Frankreich, zukommen, und in denen der wirksamen Betätigung der kriegerischen Tüchtig- keit Deutschlands theoretische Hohlheiten über die demokratischen Ideale, über das Reich des Friedens und der Gerechtigkeit gegenübergestellt werden ; höre ich gar den Russen Herrn Sasonoff auf die Einnahme von Warschau mit dem Vorwurf der „abscheulichen Lehre von der Macht" antworten, so überkommt mich tiefe Schwermut, denn mir scheinen dies alles Merk- male der Schwäche, oder mindestens Anzeichen, daß in den lateinischen und slawischen Ländern die Geister 5 Croce, Randbemerkungen eines Philosophen 6c keineswegs auf der Höhe der Ereignisse, die sich ent- wickeln, stehen. Statt dessen müßte man einfach sagen: Wie ItaUener (oder Franzosen, Engländer, Russen usw.) sind Italiener (oder Franzosen, Engländer, Russen usw.), und da der Verlauf der Ereignisse nun einmal Europa in Kriegszustand versetzt hat, so wollen wir uns bis zum äußersten schlagen und für unser Vaterland jedes Opfer bringen, was immer sich auch ereignen möge. Anderes kümmert uns jetzt nicht, noch wollen wir von anderem wissen. — Gibt es eine schönere und richtigere Philo- sophie als diese.? Und ist es nötig, sie mit theoretischen und geschichtlichen Ungereimtheiten zu verbrämen? „Jawohl (meine ich Gargano zu vernehmen), weil der- artige Ungereimtheiten ein Bedürfnis der kämpfenden Völker bilden." Das ist nun wohl offensichtlich, da alles, was sich ereignet, irgendeinem Bedürfnis ent- spricht: auch die Lüge, auch das Gestammel und die Verschmitztheit des Schülerleins, das seine Aufgabe nicht gelernt hat. Aber daraus folgt keineswegs, daß es rätlich sei, die Zahl der Ungereimtheiten zu ver- mehren; ich für meinen Teil eigne mich sicher nicht zu diesem Geschäft, und ich beklage es, daß es meine Philosophiekollegen in andern Ländern ausüben, denen Schweigen besser angestanden hätte. „Aber du mußt doch mindestens das Bedürfnis fühlen, zum allgemeinen Besten das, was du Ungereimtheiten nennst, zu be- kämpfen!" Nun, das ist es, was ich, wenn auch mit Zurückhaltung, tue, denn, wie gesagt, jetzt ist es nicht an der Zeit, zu schulmeistern ; es gilt etwas anderes für Italien: zu siegen. Und wer nicht unmittelbar zum Siege beitragen kann, wird besser tun, sich den Auf- gaben des gewöhnlichen Alltagslebens zu widmen, so wie man es in Deutschland getan hat und tut, sowohl 66 in Voraussicht dessen, was nach dem Kriege geschehen wird, als aus nationalem Stolz, um nicht zu zeigen, daß der Krieg allen die Köpfe verdreht hat. Wenn übrigens Gargano Lust hat, mich in der Rolle des Schulmeisters zu sehen, so bietet sich mir dazu Gelegenheit, dank Guglielmo Ferrero. FERRERO UND DIE PHILOSOPHIE {Critica XIII, August 191 5). — Dieser fährt nämlich fort, von Dingen zu reden, die er nicht wohl versteht, von den Problemen des Gedankens und der Kultur; von der deutschen Philosophie, wie er sie im 6'd'f 0/0 beleuchtet hat, geht er nun auf die Philologie über {J'ribuna, 23. Juli) und zieht zum Beweise, daß es den Deutschen an gesundem Menschenverstände mangle, die „Homer- frage" heran, in der ihm zufolge die europäische Bil- dung sich nicht vermessen habe, die Schranken der Überlieferung zu durchbrechen, „bevor die deutsche Wissenschaft auf den Plan getreten ist." Leider lassen ihn auch diesmal seine geschichtlichen Kenntnisse im Stich; denn die großen Vertreter der „Homerfrage" waren (wie jetzt allgemein bekannt ist) ein Italiener, Vico, und ein Franzose, der Abbe d'Aubignac, denen ein paar englische Kritiker sich zugesellten ; und schon allzu oft ist Wolf, der sie in Deutschland wieder in Aufnahme brachte, des Gedankenraubs bezichtigt worden. Das will besagen, daß diese „Frage" ein not- wendiges Ergebnis des Fortschritts der Geister in Europa gewesen ist: die Ausdehnung der Kritik, die Spinoza am Pentateuch und an Moses geübt hatte, auf Homer (wie ich anderwärts darzutun versucht habe); in der Tat wurde dadurch der Begriff der Dichtung, des Mythus und der Urgeschichte erneuert, so daß auch 5* 67 diejenigen unter den Deutschen, die in bezug auf Homer die grundstürzende Verwerfung des ersten Be- ginnens verständigerweise aufgegeben haben, jetzt nicht umhin können, zuzugeben, die „Homerfrage" sei das grof3e Übungsfeld für die moderne Philologie gewesen. Ferrero verweist des weiteren auf die Zer- setzung, die die Deutschen in die Geschichte Roms und des alten Italien gebracht und damit auch die Italiener „bis zu dem unglaublichen kritischen Wahn- witz eines Pais" verleitet hätten — Pais war ein anderer Gegner Ferreros bei seinen Bestrebungen, eine Lehr- kanzel zu ergattern, und so sucht er nun auch ihm, wie vorher mir, anläßlich des Krieges einen Hieb zu versetzen! Er muß aber in vollständiger Unkenntnis dessen sein, was die Forschungen über die Urgeschichte Italiens in der italienischen Wissenschaft der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts vorstellen, der „unglaubliche Wahnwitz" eines Micali, Mazzoldi, Jannelli; sonst müßte ihm klar sein, daß die Herüber- nahme der deutschen Forschungsweise und der „un- glaubliche Wahnwitz" von Pais selbst einen großen Fortschritt bedeuten, der Italien zu Ehre gereicht, und den wir, wills Gott, auch in und nach dem Kriege festhalten werden. Ganz zu geschweigen, daß er gegen die deutschen Historiker und Philologen schnöden Undank an den Tag legt, deren mühsame Arbeiten er in seiner Geschichte Roms weidlich genützt hat. Die beigebrachten Beispiele verallgemeinernd, klagt Ferrero die deutsche Bildung an, sie halte die Überlieferung, die Autorität, die festen Grundsätze nicht in Ehren; das alles ist Literaturgeschichte vom Schlage Ferreros, denn es ist allgemein bekannt, daß im Gegenteil Deutsch- land mächtig dazu beigetragen hat, den geschichtlichen 68 Sinn und die Ehrfurcht vor der Vergangenheit wieder- herzustellen, obwohl es, gerade infolge davon, mit vielen falschen Überlieferungen und Autoritäten sowie mit den ihnen entsprechenden falschen Grundsätzen hat aufräumen müssen. Politische Geschichte vom Schlage Ferreros ist weiter die krönende Behauptung, „der europäische Krieg wäre nicht ausgebrochen, wenn das deutsche Volk klüger oder seine Regierung schwächer gewesen wäre: der politische Gehorsam und die geistige Unordnung haben diese Katastrophe herbeigeführt". Diesen vereinfachenden Behauptungen muß entgegen- getreten werden; denn sie leiden, um nur eines zu sagen, an demselben Fehler, der den Deutschen zur Last gelegt wird, und stellen dem Begriff des „aus- erwählten Volkes" den nicht weniger törichten des „schuldigen, sündigen Volkes" gegenüber. In diesen wechselseitigen Beschimpfungen der Völker erhalten sich die Italiener, obwohl auch sie im Kriege stehen, mehr als die übrigen Völker y,sceleris puri^\ als große Herren, dank einer langen Geschichte, die sie mit be- sonderer Einsicht und Geistesschärfe ausgestattet hat; darum geben sie sich nicht dazu her, Beleidigungen mit Beleidigungen zu vergelten, nicht einmal solchen wie in den Kundgebungen österreichischer Kaiser, Erz- herzoge und Feldmarschälle, die ihnen ganz natürlich erscheinen müssen, weil die Geschichte nun einmal Österreich das widerwärtige und harte Amt eines Erb- und Polizeistaates zugewiesen hat, uns Italienern da- gegen das entgegengesetzte Amt. Allein die „Intellek- tuellen", das heißt die Leser ausländischer Broschüren und Zeitungen, bemühen sich auch bei uns, das, was die Stärke Italiens in Gegenwart und Zukunft ausmacht, zu schwächen und das Gift in unser gesundes Blut zu 69 träufeln. Diese Bemerkung und dieser Einspruch gegen das Vergiftungswerk, das die „Intellektuellen" in diesem furchtbaren und erhabenen Trauerspiel des europäischen Krieges vollführen, stammt übrigens nicht von mir, sondern von einem englischen Schriftsteller, der seine Bücher in italienischer Sprache veröffentlicht, von Herrn Mackenzie {Über den bio-philosophischen Sinn des Krieges, Genua 191 5), dem ich, zugleich mit der gebührenden Berufung auf ihn, meine aufrichtige Freude auszusprechen mir erlaube. KULTUR UND ZIVILISATION {Critica XIII, Oktober 1915). — Diese Unterscheidung ist jetzt wieder aufgetaucht, die ungefähr vor einem Jahrhundert in Italien eine so große Rolle gespielt hat, damals, als sich, ein Vorzeichen der Wiedererhebung, das Nach- denken über die Tugenden und Fehler des italienischen Volkes vertiefte. Das, was man jetzt von den übrigen Völkern sagt, haben damals die Italiener von sich selbst behauptet: daß sie nämlich in den neuern Zeiten, in und nach der Renaissance, Kultur und nicht Zivili- sation besessen hätten; daher ihr politischer und so- zialer Verfall und die Fremdherrschaft. Man schlage nur — ich beschränke mich auf eine einzige Anführung — die Geschichtswerke eines Cesare Balbo nach. Nun verstand Balbo, gleich den andern Italienern jener Zeit, zwar, wie wir es auch heute tun, unter „Kultur" die theoretischen Seiten des Geistes, Kunst, Philosophie, Wissenschaft; dagegen unter „Zivilisation" fast das Gegenteil von dem, was man heute so nennt, und, um die Wahrheit zu sagen, auch das Gegenteil der ge- schichtlichen Bedeutung dieses Wortes: die Zivilisation, die sie anstrebten, war viel eher das, was der italienische 70 Philosoph (Vico) das „edelgeartete Barbarentum" ge- nannt hatte, der Glaube an das, was das Einzelwesen über- mannt, die Aufopferung des Einzelwesens zugunsten von Staat und Vaterland, die religiöse oder sittliche Auf- fassung des Lebens, das republikanische Rom oder das begeisterte und gläubige Mittelalter, aber nicht die Renaissance, und noch viel weniger die demokratische y^civilisation^'- \ und das Ende dieser Zivilisation, das heißt dieses „edelgearteten Barbarentums" in Italien beklagten sie, an dessen Stelle am Schlüsse des Mittel- alters die Neigung zu Annehmlichkeiten und Vor- teilen sowie die Sorge um die Wohlfahrt des Einzel- wesens trat. Wie werden wir sie aber heute auffassen nach den neuen Erfahrungen, die die Geschichte uns auferlegt hat? Wollen wir den demokratischen, nach Geschichte und Herkunft englisch-französischen Sinn des Wortes: „Zivilisation" beibehalten oder wollen wir ihn nach Art der Männer unserer Wiedererhebung abändern ? Ich lese im Mercure de France (wohlgemerkt im Mercure de France, und man achte wohl darauf, daß ich nicht eine deutsche oder deutschfreundliche Rund- schau anziehe, Heft vom i. September, S. 98) den Er- guß eines seiner Schriftleiter, der mit Ungestüm her- vorbricht, so wie es bei Gefühlen und Gedanken, die von der unerbittlichen Notwendigkeit eingegeben werden, zu gehen pflegt: „Die demokratischen Formeln haben sich als ebenso hohl und nichtig herausgestellt wie dereinst die monarchischen Formeln, nur mit dem ihnen wenig zur Ehre gereichenden Unterschied, daß die Zeit sie etwas weniger aushöhlen konnte! Wahr- haftig, die Demokratie ist das reine Nichts! Sie ist die Herde, die den Schäfer führt, die verkehrte Welt, sie ist die organisierte Unordnung, Leerheit, Dumm- 71 heit! Das Recht gegen die Macht: dieses Wort ist nichts anderes als eine armseHge Erschleichung, wenn das Recht sich nicht seine eigene Macht zu schaffen imstande war! . . ." Ich freue mich, daß diese Anschauung sich nun auch in Frankreich Bahn bricht, so wie ich mich ein andermal darüber betrübt habe, wenn ich die Formel vom Recht gegen die Macht wiederholen hörte, ohne die unumgängliche Erläuterung, deren sie bedarf: daß ein ohnmächtiges Recht kein Recht, sondern elendes Geschwätz ist. NÜTZLICHE UND UNNÜTZE DINGE {Cri- tica XIII^ Oktober 1915). — Wenn ich ein Thema, das in den früheren Heften schon berührt wurde, hier wieder aufnehme, von der Unzulässigkeit, namens der Wissenschaft in dem Augenblick Partei zu nehmen, wo (um den Ausdruck des gemeinen Verstandes zu ge- brauchen) die Kanonen das Wort haben, so setze ich hin- zu, daß man auch, falls man nicht Partei nehmen will, ja sogar edle Anstrengungen gemacht werden, um über zu enge Gesichtspunkte hinauszugelangen, selbst wenn man das Unzulässige vermeidet, dennoch immer in Hohlheit verfällt. Man wird den Brief Romain RoUands beachtet haben, der in einer eigens gegründeten Züricher Rundschau in englischer und deutscher Sprache (Inter- nationa/ Review, Internationale Kund schau) während der verflossenen Monate eine „Annäherung der freien und gebildeten Geister aller Völker über den Krieg hinweg" versucht hatte. „Dieser Versuch" (hat Romain Rolland in jenem verzweiflungsvollen Briefe gestanden) „ist elend gescheitert. Ich ziehe mich müde aus einem blinden Kampf zurück, in dem jeder der Kämpfenden keine andere Stimme als die der eigenen Leidenschaft 72 vernimmt und keine andern als die eigenen Gründe anerkennen will, ohne sich irgendwie die Mühe zu geben, nach einem Mittel zu suchen, das einen Grund dem andern, ein Herz dem andern nähern könnte." Aber dieser Fehlschlag war vorauszusehen, weil er durch den Versuch selbst gegeben ist; und ebenso nichtig erscheinen mir auch alle übrigen Auseinandersetzungen, die ich in jener Rundschau gelesen habe, mögen sie auch die Empfindungen und Willensrichtungen, die sich in ihnen ausdrücken, beleuchten, so zum Beispiel jene zwischen dem Engländer Ramsay Macdonald und dem deutschen Wirtschaftslehrer und Historiker Jastrow über den Begriff der belgischen Neutralität; man kann daraus höchstens nur entnehmen, daß die beiden Mächte eine und dieselbe Sache, die Neutralität Belgiens, wollen, allein in derselben Weise, wie (nach einem Beispiel Kants) Franz I. und Karl V. vollkommen überein- stimmten, da sie alle beide dasselbe wollten, nämlich Mailand ! Das was die Männer von redlichem Gewissen (ich meine nicht lediglich die „Gelehrten") tun können, und was die genannte englisch - deutsche Rundschau recht gut leistet, besteht darin, „die Lügen und die Aufhetzung eines Volkes gegen das ' andere zu be- kämpfen", und die gegenseitige Achtung zwischen den kämpfenden Völkern, die sämtlich die ihnen von der Geschichte anvertraute Sache verteidigen, zu fördern. Das ist aber auch der einzige im Kriege mögliche „Einklang der Menschheit". WAS JETZT DIE PHILOSOPHEN SAGEN {Critica XIII, Oktober 1915). — Auch Emil Boutroux hat, wie mir scheint, über den Leidenschaften des Tages einigermaßen seine philosophische Klarheit und 73 Strenge verloren. In seiner Antwort auf die Umfrage der Opinion (4. Sept. 19 15) über den Begriff der „Or- ganisation" und das Grundwesen der deutschen Organi- sation im besondern sagt er, der hier dennoch als der- jenige vorgeführt wird, der das Joch der mecha- nischen Auffassung abgeschüttelt habe (obgleich es falsch ist, wenn hinzugesetzt wird: er habe es durch Verwerfen der deutschen Philosophie — der er im Gegenteil gefolgt ist — getan) : „das tatsächliche mensch- liche Problem" liege nicht sowohl in der Unter- werfung der Einzelnen unter die Allgemeinheit, als darin, „das Höchstmaß an Manneszucht mit dem Höchstmaß an Freiheit zu verbinden". Sollte gerade das nicht eine untadelig mechanistische Auffassung sein, wie im übrigen auch die gewählten Ausdrücke selbst in ihrer mathematischen Färbung dartun ? Eine abstrakte Zweiheit, die durch eine Addition und Sub- traktion beseitigt werden soll? Und hat sich nicht gegen die so geartete mechanische Auffassung siegreich und endgültig die spekulative Synthese von Zucht und Frei- heit, von Allgemeinem und Einzelhaftem erhoben, die nicht allein der deutschen Philosophie, sondern dem ganzen modernen Denken angehört, seit das Göttliche und Allgemeine vom Himmel auf die Erde herab- gestiegen ist, das Einzelwesen sich wahrhaft Mensch und Person in der Einheit mit dem All fühlt, das seiner- seits sich bloß in den Einzelwesen verkörpert? So hatte bis jetzt die Philosophie gelehrt, das war längst eine ihrer Grundwahrheiten: ist es erlaubt, sie zu leugnen, um den Deutschen einen Tort anzutun? DEUTSCHFREUNDLICHKEIT. EIN INTER- VIEW {Roma, Neapel, i. Oktober 1915)- — Haben Sie 74 die Aufsätze Guglielmo Ferreros und anderer gelesen, in denen von Ihrer „Deutschfreundlichkeit" die Rede ist? — fragte ich den Senator Croce. — Jawohl, ich habe sie gelesen und lasse die Leute reden. Man mag mich ruhig weiter als Deutschen- freund ausrufen, während ich für mein Teil fortfahre, immer, wenn es mir passend erscheint, die geschicht- lichen und wissenschaftlichen Ungereimtheiten klar- zustellen, die Herr Ferrero und andere Schriftsteller seines Schlages über die deutsche Wissenschaft, Philo- sophie und Philologie von sich geben. Was wollen Sie? Ich meine nicht, daß die Aufsätze Ferreros einen Bestandteil der militärischen Unternehmungen Italiens ausmachen, und daß das Schweigen über sie eine patriotische Pflicht ist! Mir scheint das Gegenteil ge- boten zu sein : trügerische Behauptungen richtig zu stel- len, die zu nichts nütze sind und die verhindern, daß man uns ernst nimmt. — Immerhin glauben manche, daß die Wirkung der deutschen Kultur auf Italien nachteilig und daß der Augenblick gekommen sei, sich ihrer für immer zu entledigen. — Ich verstehe ganz gut, daß manche dieser Meinung sind. Es ist natürlich, daß für verschiedene Leute lange und mühsame Wege beschwerlich sind und daß sie darum die bequemern vorziehen : allein ich bin ein be- scheidener Abkömmling und Fortsetzer jener neapo- litanischen Schule, die sie sich vor 1 848 herausbildete, zu ihren Häuptern Francesco de Sanctis und Bertrando Spaventa hatte und darauf ausging, das Denken und Forschen Italiens durch deutsche Wissenschaft zu be- leben. Diese Schule hat sehr gute Früchte getragen, und ich für mein Teil denke nicht daran sie aufzugeben. IS — Besteht nicht die Gefahr, daß auf diese Weise, wie man behauptet, die Eigenwüchsigkeit itaUenischen Geistes verloren geht? — Eigenwüchsigkeit besteht darin, fremde Arbeit gründlich kennen und achten zu lernen, sich ihrer zu bedienen, um weiter fortzuschreiten, besseres und eigenes zu machen. Es wäre seltsam, wenn man, um eigen- wüchsig zu bleiben, in jungfräulicher Unwissenheit ver- harren sollte. — Hatte aber nicht gerade die deutsche Kultur diesen fürchterlichen Krieg zur Folge, den Deutschland her- vorgerufen hat und mit solcher Verbissenheit führt.? — Keinerlei wissenschaftliche Theorie (wenn sie anders wirklich Theorie und Wissenschaft ist) vermag unmittelbar, in logischer Folge, diese oder jene sinn- fällige Handlung zu bestimmen. Die Verantwortung für die gegenwärtige deutsche Politik liegt bei den Staatsmännern Deutschlands, bei seinem Volk, auch seinen Männern der Wissenschaft, aber allein insoweit sie nicht Wissenschaft sondern Politik treiben ; keines- wegs aber bei der deutschen Wissenschaft, die, wie jede wahre Wissenschaft, stets über den politischen Parteien und den nationalen Streitigkeiten steht. — Lassen wir also die deutsche Wissenschaft aus dem Spiel und erlauben Sie eine andere Frage. Sie waren kein Anhänger des Krieges Italiens gegen die Mittel- mächte ? — Das ist Geschichte, die sich in vollem Tageslicht vor aller Augen abgespielt hat. Ich gehörte zu jenen zahlreichen Italienern (ich sage zahlreich, obwohl nicht alle die Gelegenheit oder den Mut gehabt haben, da- von öffentlich Zeugnis abzulegen), welche die von vielen Seiten an Italien ergehende Aufforderung, sich aus 76 nicht klar erkennbaren nationalen Gründen heraus in einen überaus schweren Krieg zu stürzen, ungerne sahen, und die deshalb das undankbare Amt eines ad- vocatus diaboli auf sich genommen hatten, damit, mußte der Krieg schon eintreten, dies ausschließlich aus wirk- licher und bewiesener nationaler Notwendigkeit heraus geschähe. Allein in der Zeitschrift, betitelt Ita/ia nostra, die ich und meine Freunde herausgaben, ermangelten wir nicht des öftern zu betonen, daß die letzte Ent- scheidung dem zufiele, der den Staat in sich darstellte, und daß wir alle, werde die Entscheidung wie immer gefallen sein, dem nationalen Unternehmen Folge leisten und an ihm mitarbeiten würden. Und das haben wir auch getan, jeder in der Art, wie es ihm gegeben war. Mein Freund Cesare de Lollis^), der jenes Blatt leitete, hat sich sogar (obgleich er sich den Fünfzigern näherte) als Infanterieleutnant einreihen lassen. Nun haben wir den Krieg, " und ich will nicht einmal mehr die vor- ausgegangenen Streitigkeiten zurückrufen. Nichts er- weckt mir mehr Ekel als die Klagemänner, die Kopf- schüttler und Unheilpropheten, denn ich hege, für mein Teil, das feste Vertrauen, daß wir aus dem Unter- nehmen, zu dem wir uns angeschickt haben und um das schon so viel edles Blut geflossen ist, ehrenvoll hervorgehen werden. — Und was denken Sie über die Grausamkeiten, deren die Deutschen bezichtigt werden? — Was weiß ich darüber.? Ich weiß nur, daß in den letzten Kriegen Anschuldigungen wegen Grausamkeit, begleitet von einschlägigen, Gott weiß ob verbürgten *) Er war vorher, in der Zeit der Neutralität, wegen der Haltung des Blattes, als Universitätslehrer ebenso kindischen als unwürdigen Angriffen von Seiten der Studentenschaft ausgesetzt gewesen. A. d. Ü. 77 Photographien, nach und nach gegen alle Völker er- hoben worden sind: gegen die Italiener zur Zeit des Krieges in Libyen, gegen die Bulgaren im Balkankrieg und jetzt gegen die Deutschen bei ihrem ersten Er- scheinen in Belgien. Ich erinnerte mich auch eines klugen alten italienischen Sprichworts: „Bei Krieges Währen wachsen Lügen wie Beeren." Auch habe ich einige der schlimmsten Grausamkeiten, die man den Deutschen zuschrieb, nachdrücklichst widerlegen gehört: hier ist zum Beispiel ein vor kurzem erschienener Aufsatz des englischen Mathematikers und Philosophen Rüssel, betitelt: Gerechtigkeit in der Kriegszeit ^ der, auf Zeug- nisse belgischer Behörden gestützt, das Vorhandensein des belgischen Mädchens widerlegt, dem die deutschen Soldaten die Nase abgeschnitten haben sollen, und dessen schreckliche Geschichte die Engländer schon hatte er- schauern lassen. Ein Prediger, der darüber von der Kanzel herab gesprochen hatte, erklärte von derselben Kanzel herab, für die irrtümlich von ihm verbreitete und unterstützte Verleumdung Abbitte tun zu wollen. Ich selbst habe die Lese- und Übersetzungsfehler fest- stellen können, in die Professor Bedier in seinem Werk- chen über die Taschenbücher der deutschen Soldaten (auch in Italien in Tausenden von Abzügen verbreitet) verfallen ist, als ich die Übersetzungen mit den der Schrift beigegebenen Nachbildungen in Lichtdruck verglich. Aber damit spreche ich keinen kritischen Vor- behalt oder einen methodischen Zweifel aus und er- kenne nicht Tatsachen an, denen die nötige Beurkun- dung fehlt, ich urteile nicht in einem Gerichtsverfahren, bei dem der Angeklagte nicht gehört worden ist. Ich frage vielmehr: weshalb gibt man sich so viel Mühe mit diesen Nachforschungen und Erörterungen gerade 78 jetzt, da die Zeugnisse fehlen und die Leidenschaften entfesselt sind? Hat Deutschland sich solcher Ver- brechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht, o, zweifeln Sie dann nicht, daß es dafür wird Sühne leisten müssen, denn die Geschichte ist eine strenge Richterin ! Aber wäre es auch das Vorbild aller mensch- lichen Tugenden, jetzt ist es unser Gegner, weil es Österreich in seinen Schutz nahm, das unseren natio- nalen Interessen nachgestellt und sie mit Füßen ge- treten hat; uns ziemt es jetzt, es auf dem Schlachtfeld zu bekriegen, nicht in unregelmäßigem Gerichtsver- fahren zu verurteilen. — Jedenfalls scheint die barbarische Kampfesweise der Deutschen nicht im Einklang mit ihrer vielbelobten Kultur und Gesittung. — Vor dem Kriege ist niemand der Ansicht gewesen, daß die Deutschen barbarisch und grausam wären. Ich bin geneigt, das Gefühl der Abneigung und des Wider- strebens, das viele ihrer Handlungen hervorriefen, auf etwas andere Weise zu erklären. Ein jedes Volk hat seine besonderen völkischen Fehler, die seinen Vor- zügen entsprechen; und die der Deutschen sind be- kanntlich die Schulmeisterei und eine gewisse grob- schlächtige Einfalt. Alle Völker besaßen einmal, und viele auch jetzt noch, Galgen und Henker; aber allein die Deutschen wären fähig gewesen, die „Theorie" und das „Handbuch" dieses Gewerbes zu schreiben! Nun haben sie die Theorie des Krieges ausgearbeitet, indem sie Dinge, die ohne Zweifel dem Krieg anhängen und unvermeidlich sind, aber, in dieser Gestalt ausein- andergesetzt, Abscheu erregen, auf Formeln und Vor- schriften gebracht haben. Aus Schulmeisterei über- treiben sie und überschreiten das Maß; und haben sie tat- 79 sächlich einige der Grausamkeiten, die man ihnen in die Schuhe schiebt, begangen, so wird das gerade aus schul- meisterhcher Beobachtung der aus dem Begriff des Krieges abgeleiteten Regeln sowie aus der abstrakt rich- tigen Lehre heraus geschehen sein, daß die einzig wirk- same Menschlichkeit des Krieges in seiner Unmensch- lichkeit liege, darin, daß er schreckenerregend und beschleunigend wirke. Mir kommt dabei in den Sinn, was Silvio Spaventa zu sagen pflegte: daß die Bestim- mungen des bourbonischen Zuchthauses für die poli- tischen Gefangenen ebenso hart und vielleicht noch härter waren als die österreichischen; daß aber der große Unterschied darin bestanden habe, daß die öster- reichischen Kerkermeister sie genau beobachteten, wenn sie zuweilen auch das Los der Sträflinge beklag- ten (siehe „Meine Gefängnisse^'- von Silvio Pellico!), während die neapolitanischen, sei es aus Gutmütigkeit, sei es aus Bestechlichkeit, sie in vielen Punkten milderten und erträglich machten. Gleicherweise vermag der Deutsche, wenn er sich zu einer vom sittlichen oder gesetzmäßigen Standpunkte nicht zu rechtfertigenden Handlung anschickt, sie nicht zu idealisieren oder in geschickte Phrasen zu kleiden, wie es andere elegantere und wohlerzogenere Völker tun, sondern sagt unver- blümt heraus, wie Herr Bethmann Hollweg, daß es sich um eine verwerfliche Sache- handle, aber „Not kein Gebot" kenne. — Ich möchte Sie noch fragen, was Sie von dem po- litischen Ideal der Deutschen halten, seinem aristokra- tischen, staatsmännischen, militaristischen Gepräge? Erscheint es Ihnen nicht als niedriger stehend und zu- rückgebliebener gegenüber dem demokratischen la- teinischen Ideal? 80 — Aristokraten- und Demokratentum haben wie Jugend und Alter, wie die verschiedenen Abschnitte und Zustände des Lebens, jedes seine Stärken und Schwächen, seine Tugenden und Laster. Es ist unmög- lich, in wenigen Worten den Werdegang zu erläutern, in den die Völker des westlichen Europas, Franzosen, Engländer,. Italiener, eingetreten sind : es ist das eine zentrifugale Entwicklung, die in einer nicht fernen Zukunft die Staatsidee und die gesellschaftliche Ein- heit zu vorübergehendem Vorteil der einzelnen Indi- viduen und der einzelnen Gesellschaftsgruppen aufzu- lösen droht. Einer unserer neapolitanischen Schrift- steller über Politik, der Senator Herzog von Gualtieri, hat im vergangenen Jahre, ein paar Monate vor Kriegs- ausbruch, eine bedeutende Arbeit über diesen Gegen- stand veröffentlicht. Ebensowenig läßt sich in knappen Worten der umgekehrte, zentripetale Werdegang, der sich in Deutschland vollzogen hat, umschreiben, das, obwohl es in hervorragender Weise an der modernen Gesittung mitgearbeitet hat, dennoch das Gefühl für das Vaterland, den Staat, die geschichtliche Sendung des deutschen Volkes äußerst lebendig bewahrt und das Einzelwesen dem Staate untergeordnet hat. Ich gehöre nicht zu denen, die an den schicksalhaften Kreislauf der aristokratischen Gesittung^ glauben, die sich allmählich zu Demokratien wandeln, oder von Demokratien, die sich allmählich in Zerrüttung auf- lösen und neuen aristokratischen und militärischen Bildungen zum Opfer fallen. Aber ich halte daran fest, daß, wenn die Deutschen wohl etwas von den Demokratien Westeuropas werden aufnehmen müssen, wir unsererseits ebenso etwas aus dem strengen Begriff lernen müssen, den die Deutschen von Staat und Vater- 6 C r o c e , Randbemeikuagen eines Philosophen O I land haben. Es scheint mir, daß dies bereits im Zuge ist, eben infolge des Krieges, um uns der deutschen Übermacht zu erwehren und das höchste Gut, die na- tionale Freiheit, zu erhalten. Ist dem so, so wird nicht alles Übel zu unserm Schaden über uns gekommen sein. Wir werden aus dem Kriege mit einer höheren, ern- steren, tragischeren Empfindung für das Leben und seine Pflichten hervorgehen, wir werden viele Erbärm- lichkeiten unseres politischen Lebens der letzten Jahr- zehnte in seinen Flammen zerstören. EIN VERRUFENES WORT {Critica XIV, De- zember 1915). — Außer dem der Kultur^) (bei dem ich bisher noch nicht einzusehen vermag, weshalb es von diesem Schicksal erreicht worden ist) gibt es noch ein anderes, das ich mit einem Tone, halb Abscheu, halb Verachtung aussprechen höre : Realpolitik. Weiß Gott, was harmlose Leute sich unter dieser fürchterlichen Realpolitik vorstellen mögen! Trotzdem handelt es sich um eine alltägliche Sache. Nehmen wir den Fall, es käme uns jemand, der ganz abenteuerliche Ideen über Ausdehnung und Lage der verschiedenen Länder hätte, über die Bergketten, die Flußläufe, über Meere und Häfen; so werden wir ihm empfehlen, sich ein gutes Handbuch der Erdkunde zu beschaffen, sich über die Geographie der Geographen, die Geographie der Dinge, die wirkliche, nicht eingebildete, die Realgeographie, zu unterrichten. Oder wir haben eine Erörterung mit einem andern, der höchst verworrene und ungereimte Kenntnisse von dem oder jenem ge- schichtlichen Ereignis besitzt : wir werden ihm den Rat *) Die Kursiv gedruckten Ausdrücke sind im italienischen Urtext deutsch angeführt. D. Ü. 82 geben , kritisch verfaßte, auf beglaubigten Urkunden ruhende Geschichtsdarstellungen zu lesen und den Anekdotenkram gegenüber der wirklichen Ge- schichte, AtvReaihistoriographte, beiseite zu lassen. Oder endlich, wenn uns jemand mit der herkömmlichen Salbaderei, wie sie in Unterhaltungen gang und gäbe ist, langweilt, über Philosophie und Nichtphilosophie, Idealismus und Positivismus, Kant, Hegel, Spencer, Schopenhauer; so werden wir dem Geschwätz ein Ende machen und den lästigen Unterredner darauf verweisen, wenn er's vermag, die Bücher der Denker, von denen er faselt, zu lesen, den Versuch zu machen, sich in den Problemen zurechtzufinden, die die Phi- losophen gestellt und gelöst haben, die Philosophie der Kaffeehäuser zugunsten der wirklichen, der Reaiphilosophie, aufzugeben. Ganz ebenso ergibt sich, wenn man über Politik mit völliger Unkenntnis der Interessen und der Kräfte der Staaten, ihrer Zwecke und Mittel, der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, des Unterschiedes zwischen Dingen und Worten, zwi- schen Wollen und Vorgeben reden hört, von selbst die Mahnung, die Politik des Haufens, der Müßiggänger, der Naiven, ja sogar der Literaten und Professoren bei- seite zu lassen und die politische Wirklichkeit oder die wirkliche Politik, die Realpolitik, zu studieren. Diese Formel ist in Deutschland aufgekommen, und zwar nicht zu dem Zwecke, um die politische Weisheit der Deutschen ans Licht zu stellen, sondern im Gegenteil als Bekenntnis und Tadel des geringen politischen Sinnes bei den Gebildeten Deutschlands, so wie er sich nament- lich in den Bewegungen der Jahre 1848—49 und in je- nem vielberufenen Frankfurter Parlament geoffenbart hatte, das die Blüte deutscher Geisteskraft und Wissen- b* 83 Schaft in sich schloß, von den staunenswertesten Reden widerhallte und trotzdem jämmerlich genug wirkte und endete. Man kann nicht leugnen, daß die Kennt- nis der Bedingungen und Interessen der Staaten von da ab in Deutschland außerordentlich zugenommen und daß sie selbst die einstens berühmte politische Einsicht Englands erreicht, vielleicht sogar überholt habe. Auf jeden Fall liegt es auf der Hand, daß die Deutschen , verfolgen sie eine Realpolitik , damit nicht bloß für sich selber sorgen, sondern auch allen übrigen Völkern eine gute Lehre geben: oder wollte man vielleicht lieber eine irreale, eine Phantasiepolitik verfolgen ? Und sollten wir Italiener uns nicht um die politische Erziehung, ich sage nicht unseres Volkes, sondern unserer führenden Klassen bemühen ? Die po- litische Unwissenheit (und in Wahrheit, nicht allein die politische) der italienischen Demokratie ist überaus grof3 ; vielleicht wird sie nicht einmal die sachliche und augenscheinliche Lehre der Ereignisse, die sich jetzt vollziehen, davon abbringen, Bündnisse und Kriege auf Grund von Theorien und Schlüssen zu fordern, denen ähnlich, die Glück gemacht haben (ein Glück, das uns gegenwärtig teuer zu stehen kommt), und die den „la- teinischen Geist" oder die „griechisch-lateinische" Ver- wandtschaft betreffen. Italienische Professoren sind seit einem Jahre umhergefahren, um Vorlesungen über die logische Notwendigkeit eines rumänischen Bündnisses mit den lateinischen Völkern zu halten, auf Grund der Erinnerungen an Trajan oder an das „torna^ torna fratre (Kehr um, Bruder), das 579 in Mösien im Munde eines Soldaten erklang und bekanntlich das älteste Bruch- stück der rumänischen Sprache und eines der ältesten unter allen neulateinischen ist. Nun, diese Geschichte 84 von Trajan und dem neulateinischen Bruchstück ist beispielsweise keine gute Politik, keine Realpolitik! Allein man wird behaupten, die Deutschen hätten die Realpolitik verhaßt gemacht, weil sie von ihnen bedenkenlos, grobschlächtig, in vordringlicher und rüpelhafter Art zur Anwendung gebracht wird, ohne daß sie gewisse Dinge beachten, die gleichwohl nötig sind, um eine wirkliche Realpolitik zu treiben, die nie- mals wahrhaft real sein wird, wenn sie nicht gleich- zeitigideal ist, da tatsächliche Idealität und tatsächliche Realität zusammenfallen. In diesem Vorwurf mag etwas Richtiges liegen. Ein Deutscher ist Deutscher und hat seine Fehler; jetzt übertreibt er um so mehr seinen Rea- lismus, als er sich seiner einstigen Unerfahrenheit entledi- gen zu müssen glaubt. Ich erinnere mich, daß ich vor manchem Jahr einmal im Gespräch mit einem italieni- schen Sprachforscher eine gewisse Theorie, verfehlt in Italien, aber maßlos übertrieben in Deutschland, er- wähnte ; mein Zwischenredner bemerkte mir witzig, der Unterschied zwischen dem Italiener und dem Deutschen sei, was diese Dinge betreffe, derselbe wie zwischen dem Menschen und dem Hunde : der Mensch verspeise das Rippenstück und lasse den Knochen liegen, der Hund verschlinge beides. Die Folge davon wird also sein, daß man Realpolitik wird treiben müssen, so gut als es nur angeht, wenn möglich besser als die Deut- schen : auf der geistigen Höhe, mit der Großherzigkeit und dem gesunden Verstand, die italienischem Wesen eignen, aber auch mit vollkommenster Vorurteilslosig- keit und dem schärfsten kritischen Mißtrauen gegen ge- schwätzige Einbildungen und gleichmacherische Be- strebungen, niit der genauesten, sorgsamsten und man- nigfaltigsten Kenntnis der gegebenen Tatsachen ; derart, 85 daß wir die Psychologie von Belgrad nicht mit der von Mailand verwechseln, die türkischen Parlamen- tarier nicht mit den englischen, Beduinen nicht mit den Männern der „Fünf Tage" (selbst bis zu diesem Tief- stand sind unsere heimischen Demokraten und Sozia- listen gelangt, als sie die Erhebung der Araber von Tripolis gegen die Italiener der dieser letztern selbst gegen die Österreicher im Jahre 1 848 gleichsetzten !) : mithin stets Realpolitik, nicht Phantasiepolittk. Dieses letztere Wort müßte bei uns den Abscheu erregen, den man, zu Unrecht, jetzt gegen das andere an den Tag legt. EIN VERHASSTER NAME {Dezember igis). — Treitschke: Dieser Name ist ebenfalls unsern De- mokraten und Nationalisten in die Feder geraten, die an ihm ihr Mütchen kühlen, als an einem über alle Maßen barbarischen Menschen und Schriftsteller. Und in der Tat, lassen sich Silben in ohrenzerreißenderer Art zusammensetzen! Obgleich, um genau zu sein, Heinrich von Treitschke nicht deutscher, sondern sla- wischer Herkunft war, seiner Heimat nach kein Preuße, vielmehr einem preußenfeindlichen Staat und einer preußenfeindlichen Familie entstammend, als Sohn und Bruder sächsischer Militärs. ArmerTreitschke, du hättest wohl etwas mehr Rücksicht verdient, wenigstens von uns Italienern, wäre es auch nur darum, weil du für kein fremdes Land so viel Zuneigung hattest als für Italien : du betrachtetest ja Italien und Deutschland als die zwei Völker, ^die am längsten leiden und kämpfen mußten, um die Nachwirkungen des Mittelalters ab- zuschütteln, das eine, mit dem fressenden Krebsge- schwür des Papsttums im Leibe, das andere mit dem 86 des Heiligen Römischen Reiches und des Hauses Österreich, seines letzten Vertreters; du hast den Sieg beider über die gemeinsamen Feinde begrüßt! Wohl war Treitschke ein Anhänger Bismarcks, aber noch viel glühender bewunderte er Cavour, dem er 1869 einen prächtigen Versuch widmete, der noch immer zu den gehaltvollsten Schriften zu Ehren des italieni- schen Staatsmannes zählt! Er kannte nicht bloß die Dichter Italiens (deren Worte er gern in seinen Schrif- ten anzieht, Manzoni, Leopardi, Giusti), sondern auch die politischen Schriftsteller — er führt ihre Gedanken an, von Machiavelli bis auf Gaetano Mos- ca — , und war überhaupt für uns wie ein guter Bruder, der seine eigene Familie hat, aber mit frohem Behagen auf die des Bruders sieht. Er verdiente Achtung von allen in allen Ländern, da er ein edles Herz, eine feurige Seele, eher Dichter denn Geschichtsschreiber war, ein klarer, anschaulicher, höchst lebendiger Schriftsteller mit Leidenschaft und Liebe, sittlich unabhängig, auch in seiner Verehrung für die Hohenzollern, so sehr, daß er das Kaisertum Wilhelms des Zweiten in düsteren Farben schilderte und der romantisch-feudal-kauf- männischen Persönlichkeit des neuen Kaisers nicht traute, was ihm dessen Ungnade zugezogen hat. Aber auch in dieser seiner preußisch-deutschen Begeisterung erweckt er keine Abneigung, so sehr ist er offen, red- lich, arglos, zuweilen kindlich. Seine Deutsche Ge- schichte im neunzehnten Jahrhundert ist ohne Zweifel keine wirkliche und wahrhaftige Geschichte (obgleich sie viele ausgezeichnete geschichtliche Bestandteile ent- hält, besonders in den Beschreibungen von Gefühlen und Bräuchen, wie der ganzen Umwelt), sondern ein Er- bauungsbuch, eine Verteidigungsschrift zum Ruhm 87 von Preußens Werk bei der Bildung des deutschen Staates; in derselben Weise wie die Übersicht unseres Balbo, die ihr in mancher Hinsicht ähnelt. Allein er ent- waffnet uns mit seiner Erklärung : „Bei ausländischen Kritikern, freundlichen wie feindseligen, hat der ganze Ton meines Buches Befremden erregt, und ich konnte nichts anderes erwarten. Ich schreibe für Deutsche. Es mag noch viel Wasser unsern Rhein hinabfließen, bis die Fremden uns erlauben, von unserm Vaterlande mit demselben Stolze zu reden, der die nationalen Ge- schichtswerke der Engländer und Franzosen von jeher ausgezeichnet hat. Einmal doch wird man sich im Auslande an die Gesinnungen des neuen Deutschlands gewöhnen müssen." Diese Worte sind als anstößig angeführt worden : aber sind sie nicht vielmehr naiv.? Merkt man darin nicht das mit Verspätung ans Ziel gelangte Volk, das im heißen Bemühen, sich in allem mit den früher ange- langten Völkern auf gleiche Linie zu stellen, auch deren minder löbliche Seiten nachahmt, so wie der Provinzler mit den städtischen Moden auch das Über- triebene und Geschmacklose annimmt.? Der Schrift- steller sagt mit andern Worten : — „Wohl, ich weiß ganz gut, daß die Geschichte, die wahre Geschichte nicht vom deutschen, französischen, englischen Standpunkt aus geschrieben werden kann, sondern von dem der Menschheit, der weiter ist als sie alle ; aber da Fran- zosen und Engländer parteiische Geschichten verfassen und sich an ihnen begeistern, so schreibe auch ich eine parteiische, für das Volk, dem ich zugehöre." — Treitschke macht uns, während er sich seiner vater- ländischen Leidenschaft hingibt, auf seine Zielsetzung aufmerksam und gibt uns die Möglichkeit, sie richtig- 88 stellen und unschädlich zu machen. Kann man einen Menschen dieser Art hassen? Man vermag es sicher- lich nur dann, wenn man niemals seine Werke gelesen hat, und mit der Wut der Unwissenheit die Silben seines „gotischen" Namens wiederkäut. DER STAAT ALS MACHT {Dezember 1915). - Treitschke (in den beiden Bänden seiner Vorlesungen über Politik^ aus dem Nachlaß 1 897 von Cornicelius herausgegeben) muß die Kosten eines Schriftchens von Durckheim bestreiten, das mir eben zukommt: Der deutsche Gedanke und der Krieg (Paris, Colin 1 9 1 5). Durckheim leitet aus jenem Werk die Lehre vom Staat als Macht ab, der kein anderes Gesetz als die eigene Macht kennt, und, nachdem er sie als unchrist- lich und heidnisch verdammt, nachdem er sie mit der sittlichen Lehre, die die Demokratie über den Staat ausspricht, in Gegensatz gestellt hat, steht er nicht an, die geistige Verfassung, von der sie Zeugnis ablegt, für einen „unzweifelhaften Fall sozialer Pathologie" zu erklären, „dessen Ursachen die Historiker und So- ziologen einmal aufzuhellen trachten werden, dessen Vorhandensein festzustellen aber für jetzt genügt". Im selben Geiste ist ein anderes Schriftchen gehalten, das mir zugleich mit dem Durckheims zukommt: Seignobos, Vom Wiener Kongreß bis zum Kriege 1914. Nun sind sicherlich weder Durckheim noch Seignobos mit den französischen und italienischen Demokraten üblichen Schlages und höchst oberflächlicher Bildung zusammenzuwerfen ; beide sind Gelehrte und wissen- schaftlich geschulte Männer. Allein gerade deshalb kann man an ihnen der geistigen (philosophischen, hi- storischen, ethischen, soziologischen etc.) Minderwer- 89 tigkeit besser inne werden oder, wenn man lieber will, der zurückgebliebenen geistigen Form, die vielen Krei- sen der sogenannten lateinischen Länder eignet und leider auch ihre Demokratien beherrscht. Durckheim hat sich gar keine Rechenschaft über die Entwicklung des europäischen Gedankens gegeben, so wenig (man sehe sein Schriftchen S. 20—23), daß er als „heidnisch" und „unchristlich" das ansieht, was ein Erzeugnis des „Protestantismus", das heißt einer Erhebung des christ- lichen Geistes ist, und daß er „Jesuitenmoral" in meiner Auffassung findet, die die schärfste Verneinung des jesui- tischen Legalismus ist : fast in derselben Weise, wie vor Jahren ein anderer Weiser der Demokratie, Gugli- elmo Ferrero, ein Band zwischen jesuitischer und Kanti- scher Sittenlehre entdeckt hat, weil (hört! hört!) beide auf dem „Zweck" fußen — natürlich hat er die Kleinigkeit außer acht gelassen, daß die eine auf die Doppelzüngigkeit, die andere auf die Reinheit der Zwecke gegründet ist. Ebensowenig hat er sich Rechen- schaft davon gegeben, daß die politische Lehre, die jetzt in Deutschland im Umlauf ist — und ich kann nicht müde werden zu wiederholen, daß diese nicht in Deutschland zur Welt gekommen und nicht deutsch, sondern allgemeines Eigentum der Wissenschaft ist — sich über die früher dargelegte Unfaßlichkeit und den innern Widerspruch der demokratischen, vertrags- freundlichen, humanitären Lehre, die Durckheim als etwas Überlegenes erscheint, hinaus entwickelte und festigte. „Man muß den Geist Machiavellis und Bis- marcks verscheuchen" (wiederholt seinerseits Seignobos S. 34). Meint man demnach — wir lassen Bismarck beiseite — der StaatsbegrifF eines Machiavelli sei etwas, das zu verwerfen sei? daß dieser streng sittliche, weil 90 tragisch menschliche Begriff unsittUch sei? daß die ItaUener sich des Grabmals in Santa Croce, das Machia- vellis Andenken verherrlicht, schämen müßten ? „Die Völker müssen durch Volksabstimmungen um ihre Meinung befragt werden" (Seignobos S. 5). Sind die überaus schweren Bedenken nicht wohlbekannt oder sind sie etwa schon widerlegt, die man gegen das System (viel eher eine Vorspiegelung) der Volksab- stimmungen erhoben hat, kraft dessen der Lauf der Weltgeschichte dem Belieben einzelner Gruppen oder geradezu kleinster Minderheiten unterworfen sein müßte ? Selbst angenommen, die Lehre vom Staat als Macht wäre kritisierbar und zu überwinden durch die vom Staat als Recht — diese ist vielmehr schon im achtzehnten Jahrhundert auf den Widerspruch der Po- litiker der guten italienischen Schule gestoßen — ange- nommen, das achtzehnte Jahrhundert vermöchte über das neunzehnte zu triumphieren, so bliebe das doch eine höchst schwerwiegende Frage, die nicht mit Rede- künsten und Gefühlsgründen, sondern durch wissen- schaftliche Zergliederungen und Begründungen, im Bereich der Wissenschaft selbst, zu lösen ist ; und man sieht nirgends, daß die „demokratische Wissenschaft" dies in der Vergangenheit geleistet hätte oder jetzt lei- stete. Die gegnerische Lehre als „pathologisch" hin- zustellen, will wenig besagen; und die Berufung auf das Christentum, die jetzt bei den Freimaurer-Demo- kraten im Schwange ist, läßt den Zweifel erstehen, ob diese Berufung sich nicht eher als an das tiefe welt- schmerzlich durchwühlte Christentum, an das katho- lisch-scholastische wendet — daher die Zärtlichkeit von heute zwischen den Freimaurern der Göttin Gerechtig- keit und den Scholastikern vom Schlage des Kardinals 91 Mercier, die beide an der gleichen geistigen Greisen- haftigkeit leiden ! In Italien, in England, in Frankreich selbst haben in den letzten Jahren nicht wenige Den- ker daran gearbeitet, diese Überreste des Intellektua- lismus, des abstrakten, scholastischen und Enzyklopä- diewesens beiseite zu räumen ; selbst das Glück, das die marxistischen Lehren gemacht haben, rührt zum be- trächtlichen Teile von der kraftvollen Auffassung des Lebens als eines Kampfes her, der ihnen innewohnt, nicht sowohl eines Kampfes zwischen dem Geist des Guten und des Bösen, als gerade eines Kampfes, den das Gute mit dem Guten führt, um zu einem höheren Guten aufzusteigen. Aber dieser kritischen Gedankenströmung war es noch nicht gelungen, die politische Bildung 6^es westlichen Europa zu durch- dringen und umzugestalten ; der Krieg hat sie in ihrem Beginn überrascht, und ihre Arbeit wird erst später zum Abschluß gelangen. Wäre sie wirklich von den einsamen Forschern oder aus dem Kreise der Philo- sophie in die Werktätigkeit des Lebens getreten, so hätte Deutschland nicht gewagt, dem demokratischen Europa den Krieg zu erklären, oder es wäre gleich zu Anfang auf ernste Hindernisse gestoßen. Es hat ihn aber gewagt, weil allzuviele, in Frankreich und ander- wärts, nach Art der Professoren Durckheim und Sei- gnobos faselten ; deren Namen ich, nebenbei gesagt, in einem Buche angestrichen finde, das mir sein Verfasser einige Monate vor dem Krieg, im März 1914, zu- gesandt hat (A. SECHE, Le desarroi de la coscience frangaise^ Paris, Ollendorff, S. 284), und zv^ar unter denen der französischen Hochschullehrer, die ein ver- derbliches Beginnen ins Werk gesetzt hätten, indem sie den Pazifismus, Internationalismus und Antimili- 92 tarismus predigten und das Vaterlandsgcfühl in den Herzen der Jugend vernichteten oder schwächten! Deutschland hat es gewagt, weil es sich bewußt war, mit weniger unterrichteten und weniger einsichtigen Männern aus politischen Kreisen als den seinen zu tun zu haben; und hätte dies nicht unternommen, wenn seine Gegner nicht bloß militärisch, sondern auch sitt- lich und geistig wachsam gewesen wären. Denn (wie ich oben von der Realpolitik gesagt habe) es scheint mir seltsam, — wenn es sich nicht um einfache Heu- chelei oder eine rhetorische Übung handeln sollte — einen Staatsbegriff zu verwerfen, der nicht sowohl ein „Fabriksgeheimnis" für das Gedeihen Deutschlands, als ein allgemeiner Leitsatz, gleichermaßen für alle Staaten nützlich, ist und der allen Staaten die „Macht" und nicht die „Unmacht" empfiehlt: die Anspannung aller ihrer Kräfte, um die andern zu der gleichen Kraftäuße- rung an Leben zu zwingen, zum «Vorteil der Mensch- heit, die allein durch Arbeit und Mühen vor Tod und Fäulnis gerettet wird. Was anderes haben wir Italiener gewollt, als wir in den Krieg eintraten, denn Vorsorge zu treffen, daß die „Macht" unseres Staates nicht ge- mindert, vielmehr vergrößert werde.? Ich weiß recht wohl, daß die salbungsvollen Demokraten anstatt dessen verlangten, was sie jetzt ausschreien, daß wir den Krieg führen müßten, um die Gerechtigkeit im Streit der Völker zum Siege zu bringen. Allein, ich erlaube mir zu denken, daß niemals ein Volk über das andere Ge- rechtigkeit übt, sondern Gott oder jener Gott, der die Geschichte ist, über sämtliche Völker; und ich meine, daß die Italiener hinlänglich Geistesschärfe besitzen, um nicht Pflichten auf sich zu nehmen, die die menschliche Kraft übersteigen und darum der Lächer- 93 lichkeit verfallen : ganz so wie die Deutschen lächer- lich werden, wenn sie davon reden, die Sittlichkeit in der Welt wieder herstellen und „züchtigen" zu wollen. Und sind wir etwa nicht in den Krieg getreten, indem wir uns aus einem alten Bündnis lösten, das wegen der Mängel, die es an sich trug und wegen der ge- änderten Voraussetzungen unsere „Macht" bedrohte? Gerade weil die Lehre, die jetzt mit dem Namen ihrer neuen Verkünder und Förderer „deutsch" genannt wird, in Wirklichkeit aber von dem ersten großen, gegen das Mittelalter gewendeten Politiker, von dem Italiener Machiavelli herrührt, die wahre Lehre ist, dürfen wir über das Wort „Verrat" lächeln, das uns jetzt da und dort — so weit es die dürftige Kenntnis, die uns die Zensur von den deutschen Zeitungen zu nehmen erlaubt, zuläßt — aus Deutschland entgegen- tönt ; lächeln, und die Deutschen ersuchen, ein anderes Register zu ziehen, da dieses kreischend und falsch klingt. ZUM BESSERN VERSTÄNDNIS {Dezember 1915). — „Also", wird man sagen, wenn man dies liest, „Ihr seid für Deutschland und die deutsche Kultur?" Ich könnte darauf wie der Abbe Galiani antworten, den man in der Hitze des Gefechts fragte, ob er im Grunde für oder gegen die freie Ausfuhr des Getreides sei: „Ich bin für keines von beiden. Ich bin nur dafür, daß man nicht Dummheiten redet. Die Ausfuhr des ge- sunden Menschenverstandes ist das einzige, was mich ärgert!" {Dia/ogues, S. 12.) Was soll es heißen, für oder gegen die deutsche Kultur zu sein? Die deutsche Kultur, so gut wie die französische, die englische, die italienische ist das, was sie ist, und keine von ihnen verkörpert voll- 94 ständig das menschliche Ideal, wäre es auch nur aus dem einfachen Grunde, daß das Ideal stets das ist, was nicht vorhanden ist, nicht das, was da ist, die Zukunft, nicht die Vergangenheit, das zu Schaffende, nicht das Geschaffene. Nichts von dem, was da ist, kann genügen, und in jeder geschichtlichen Formel des sozialen und Kulturlebens empfinden wir Mängel und Widersprüche. Ich habe auch nicht auf den Krieg gewartet, um dar- auf hinzuweisen oder zu behaupten, daß Deutschlands Philosophie der letzten achtzig Jahre nur mittelmäßig ist; daß seine Wissenschaft sich gern die Industrie zum Vorbild nimmt, in der mechanischen Arbeitsteilung und dem mechanischen Aufreihen der Ergebnisse; daß sie allzu oft von nationalen Grillen gestört wird; daß in der politischen Psychologie der Deutschen die zynische Art, wie sie Bismarck zur Schau trug, üble Wirkungen her- vorgebracht hat; und so fort. Es sind das Dinge, die ich des öftern in dieser Rundschau und anderwärts habe drucken lassen, in ruhigen Zeiten, als noch kein Verdacht leidenschaftlicher Parteinahme aufkommen konnte, und wenn jemand dessen nicht mehr eingedenk wäre, so bin ich bereit (mit Verletzung meiner Bescheiden- heit), in einem der nächsten Hefte eine Blumenlese meiner einschlägigen Aussprüche zu bieten, die mich in den Stand setzen würde, im Stil des Danteschen Teufels auszurufen: „Du hast wohl nicht gedacht, daß ich ein Deutschenfeind sei?" Aber was sollen mir diese Verwahrungen, unnütz für die, die mich kennen, und in anderer Art, aber ebenso unnütz für die, die mich nicht kennen ? Es ist freilich wahr — um bei unserem eigentlichen Gegenstand zu bleiben — daß ich auch dort, wo die Genialität fehlte und das Schulfuchsentum über- wog, immer die Gewissenhaftigkeit und redliche Arbeit 95 der deutschen Bücher bewundern mußte, die gewöhn- lich — und das ist ein großer Vorzug! — so mittelmäßig sie auch sein mögen, dennoch die Schwere der Probleme besser empfinden lassen als die leichtbeschwingteren anderen Schrifttums. Ich will es jetzt auch nicht einmal unternehmen, dem von den Leidenschaften und mannigfachen Interessen verzerrten Bild Deutschlands dessen wahres Bild entgegenzustellen ; denn, würde ich mich auf dieses Gebiet begeben, so würde ich mit Not- wendigkeit in das Amt des Verteidigers, sei es auch mit redlicher Absicht, gedrängt werden, und seit einiger Zeit findet mein Gemüt und mein Geist nur mehr daran Freude, die Dinge sachlich zu betrachten, nach ihrem systematischen Orte, im Zusammenhang ihrer Ent- wicklung, fern von jedem Geiste der Für- oder Wider- spräche. Was ich allein verteidige, das sind einige Be- griffe, die ich mißverstanden, nicht verstanden oder mit unterlegenen Begriffen bekämpft sehe; es sind einige Verhaltungsarten in Arbeit und Forschung, die ich für wertvolle. Errungenschaften, von Italien und für Italien gemacht, halte, Errungenschaften, die eifersüch- tig gewahrt werden sollten. Lange Zeit haben deutsche „Wissenschaft", deutsche „Methode", deutscher„Ernst" und deutsche „Genauigkeit der Darstellung" den ita- lienischen Forschern als Panier gegolten, zugleich als Waffe, deren sie sich untereinander im Kampfe bedient haben und mit der sie die Dilettanten, die Faulen, die Stegreifdichter, die Pfuscher aus ihren Kreisen fern- hielten; Deutsch zu können und durch das Lesen und das Beispiel der deutschen- Bücher sich auf der Höhe der wissenschaftlichen Bewegung zu halten, war das Mittel, um die italienische Wissenschaft zu „entprovin- zialisieren", sie zu erneuern und mit europäischer Kultur 96 zu durchdringen. Unter denen, die jetzt gegen das „ger- manische" Pedantentum losziehen und die „lateinische" Genialität preisen, sehe ich allzuviel wohlbekannte Ge- sichter des wissenschaftlichen und literarischen Pöbels und „Halbweltwesens"; allzuviele, die sehr froh wären, könnten sie nunmehr nach Bequemlichkeit handeln und obendrein auf billige Weise die Lorbeeren des besorg- ten Vaterlandsfreundes verdienen; vor diesen und gegen sie pflanze ich das Banner der „deutschen Methode" auf und ergreife deren Waffe. Es mag das ein „Symbol" sein, aber ich glaube, daß es gefährlich, unpatrio- tisch, das heißt schädlich für Italien wäre, sich seiner jetzt zu entledigen. Und ich werde es bloß dann bei- seite legen, wenn es möglich sein wird, es mit einem andern Sinnbild von gleicher Wirksamkeit zu vertau- schen: jenem der „italienischen", „französischen", „eng- lischen", meinethalben auch „japanischen" Methode. Nur sind Symbole ein Ergebnis der Geschichte, sprießen aus freien Stücken wie die Wörter und Spruchweis- heiten, und es ist nicht möglich, sie nach Gutdünken zu vertauschen; so wäre auch „italienische" oder „fran- zösische Methode" eine farblose, willkürliche Phrase, die niemanden überzeugen würde. Nicht ich, sondern die „Lateiner", insbesondere die Italiener sind es, die fortwährend sich selbst angeklagt haben, es fehle ihnen an „Disziplin", und die den Ruf oder wenn man lieber will, die Legende des deutschen „Fleißes" und „metho- dischen Wesens" geschaffen haben. Wie sollen ich oder andere nunmehr mit einem Schlage zunichte machen, was unsere Ahnen in der niemals unterbrochenen Folge ihrer Urteile, im Laufe mehrerer Jahrhunderte auf- erbaut haben.? Nehmen wir immerhin an, diese Urteile seien jetzt zu Vorurteilen geworden; aber selbst diese 7 C r o c e , Randbemerkungen eines Philosophen 97 verleihen den „Symbolen" Glanz und Kraft, mindestens durch eine lange Zeitspanne, nachdem die Dinge sich mehr oder weniger verändert haben. Wenn wir Italiener durch ein ganzes langes Jahrhundert ein „methodisches Wesen", das besser als das deutsche ist — dergleichen liegt ja im Bereich der Möglichkeit — aufgestellt und geübt haben werden, wird es uns gar keine Anstrengung kosten, um in dieser Hinsicht in den Ruf von Vorbildern zu kommen und sprichwörtlich zu werden, sowie wir es für eine Reihe anderer Dinge gewesen sind oder noch sind. Gegenwärtig aber zeigt das Bemühen, auf einmal Symbol und Fahne zu wechseln, lediglich die Nichtig- keit dieses Vorhabens. NUTZEN DER POLEMIK {Critica XIV, Fe- bruar igi6). — Wie auch andere urteilen mögen, die Polemik, die ich mit diesen Randbemerkungen gegen das Hirngespinst der abstrakten Gerechtigkeit verfolge, scheint mir nützlich und der Fortsetzung wert. Jenes alte Hirngespinst, im Juli 19 14 neu herausgeputzt, könnte man als einen Götzen der Einbildung hingehen lassen, als durch die Wirkung des Kampfes selbst er- zeugt und mit ihm vergehend : wenn man nicht im Eifer der Beteuerung, unsere Sache sei die der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Zivilisation, Gefahr liefe, sich an den Gedanken zu gewöhnen: unsere Sache sei jedenfalls in gute Hände (in die Hände Gottes) gelegt, und die Vor- teile, die die Gegner erringen können, seien nichts anderes als Teufelswerk. Eine höchst bedenkliche Gemütsver- fassung, die man um des großen aus ihr erwachsenden Schadens halber mit allem Nachdruck bekämpfen muß. Zuerst glaubte ich, daß im Verlauf des gegenwärtigen Krieges weder Gelegenheit noch Zeit zu einer solchen 98 Richtigstellung gegeben wäre; dann aber, als dieser immer verwickelter und zäher wurde, und die Tech- niker Muße hatten, neue Arten von Geschützen und Luftschiffen zu erfinden, die Chemiker „Stickgase" zu brauen, sehe ich nicht ein, weshalb der bescheidene Historiker und Philosoph nicht auch seinerseits mit- arbeiten sollte, so gut er's vermag, und Unterstützung durch „aufklärende Begriffe" zu bringen, das heißt, durch Erwägungen, Richtigstellungen und Theorien, die er für praktisch wirksam erachtet, um Täuschungen zu beseitigen, leere Redensarten und Geberden unnötig zu machen und den gebotenen Weg zu weisen. SITTLICHKEIT DER LEHRE VOM STAAT ALS MACHT {Februar igi6). - Es ist gut, noch ein- mal kurz auf diesen Punkt zurückzukommen: Die Lehre vom Staat als Macht und vom Leben des Staates als eines Kampfes ums Dasein rechtfertigt in nichts den Abscheu, den furchtsame Seelen vor ihr empfinden, es sei denn, man würde auch einen unerbittlichen Lehr- satz der Arithmetik oder einen der politischen Wirt- schaftslehre, das heißt, eine wissenschaftliche Aufstel- lung als abscheuerregend ansehen. Um die Sache kurz und in volkstümlicher Ausdrucksweise zu sagen, die Geschichte (und ebenso die Logik des Lebens selbst) zeigt, daß die Staaten wie sonstige gesellschaftliche Ver- bände fortwährend um die Erhaltung und das Gedeihen der besten Form in einem Kampf auf Tod und Leben stehen; und einer der akuten Fälle dieses Kampfes ist eben der, den man Krieg nennt. Bricht dieser aus — und ob dies geschieht oder nicht, ist ebensowenig sitt- lich oder unsittlich als ein Erdbeben oder irgendeine andere Erscheinung des Erdsystems — so haben die Be- 99 standteile der verschiedenen Gruppen keine andere sitt- liche Pflicht als die, sich zur Verteidigung ihrer eigenen Gruppe zusammenzuschließen, zum Schutz des Vater- landes, um den Gegner zu unterwerfen, seine Macht zu beschränken oder um ruhmvoll zu unterliegen, indem sie den Keim für künftige Gegenschläge legen. Nur in dieser Weise ist das Einzelwesen im Recht, obgleich auch sein Gegner ebenso im Recht ist; und ebenso wird für eine mehr oder weniger lange Zeit die Ordnung, die sich nach dem Kriege bildet, im Recht sein. Ich glaube nicht, daß der gesunde Sinn des Volkes jemals die Kriege in anderer Weise aufgefaßt hat — der Volksglaube be- trachtet sie als „Züchtigungen Gottes", um die Men- schen zu „bessern" — ; und nur eine falsche Ideologie, ein Trugschluß, schlechter Literaten würdig, kann sich herausnehmen, diese einfachen, strengen Begriffe durch die Ideologie von Recht und Unrecht, von gerechtem und ungerechtem Krieg ersetzen zu wollen. Es ist das ein Trugschluß, ganz ähnlich dem vielverspotteten der scholastischen Wirtschaftslehrer, die sich vermaßen von vornherein, außerhalb des Wettbewerbes und des Mark- tes das iustum pretium, den angemessenen Kaufwert festzusetzen, den bloß Wettbewerb und Handel be- stimmen. Wäre es möglich, von vornherein Recht und Unrecht festzustellen, von vornherein die Ordnung zu finden, der die Völker von Fall zu Fall sich fügen müßten, um das Werk der Zivilisation zu erfüllen, so verhandelten noch heute Rom und Karthago um ihre wechselseitigen Rechte: ja die Römer müßten noch immer um ihre Grenzen und ihr gegenseitiges Vor- gehen mit den Sabinern, den Fidenaten und Vejentern im Streite liegen ! lOO DEUTSCHER FREIMUT {Februar igi6). - Die deutschen Theoretiker haben, die ÜberUeferung der itaHenischen PoHtiker aufnehmend (kaum unterbrochen im achtzehnten Jahrhundert von der „exotischen" fran- zösischen Schule der Enzyklopädisten), die Lehre vom Staat als Macht in ihren logischen Folgerungen zur Geltung gebracht, und man kann sie sicherlich jedes andern zeihen, nur nicht der Gleisnerei. Ich v^^ill da- von eine neue Probe geben, anläßlich eines geschicht- lichen Ereignisses, an das in diesem Kriege des öftern erinnert v^orden ist, der Verletzung der dänischen Neu- tralität durch England im Jahre 1807, v^ährend des Kampfes mit Napoleon. In englischen Zeitschriften konnte man unlängst lesen, daß die Engländer noch jetzt das damals von ihnen gegen das Völkerrecht be- gangene Verbrechen beklagten : es sind das Tränen, die vor allen andern mit dem Namen des heiligen Nilbew^oh- ners bedacht zu w^erden verdienen, denn die Engländer haben von jenem Verbrechen Vorteil gezogen und ge- nießen ihn noch heute. Wohl aber haben ihnen die deutschen Historiker schon die Taschentücher geliefert, um ihre strömenden Zähren zu trocknen, und jenen Zw^ischenfall der englischen Geschichte dargelegt, ohne ihn zu verurteilen, ja sogar seine Rechtfertigung ge- geben. „England hatte auf die Tilsiter Friedensanträge (wird in einem in den Schulen Deutschlands w^eitver- breiteten Handbuch, der Geschichte der Neuzeit von Schäfer, gesagt) eine Antw^ort gegeben, die an Deutlich- keit nichts zu v\rünschen übrig ließ. In den Tagen vom 2. bis 5. September 1 807 hatten, da Dänemark ein Bündnis verv^eigerte, seine vereinigten Land- und Seestreitkräfte Kopenhagen bezw^ungen, die ansehnliche dänische Flotte mit allem Zubehör genommen und hinw^eggeführt. Es lOI \ war eine Tat, die oft genug als brutaler Bruch des Völker- rechts gebrandmarkt worden ist und das auch verdient. Aber sie war doch eine richtige Antwort auf die Tilsiter Friedensheuchelei. Dänemark hatte sich nicht unähn- lich den preußischen Hoffnungen in Neutralitätsträumen gewiegt, es war, wenn es Partei nahm, je nachdem, zu Land oder zur See, Gefahren ausgesetzt, und in der Neu- tralitätsstellung blühte die dänisch-norwegische Schiff- fahrt erfreulich empor. Es hatte nicht erkannt, daf3 diese Stellung unhaltbar geworden, seitdem Napoleon Danzig, Stettin und Stralsund beherrschte und den Zaren seinen Freund nannte. Konnte England ruhig zusehen, daß auch der Sund mit Dänemarks wertvoller Flotte in Frankreichs Hände falle und ihm die Ostsee, der Weg zu den V^orratskammern seines Schiffbau- und Getreide- bedarfs geschlossen werde.? Das eingeschlagene Ver- fahren lag in den Grenzen der Gepflogenheiten, zu denen England mehr als einmal seine Zuflucht genommen hat, wenn es glaubte, Lebensinteressen verteidigen zu müssen; am wenigsten hatte aber ein Napoleon, der geniale Meister der Gewalttätigkeit, recht, Klage zu erheben. Seine Scharen standen bereit, das auszuführen, worin England ihm zuvorkam." Es bestätigt dies, was ich ein andermal ausgesprochen habe: daß die in Deutschland vertretene politische Lehre ausgesprochen wissenschaftlicher Natur ist; nicht zugunsten Deutsch- lands allein ersonnen, sondern zu jedes beliebigen andern Staates in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Alles dreht sich darum, daß man die Fähigkeit besitze, daraus Vorteil zu ziehen, das heißt, aus der Wahrheit Vorteil zu ziehen. I02 SITTLICHER TIEFSTAND DER LEHRE VOM STAAT ALS RECHT {Fe^ruari9i6).-Nicht das gleiche könnte ich von der seraphischen Lehre vom Staat als Recht sagen, mag sie auch in einem verführe- rischen Licht erscheinen, gerade darum aber 'auch als ein tückischer Spiegel von Vogelstellern ; sie dient (und hat immer gedient), um die besondern Ziele der Einzel- wesen und der Staaten zu verdecken, v^ährend man sich über die andern hinwegsetzt, die man, bevor man sie mit der Tat vergewaltigt, mit einer trugvollen und un- billigen Anrufung der Gerechtigkeit zu verwirren, in Verruf zu bringen und zu schwächen sucht. Auch da- für will ich ein Beispiel anführen, aus jener französischen Rundschau, dem Mercure de France^ geschöpft, aus dem ich in den letzten Nummern einige Worte des Beifalls und der Unterstützung meiner Äußerung in der Cri- tica angeführt habe. Allein wie steht die Sache nun? Seit einigen Heften hat der Mercure einen andern Ton angeschlagen, die italienischen Zeitberichte unterdrückt, aufgehört an der Lehre von der Macht etwas Gutes zu finden und die Ungereimtheiten, die über die deutsche Wissenschaft umlaufen, zu tadeln; er läßt vielmehr jetzt die Lehre vom Staat als Recht in stolzer Einsamkeit aufleuchten, und siehe, da stellt sich auch sofort die An- wendung dieser geheiligten Lehre ein, natürlich nicht auf Kosten Frankreichs, sondern Italiens: „Wenden wir den Grundsatz der Völkerbefragung an, wie wir es tun müssen, denn er ist der Untergrund unseres sitt- lichen Seins, so müßte Italien sich jeder Einverlei- bung enthalten: selbst in Triest und Fiume hat der italienische Bestandteil kaum die Mehrheit . . . Aber unsere lateinische Schwester hat auch ihrerseits ihre ge- schichtlichen Erinnerungen, deren Gewicht sie vorwärts 103 treibt, und sie möchte das alte Gebiet der Republik Venedig erwerben : sie möchte sogar endgültig Valona, am Eingang des Kanals von Otranto, besetzen, obwohl es ihr niemals gehört hat . . . Lassen wir nicht alle Hoffnung fallen, daß sie sich mäßigen und die Rechte der andern berücksichtigen werde . . ." {Mer eure de France^ i. Jänner 191 6, S. 164/5.) Das sind also die Folgen, wenn man die Politik nach Art der Lehrbücher für die Unterklassen auffaßt und die Staaten wie ebenso viele Häuschen oder Fritzchen behandelt, denen man ihr Abendsüpplein gibt und sie zu Bett schickt! Ist nun diese ölige Lehre vom Staat als Recht kein hinterlistiges Werkzeug für die eigenen Ziele, was ist sie dann? Nichts anderes als ein geschwätziger Trost für den Schwachen und Besiegten. „Es liegt etwas Erniedrigendes, Sklavenmäßiges darin, hartnäckig zu wiederholen, eine Sache müsse vorhanden sein, weil sie gerecht sei", schrieb Maurice Barres vor Jahren (ich weiß nicht, was er jetzt schreibt) in ^ointn Amities fratifaises. Ist sie aber nicht einmal dies, — weder Klageruf von Besiegten, noch Hinterlist von Politikern — , ist sie reine Theorie ohne versteckte Absichten, läßt sie sich wenig- stens dann für etwas Achtungswertes halten? Nicht ein- mal dann, da sie vom wissenschaftlichen Standpunkt aus immer eine Torheit bleibt. WOMIT SICH ITALIENISCHE PROFESSO- REN MÜHEN {Februar 1916). - Die italienischen Universitätsprofessoren haben sich in vielen Bemühun- gen, die den Zwecken des Krieges dienen sollten, ver- sucht; nach meinem bescheidenen Dafürhalten hätten sie sich diese ersparen können. Hier einiges davon. 104 Eine Gruppe von Professoren hat ihren Kollegen vorgeschlagen, eine Vereinigung zu bilden „zum geist- lichen Beistand der Nation" ; und ich glaube, daß dieser Vorschlag irgendwie in die Tat umgesetzt v^orden ist, das heißt, daß ein Verein (mit Vorsitzendem, Stellver- treter und Schriftführer) ins Leben trat, von dessen Wirksamkeit freilich noch niemand etwas gehört hat. In der Tat ist der Gedanke „den Seelen beizustehen" ein Priestergedanke; er stößt nur auf die nicht geringe Schwierigkeit, daß, wer das Bedürfnis nach einem sol- chen Beistand fühlt, sich lieber gleich an den Priester selbst wendet, dessen Gestalt ihm von Kindheit auf in solchem Amte vertraut ist. Mit einem Professor am Kopfkissen zu sterben, der einem seine Gedanken ins Ohr flüstert — nein, das lieber doch nicht! Andere haben sich darauf geeinigt, in ihren Antritts- reden zum akademischen Jahr oder zu ihrem Sonder- kurs die dauernde Zivilisation der Romanen gegenüber der dauernden Barbarei der Germanen zu verherrlichen. Da aber dieses Unternehmen unsinnig ist, so ist's kein Wunder, daß die für diesen Zweck aufgesetzten Reden mit verkehrten Darlegungen, entstellten Angaben, häufig auch mit sehr ergötzlichen Schnitzern gespickt sind. Man stelle sich vor, daß ich selbst in einer der besten solcher Art, herrührend von einem gelehrten Mann mit vornehmem Empfinden, dieses wundersame Gesetzlein gefunden habe: „Lange bevor die Deutschen von Kant gelernt hatten, die Lehren der reinen Vernunft mit der praktischen Vernunft zurechtzumachen, hatte die Natur allen Gewalttätern Lügen, Trugschlüsse und Vorwände gelehrt, um wenigstens in ihren Augen alle Arten von Schurkenstreichen zu entschuldigen." (Eröffriungsrede des Prof. Patetta zum akademischen 105 Jahr an der Univ. Turin, in der Riforma Sociale, XXXI, 845.) Andere richten wieder ihre Polemik im besondern gegen Hegel, eine um so gefahrlosere und heftigere Polemik, da sie durch die Kenntnis dessen, was kriti- siert werden soll, keine Hemmung erfährt; gerade so wie der ältere Dumas behauptete, die erste Bedingung, um ein Land gut zu beschreiben, sei die, es niemals ge- ,sehen zu haben. — So werden in einer andern Antritts- rede Dialektik und Idealismus vernichtet als „lügen- hafte", „hinterlistige", „erschreckende", „abscheuer- regende", „unmenschliche" und „zynische" Philo- sophie; und aus der Gegenüberstellung dieser falschen Philosophie mit der wahren und dauernden, derjenigen, die aus den erhabenen Grundsätzen von 1789 leuchtet, ist „philosophisch unser Endsieg hergeleitet". In der Nuova Antologm (Heft vom 1 6. Sept. 1 9 1 5, S. 224) habe ich gelesen: „Nicht wenige freie Geister des freien Deutschland erheben mächtig ihre Stimme gegen den Philosophen (Hegel), der die Gewaltherrschaft (!) durch einen Weisheitsgedanken wappnete; allein diese hat durch die hundertjährigen Auskunftsmittel der Be- stechung (!) und der Verfolgung Deutschland das Hegel- tum aufgedrängt, und hierauf in bewußter Tätigkeit (!) dessen Ausfuhr (!), begleitet von Schutzzöllen (!) in alle jene Länder eingeleitet, dazu ausersehen, das organisato- rische Genie des im Frieden triumphierenden Deutsch- lands zu bewundern." Eine Gedanken verfilzung, von der ich die Hände lassen will, nur daß ich aussprechen möchte, daß die Hegeische Philosophie in Österreich (wo vielmehr die gegensätzliche Philosophie Herbarts Glück gemacht hat) niemals Anhänger hatte und daß sie seit mehr als einem halben Jahrhundert einer ge- 106 wissen Mißachtung und Vergessenheit anheimgefallen ist— der Alldeutsche Houston Chamberlain ist ein großer Verächter Hegels— so daß erst in den allerletzten Jahren dort wieder ihr Studium in Aufnahme gekommen ist, ganz besonders als Widerhall der Arbeiten eini- ger italienischer und englischer Forscher! Wieder andere erheben den Kampfruf für die Be- freiung des italienischen Denkens vom deutschen Joch. Nur schade, daß sie fast alle bis zum Tag des Kriegs- ausbruches zu den sklavischesten Anhängern der deut- schen Forschung gezählt haben: so sehr, daß ich von einem unter ihnen, der jetzt am meisten um sich schlägt, in meiner Bücherei ein vor Jahren in Neapel gedrucktes Werkchen besitze, über den Einfluß Dantes (wohl- gemerkt Dantes!) in Spanien (wohlgemerkt in Spanien !) auf deutsch geschrieben, und in dem sogar die höchst neapolitanische Offizin des Universitätsdruckers — sie stellt meine Geduld gewöhnlich durch ihre elenden Ab- züge auf die härteste Probe — deutsch vermummt ist: Neapel. A. Tessitore und Sohn. Druckerei der K. Uni- versität! Knechtsinn gegenüber der Mode von damals, Knechtsinn gegenüber der Mode von heute; die Rech- nung stimmt genau. Wer aber, gleich mir, damals nicht knechtisch gesinnt war, wird, dank einer geistigen Un- abhängigkeit, jetzt dazu veranlaßt, die deutsche For- schung in Schutz zu nehmen. Und auch da geht die Rechnung glatt auf. Noch andere wollen dazu beitragen, einen „intellek- tuellen" Bund zwischen Italien und Frankreich, wohl auch mit England zu stiften, als wenn die Männer, die auf dem Felde des Gedankens und der Wissen- schaft tätig sind, sich jemals durch geschicktes Reden von Handlungsreisenden für diesen oder jenen Erzeuger 107 gewinnen ließen (etwas, das dank dem Wettbewerb zwischen den Erzeugern und dem Eifer der feindlichen Handelsangestellten nicht einmal auf wirtschaftlichem Felde gelingt) und nicht vielmehr ihre geistigen Hilfen frei dort suchten, wo sie wissen, daß sie zu finden sind, in Deutschland ebenso gut wie in Frankreich, im Morgenland wie im Abendland; für die Alltance de la culture latine hat sogar Herr Charles Benoist in der Nuova Antologia (V. Heft, i6. Dez. 191 5) das Wort ergriffen, der vor etwa zwanzig Jahren bei uns als Be- leidiger Italiens einen Sturm entfachte. Jetzt aber macht er es noch schlimmer; wenn er, zum Beispiel, von einem italienischen Buche spricht, das er vor kur- zem gelesen hat, sagt er, der Verfasser desselben zeige sich, nachdem er im analytischen Teil (!) ganz sich prächtig erwiesen habe, plötzlich, von der deutschen Me- thode verführt, ,,ergriffen von der verderblichen Sucht, ein riesenhaftes E)enkmal zu errichten ; er breche sich das Genick an diesem Gerüste, aus dem Objektivismus in den Subjektivismus taumelnd. Das Ergebnis war, nach Voltaires Wort, Metaphysik, denn die Hörer verstanden ebensowenig mehr wie der Redner sich selber". Herr Benoist hat keine Ahnung davon, daß die italienischen Forscher gerade, um dieser platten Art des Urteilens, die einmal in den französischen Büchern herkömmlich war, auszuweichen, sich — der deutschen Wissenschaft in die Arme geworfen haben. Andere endlich haben einen kürzern und praktischem Weg eingeschlagen, indem sie an ihren Fakultäten Tagesordnungen für die Entfernung dieses oder jenes deutschen oder österreichischen Kollegen von seinem Lehrstuhl veranlaßten, der seit vielen Jahren ehrenvoll zum Nutzen der italienischen Studierenden gewirkt 108 hatte ! Darüber will ich nun kein Wort verlieren, denn so sehr es mir vernünftig erschienen vv^äre, vor dem Kriege die Abschaffung der gesetzlichen Bestimmungen zu fordern, die in den ersten Zeiten des geeinigten Italiens die Berufung ausländischer Lehrer zuließen, so w^enig großherzig dünkt es mich, jetzt diese Forderung zu erheben, so wenig würdig, sie mit persönlichen Spitzen zu versehen. Ich will diese Aufzählung nicht fortsetzen, und werde dies vielleicht ein andermal tun, möchte jetzt aber nur im Vorbeigehen auf die Verzückungen hinweisen, in die Professoren und Zeitungsschmierer über den „ Stil " der Kriegsberichte des Generals Cadorna geraten sind : einen „starken neuen Stil" [forte stilnuovd), wie gesagt worden ist, (man sehe daraufhin einen Aufsatz imFanfulia dellado- menica von dem früher erwähnten Verfasser von „ Tessi- /'or^i^W*S'(9>^/?"), bestimmt, dem neuen Zeitalter des italie- nischen Schrifttums sein Gepräge zu geben. Ich lasse die Nachforschung nach dem Urheber oder den Urhebern der Prosa jener Kriegsberichte — sie würde vielleicht für Italien die Enthüllung nicht eines, sondern mehrerer „Stilkünstler" bringen — bei Seite ; ebenso die Bemer- kung, daß die einfache und gedrängte Schreibart allen Geschäfts- und Tatmenschen eigen ist, und man mit demselben Recht die neue Literatur von den Tele- grammen, die die Großunternehmer untereinander aus- tauschen, erwarten könnte: Was zeugt aber mehr von schwächlichem Literatentum, von literarischer Ange- faultheit, als den „Stil" von Urkunden zu bewundern, die jedes italienische Herz, angstvoll „Tatsachen" suchend, liest, ohne auch nur zu bemerken, ob sie „Stil" haben? 109 WOMIT SICH DEUTSCHE PROFESSOREN MÜHEN {Februar igi6). — Sündigen die italienischen Professoren in solcher und anderer Weise, tun dies nicht ebenso sehr auch die deutschen? und hat man nicht manchen Hinweis darauf in den Zeitungen gefunden, die beispielsweise die Urteile und die Lehren der Pro- fessoren Kohler und Sombart und Herrn Houston Chamberlains brachten ? Warum also (wird man sagen) richtest du nicht gegen sie etwas von dem Tadel, mit dem du den unsern gegenüber so freigebig bist ? — Vor allem, weil nach Italien jetzt keine deutschen Bücher, Zeitschriften und Tagesblätter gelangen; und man kann nicht wohl etwas bemängeln, dessen genauen Wortlaut man nicht vor Augen hat ; sodaß ein derartiges Unter- nehmen notwendig auf die Zeit nach dem Kriege verscho- ben werden muß, wo dann jeder von uns, dem die Sorge um die Wissenschaft und Wahrheit obliegt, berufen sein wird, über den Gebrauch, den er von dieser Sen- dung gemacht hat, Rechenschaft abzulegen ; und viele, Deutsche wie Italiener, werden dann über das von ihnen Geschriebene erröten müssen, als auf offenkundigem bösem Willen, Lüge oder Verdrehung ertappt; die Deutschen noch mehr als die Italiener, denn wer kennt- nisreicher ist, hat auch mehr Verantwortung zu tragen. Freilich werden wir dann, für die Deutschen nicht weniger als für die Italiener, mildernde Umstände gel- tend machen ; wir werden gegen den früher erwähnten Herrn Houston Chamberlain nicht allzu streng ver- fahren, der trotz des Rufes, den er sich auch in Italien mit seinem dickleibigen Werk: Eiinleitung in die Ge- schichte des neunzehnten Jahrhunderts erworben hat, trotzdem nur ein schwacher Kopf, ein Dilettant schlimmster Gattung, bar allen Sinnes für Wahrheit ist; wir werden Leute verstehen wie Sombart, einen Wirtschaftslehrer, der nicht ohne Verdienst ist, der aber schon in seinen Werken über die Entwicklung des Kapitalismus und über das Judentum die Neigung ge- zeigt hat, mit abstrakten Bestandteilen zu theoretisieren, in einem einzigen Ton zu malen, und fortgefahren ist, England und seine Geschichte in gleicher Weise darzustellen ; was Kohler anbelangt, so werden wir uns erinnern, daß dieser vielseitige Philosoph, Rechtslehrer, Historiker, Dichter, Übersetzer, stets auch in Deutsch- land selbst trotz einer gewissen ihm eignenden Leb- haftigkeit und geistigen Behendigkeit für einen großen Wortmacher und Leichtfuß angesehen worden ist, und daß auch dort viele über seine Verteidigung der welt- lichen Macht und der Autorität des Papsttums als etwas, das ausschließlich den lateinischen Völkern zu- komme und was Deutschland zum Nutzen dieser ewig Minderjährigen unterstützen müßte, gelächelt haben werden. Alles in allem : Was gehen mich gegenwärtig die Ungereimtheiten an, die die Herren Professoren in Deutschland drucken lassen ? Ich wollte, sie sagten zu ihrer Schande und zu ihrem Schaden deren noch viel mehr; wollte aber auch, daß viel weniger von solchen Sachen in meinem Vaterlande laut würde, das mich im Gegensatz dazu sehr viel angeht. EINE FALSCHE ANEKDOTE {CriticaXIKMai igi6). Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, noch ein Blümlein aus einer akademischen Eröffnungs- rede zu pflücken, in der Art derjenigen, von denen öfters die Rede war. Dort lese ich: „Als Georg Hegel voll tiefen Nachdenkens in seinem Hause saß, und um ihn die Kanonen von Jena erdröhnten, zerschlug ein Granat- ili Splitter die Fenster seines Zimmers. Da rief der Philo- soph, unbekannt mit dem, was sich außerhalb des Kreises seiner Mauern und seiner Gedanken zutrug, seine Haushälterin und befrug sie über jene lästigen Geräusche der Außenwelt. Als er aber von Napoleon, von der Schlacht, von den besiegten Preußen, vom Wüten des Todes sprechen hörte, versetzte er: — Das alles geht mich nichts an. Mache Ordnung, damit ich in Ruhe weiter arbeiten kann." (P. Savj Lopez, Neulateiner und Germanen^ EröfFnungsvorlesungen der Universität Pavia, in der Nuova Anto/ogia, i6. Jänner, S. 257). Ist das nicht geistreich.? Freilich von etwas seichtem Geist, obwohl der herkömmlichen Feinheit akademischer Hörsäle nicht unangemessen. Nur ist diese Anekdote nicht, wie der Vortragende sagt : mehr oder weniger geschichthch; sie ist geradezu falsch; falsch als Tatsache, falsch als Sinnbild. Als Tatsache, weil Hegel die letzten Seiten seiner Phänomenologie in der „der Schlacht bei Jena vorangehenden Nacht" vollendet hat, wie er selbst in einem Briefe des folgenden Jahres sagt, in dem er sich wegen der „ Vnform^'- dieser letzten Seiten ent- schuldigt: es ist das eine Einzelheit, die zu dem ab- gebrauchten Bilde über die „beim Donner der Kanonen von Jena" geschriebene Phänomenologie Anlaß gegeben hat und die auf Umwegen, die nicht erforscht zu wer- den brauchen, jetzt seltsam verunstaltet in der von dem italienischen Redner erzählten Anekdote wieder- erscheint ; Gott weiß aus welcher Quelle er sie geschöpft hat. Den folgenden Tag, während der Schlacht, steckte Hegel seine Niederschrift aus Furcht vor' Plünderung oder Brand seines Hauses in die Rocktasche, irrte in Jena umher, und suchte eine Woche hindurch zu erfahren, was aus seinen Freunden in Stadt und Umgebung, 112 darunter auch Goethe, geworden wäre. Der Redner wird sagen, daß er, was ihn anbelange, mit seinem pochenden Herzen nicht imstande gewesen wäre, unter solchen Bedingungen die Phänomenologie zu vollenden ; ich bin bereit, ihm einzuräumen, daß er weder damals noch jetzt imstande gewesen wäre, nicht nur sie nicht zu vollenden, sondern überhaupt anzufangen. Wie dem auch sei, es ist bekannt genug, daß es ein Glück ist, hat man in den größten Aufregungen, in den stärksten Schmerzen eine begonnene Arbeit in Händen, die uns dadurch, daß sie uns in ihre Gedankenbahnen einspinnt und mit sich fortreißt, Zeit und Sorgen überwinden hilft. Falsch ist ferner jene Anekdote, wie ich schon sagte, auch als Sinnbild, denn Hegel war niemals ein von der Welt abgeschiedener Denker, gleichgültig gegen ihre Angelegenheiten, nie ein Mystiker oder ein Buddhist, vielmehr ausgeprägt „politisch", nicht bloß in der Grundrichtung seiner Philosophie (die damit den geraden Gegensatz zu Schopenhauer bildet), sondern auch in seiner besonderen Tätigkeit als Schriftsteller und Publizist; schon 1 798 — um von anderem zu schweigen— hatte er über die Reform der Verfassung Württem- bergs (seiner • Heimat) sich vernehmen lassen, und zwischen 1801 und 1803 eine bewundernswerte Zer- gliederung der Umstände, die Deutschlands politische Ohnmacht herbeiführten, gegeben; er war endlich Tagesschriftsteller, hat bis in seine letzten Lebens- tage über die politischen Aufgaben seiner Zeit nach- gedacht und kräftig an der preußischen Politik der Restaurationszeit mitgewirkt. Allein unser Redner bedient sich des albernen von ihmerzählten Märchens, um bis zu mir herabzusteigen: zu „einem unserer Philo- sophen . . . der etwas ähnliches wiederholt hat, als er 8 Croce, Raiidberkuagea eines Philosophen 11^ die italienischen Forscher ermahnte, während des Krie- ges, als gäbe es keinen Krieg, die gewohnte methodische Arbeit fortzusetzen, und sich vor dem bürgerlichen Fieber zu hüten, das deren Klarheit trüben könnte. Allein wie viele unter uns werden sich bereit finden, dieser Stimme zu folgen, die aus dem eisigen Himmel geistiger Abstraktion zu tönen scheint, fremd jeder Lebenswärme?" Hieraus erhellt, daß der Redner mehr „Lebenswärme" als ich zu haben glaubt — darüber mag er denken wie er will — , aber auch daß er von den Dünsten seiner sprühenden Glut umnebelt, meine Worte nicht verstanden hat; denn diese waren keines- wegs eine Aufforderung an die Forscher, sich den Bürger- pflichten zu entziehen, vielmehr ein Ansporn, nicht müßig zu gehen, die Zeit nicht mit leeren und wenig würdigen Dingen zu vertun, wie es gerade der Miß- brauch der Wissenschaft zu Kampfzwecken ist. Man lasse sich als Soldat einreihen, als Krankenwärter ver- wenden, trage zum Hilfswerk für die Familien der Kämpfer bei, oder zu ähnlichem, je nach Anlage und Möglichkeiten: das sind alles sehr löbliche Dinge; allein man rechne nicht zu seinen bürgerlichen Pflich- ten, alltäglich den Schülern und Lesern Abgeschmackt- heiten vorzusetzen und dem Volk zu verkünden, daß man seine gewohnte Beschäftigung aufgegeben habe und j etzt fromm gesammelt dastehe, um für das Vaterland zu bangen, darauf bedacht, seine lebhaften Kümmernisse den trägen Gemütern der andern einzuflößen. Das nützt nichts und niemandem ; unser Volk ist ruhig und ent- schlossen und hat kein Bedürfnis nach Reizmitteln; im Gegenteil, dieses beflissene Darreichen nicht ver- langter Reizmittel ist vielmehr geeignet, Mißtrauen und Verdacht zu erwecken. 114 GRENZEN DER LEHRE VOM STAAT ALS MACHT [Mai igi6). — Bevor ich zu andern Erwä- gungen übergehe, möchte ich noch die Lehre vom Staat als Macht mit ein paar guten Hammerschlägen befestigen. „Lasse ich eine so schöne Gelegenheit vor- beigehen (sagt Renzo von der Pest in Mailand), so bietet sich mir nicht mehr eine zv^eite der Art!" Nüt- zen wir diesen harten Krieg nicht, um uns von den abstrakt-humanitären Vorurteilen zu befreien und die wahre Lehre vom Staat uns zu eigen zu machen, wann wollen wir klug werden? Es scheint mir aus den vor- ausgegangenen Darlegungen klar hervorzugehen, daß die Politik gleich der Wirtschaftslehre ihre eigenen, von der Sittlichkeit unabhängigen Gesetze hat: und daß nicht sowohl der sittlich handelt, der sich vergebens gegen sie auflehnt, als derjenige, der sie der sittlichen Pflicht unfcirordnend annimmt, beispielsweise für sein Vaterland kämpft : rig/it or wrong, it is my country. Dies — im Vorbeigehen gesagt — bringt eine tiefgehende Richtigstellung von Hegels Lehre mit sich, der noch den Staat und den Kampf um den Staat als der Sittlichkeit „übergeordnet" auffaßte, während die von mir ver- teidigte Lehre ihn sogar als „untergeordnet" auffaßt (wenn auch mit seiner eigenen Beschaffenheit begabt, die die Sittlichkeit anwenden, aber niemals verzerren darf): eine Richtigstellung, die ich nicht erst heute vorschlage (man sehe z. B. meinen Versuch über He gel ^ N. A. von 191 3, Anhang S. 159—162). Forscht man nun nach den Ursachen, aus denen die Lehre vom Staat als Macht oder von der Selbstherrlichkeit der Politik solches Widerstreben auszulösen pflegt, so wird man bemerken, daß eine der stärksten unter ihnen die Furcht ist, es möchte, sobald die Politik von der Sittlichkeit 8* 115 unabhängig gemacht wird, alles erlaubt erscheinen, jede noch so scheußliche Grausamkeit, jeder noch so schmähliche Betrug, jegliche Vergewaltigung, jeglicher Verrat. Aber wer hat jemals behauptet, daß damit alles erlaubt sei ? Gewiß ist alles erlaubt, was zum Siege führt, aber Sieg ist nicht der einfache Augenblicks- erfolg, der wieder verloren geht und bald, wenn er auf üble Weise errungen ist, sich rächt, sondern schlecht- hin der Sieg: das heißt nicht ein einfach äußerlicher und vergänglicher Triumph über den Gegner, sondern ein geistiger und dauernder, ein Triumph der Fähig- keit, Klugheit, Voraussicht, etwas, das dem eigenen Volk und ^ der gesamten Menschheit die Frucht des Kampfes sichert. Darum muß man vermeiden, den besiegten Feind in seiner Ehre zu treffen oder ihn all- zusehr in seiner Selbstachtung zu erniedrigen; daher muß man trachten, ihn in einer Lage zu belassen, die nicht unerträglich ist, oder seiner Tätigkeit andere Wege weisen; dafür sorgen, internationale Rechte und Gepflogenheiten zu beobachten, die Erzeugnisse der Geschichte sind und die, obwohl sie nicht als fest- stehend und unbedingt, ohne Ausnahme gültig, be- trachtet werden können, dennoch ihren großen Wert in sich tragen: wer gezwungen ist, ihn irgendwie zu verletzen, spielt ein gefährlich Spiel, ähnlich dem Arzte, der einen kühnen Eingriff wagt oder ein ge- waltsames Heilmittel anwendet, das den Kranken wohl retten, ihm aber auch später ein neues Übel zuziehen kann ; das beweist der Eifer, den die Deutschen an den Tag legen, um die von ihnen vollführten Gewalttaten zu rechtfertigen, indem sie sie der Notwendigkeit oder der vorbeugenden Abwehr gegen die Feinde, die die näm- lichen Gewalttaten planten, zuschr.eiben. Das, was sich ii6 später ereignet, die folgende Geschichte, ist die wahre Richterin über die Einsicht, mit der ein Staat um seine Macht gekämpft hat, ohne die Grenzen des Kampfes zu überschreiten und allein das erfüllend, was wirklich und innerlich notwendig, fruchtbar für den Sieg war: jeder erinnert sich, wie einem Napoleon die Ermor- dung des Herzogs von Enghien niemals vergeben wurde, oder den Bourbonen von Neapel der Bruch der Kapitulationen und die Meineide, mit denen sie sich zwar den Sieg für den gegenwärtigen Augenblick sicherten, zugleich aber auch ihre eigene Niederlage für die nächste Zukunft vorbereiteten ; auch den Deut- schen werden die Gewalttaten und Grausamkeiten, deren sie sich schuldig gemacht haben, nicht vergessen wer- den, und sie werden sie irgendwie sühnen müssen (so- weit sie Bestätigung finden werden). Nur sind diese Hemmungen und Grenzen, die der Staat als Macht empfinden und innehalten muß, durch- aus nicht etwas, das von außen kommt oder die Sitt- lichkeit ihm wie einen Aufschriftzettel anheftet ; es sind Hemmungen und Grenzen, die er in sich selbst findet und aus seiner eigenen Beschaffenheit, aus seinen Zie- len, seinem Nutzen und sozusagen aus seinem Erhal- tungstrieb ableitet. Der Mangel an Hemmungen und das Überschreiten der Grenzen wird in der Politik nicht Sünde oderVerbrechen genannt, sondern „Irrtum" (nach Talleyrands glücklichem Ausdruck) : Irrtümer, die in diesem Umkreis noch schwerer wiegen als Verbrechen und Sünden. Deshalb wird die Lehre von der Selbst- herrlichkeit der Staaten, von der Unabhängigkeit der Politik und der Sittenlehre durch die Anerkennung ihrer notwendigen Grenzen und Hemmungen nicht erschüttert, sondern bestätigt und gefestet. Genau so 117 wie es bei einer andern Unabhängigkeitslehre zutrifft, die nicht weniger als die von der Politik angegriffen, auch ihrerseits immer noch von dem großen Haufen abgelehnt wird, da auch sie den Furchtsamen zu allen möglichen Ängsten Anlaß gibt: die der Unabhängig- keit der Kunst von der Sittlichkeit. Mithin (sagen die Gottesfürchtigen) soll aller Schmutz, soll jede Zote in der Kunst erlaubt sein? Gewiß nicht, weil Schmutz und Zoten eben keine Kunst sind, und diese nicht nötig hat, sich bei der Sittlichkeit Rats zu erholen, um dergleichen zurückzuweisen; es genügt ihr, sich von sich selbst, aus ihrer eigenen Natur heraus beraten zu lassen, die als reiner Gefühlsausdruck und reine Anschauung nicht zugleich Sinnlichkeit und Wollust sein kann. Darum ist die wahre Kunst, die eben Kunst, nicht Sittlichkeit ist, nicht im Zwiespalt mit dieser, ebenso wie die wahre Politik, eben Politik und nicht Sittlichkeit, dieser nicht widerspricht und sehr wohl mit ihr verbunden sein kann. GEGEN DAS ACHTZEHNTE JAHRHUN- DERT {Mai igi6). Wenn ich in meinem gewohnten Verfahren, in den Geist der Gegner einzudringen und die Beweggründe ihrer Einwürfe zu erfassen, diesmal den dunklen Punkt, den ich oben aufhellen wollte, ge- funden habe, so scheint es mir doch unmöglich, zu leugnen, daß der Grundantrieb, dem der Widerwille gegen die Lehre von der Selbständigkeit der Politik (sowie die von der Selbstherrlichkeit der Kunst) ent- springt, immer noch aus der Geistesverfassung des acht- zehnten Jahrhunderts herkommt, die noch zum großen Teile in der Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts fortlebt und künstlich aufrecht erhalten wird, geradeso ii8 wie die katholische Kirche die Geistesverfassung des Mittelalters oder vielmehr der Zeit der Gegenrefor- mation festhält. Es ist schvs^ierig, diese veraltete Gei- stesverfassung durch Aufhellung einzelner Begriffe zu beseitigen, eben weil sie nicht in einzelnen Irrtümern, sondern in der Gesamtheit einer geistigen Erziehung und Richtung wurzelt. Der Anhänger des achtzehnten Jahrhunderts in unserer Gegenwart verhält sich zu der neuen historischen Philosophie fast ganz so, wie der Anhänger des achtzehnten Jahrhunderts Abbe Morellet gegenüber der neuen Dichtung eines Chateaubriand. Man erinnert sich seiner vielberufenen Kritik. Chateau- briand hatte im Atala vom Mond gesagt: „. . . Er hüllt die Wälder in jenes große schwermütige Geheimnis, das er den alten Eichen und den ehrwürdigen Meeres- gestaden zu erzählen liebt." Morellet bemerkte dazu: „Ich frage, worin das große schwermütige Geheimnis liegt, das der Mond den Eichen erzählt? Bekommt ein vernünftiger Mensch, wenn er diese gesuchte und gewundene Redensart liest, davon irgendwelche klare Gedanken?" Der Abbe Morellet war nicht zu wider- legen: um das zu tun, hätte man ihm den Kopf zu- rechtsetzen müssen, den ihm der Konvent auf den Schultern belassen hatte. Da mir nichts anderes zur Hand ist, wende ich mich für jetzt gegen die Freimaurerei, nicht sowohl, wie es gewöhnlich geschieht, weil ich sie für eine gefährliche Verbindung von Ränkeschmieden und Strebern halte (davon weiß ich nichts, ja ich wäre sogar bereit, sie mit Francesco de Sanctis, der selbst Freimaurer war, für eine einfache Wohltätigkeitseinrichtung der ganzen Welt anzusehen!), als weil gerade diese Einrichtung, entstanden am Schlüsse des siebzehnten Jahrhunderts, 119 beim ersten Auftauchen der verstandesmäßigen Rich- tung, ausgebildet im achtzehnten Jahrhundert, jetzt der radikalen Demokratie dienstbar gemacht, vom kleinen Bürgertum erfüllt, von der Bildung von Elementar- schullehrern erleuchtet und gestärkt durch den ratio- nalistischen Vereinfachungsgeist des Judentums, das größte Sammelbecken der „Geistigkeit nach Art des achtzehnten Jahrhunderts" ist, eines der größten Hin- dernisse, das den lateinischen Ländern im Wege steht, wenn sie sich zu wahrem philosophischem und ge- schichtlichem Verständnis der Wirklichkeit und einem der neuen Zeit angemessenen politischen Leben auf- schwingen wollen. Vielleicht ist es in naher Zukunft nicht mehr nötig, sich darüber Gedanken zu machen : der gegenwärtige Krieg, gleichgültig zu welchen inter- nationalen Einrichtungen er führen wird, hat schon den Sozialismus gestürzt, dessen Tod, den Tod von innen heraus, der der eigentliche Tod ist, schon vor fünf und mehr Jahren vorausgesagt wurde (Croce, Kultur und sittliches Leben, S. 167—179) und der jetzt auch von außen her gestorben ist oder höchstens noch wie eine in ihrem Schlupfwinkel verkrochene Hyäne heult, gierig danach, an Leichen ihren Fraß zu halten : ein wenig würdiges Ende für eine Scliule, die einst da- von geträumt hatte, die Proletarier der ganzen Welt in ein Bündnis zusammenzuschließen, sich der inter- nationalen Politik als eines Überrestes des bürgerlichen Zeitalters zu entledigen und das friedliche Zusammen- leben der Proletarierklassen aller Länder zu begründen. Hingegen hat der Krieg gezeigt, daß die zwischen- staatlichen Kämpfe noch immer den Vorrang über die sozialen behaupten und daß die handelnden Personen in der Weltgeschichte die Völker, nicht die Klassen 120 sind. Er hat ferner die humanitäre oder freimaurerische Ideologie erschüttert, umgestürzt und zu fast vollstän- digem Verfall geführt, da der Krieg (wie ihre Anhänger seufzen) bewiesen hat, daß im Menschen nicht der seraphische Logenbruder, so wie sie ihn erträumten, steckt, sondern das „blutdürstige Tier" ; wie er ander- seits mit der Tat gezeigt hat, daß im Menschen noch immer der Held steckt, bereit, sein Leben und alle Wohlfahrt zu opfern, um eine Fahne zu verteidigen, heiße sie nun die Italiens oder Frankreichs, Deutsch- lands oder Österreichs, Englands oder Rußlands, bereit, sich aufzuopfern für etwas, das über ihm steht, und zufrieden mit dem Opfer seiner selbst, einen Gesang, einen Vers, ein Wort, der größten aller Dichtungen einzuverleiben, jener, die die Geschichte aus den Handlungen der Menschen webt, bald harmonisch zu- sammenklingend, bald sich infolge höherer Harmonien entzweiend und einander entgegentretend. Dies alles, den Krieg, diese religiöse Hekatombe, zu der das alte Europa im Glauben an seine Zukunft und auf seine Kindeskinder blickend, sich dargeboten hat, dies — wie es die Humanitarier und die Freimaurer tun — einen „Überrest von Barbarei und ein Überlebsel blutdür- stiger Triebe" zu nennen, ist ein Urteil, das allein hin- reichen würde, um die unheilbare Minderwertigkeit, Enge und Stumpfheit der geistigen Form des Frei- maurertums an den Tag zu bringen. GEISTIGE KRAFT UND VOLKSKRAFT {Mai igi6). — Diese Dinge führen abermals zu der Schlußfolgerung, daß die Völker, die sich auf den Schlachtfeldern besiegen lassen, die nämlichen sind, die bereits auf denen des Gedankens und der Kultur unter- 121 legen sind, und daß darum die in argem Leichtsinn handeln, die frohgemut fortfahren, veraltete Begriffe und oberflächliche Urteile zu verbreiten, unter dem Vorv^and, den Krieg zu fördern und die Gemüter für ihn zu erwärmen, während sie mit ihrem verderblichen Werk in Wahrheit zur Niederlage beitragen würden, wenn nicht zum Glück die selbstwilligen Kräfte des Volkes, der nicht zu beseitigende klare Menschenver- stand und die Logik der Dinge jener abgeschmackten Zungendrescherei Widerstand leisteten und sie eben als hohles Geschwätz erscheinen ließen. Die besten Män- ner Frankreichs haben nach 1870 alle geurteilt, daß Frankreich die unglücklichen Ereignisse jenes Jahres durch die Minderwertigkeit seiner geistigen Arbeit vorbereitet habe. Nun befinden wir, Italiener, Fran- zosen, Engländer, uns sicherlich nicht in der Lage des damaligen Frankreich; anderseits besitzen wir so viel an entwickelter und erworbener geistiger Lebhaftigkeit, daß wir, gerade so wie wir in aller Eile unsere unge- nügende Vorbereitung für den modernen Krieg ausgegli- chen haben, mit derselben Raschheit wenigstens in dem, was das Wesentlichste und Dringendste ist, der Schwäche unserer Leitgedanken werden abhelfen können. Denn was man in vielen Jahren nicht zu erlernen ver- mocht hat, läßt sich bisweilen an einem Tage, durch eine Gemütserschütterung lernen (und wo gibt es eine größere Erschütterung, als die wir jetzt an uns erleben ?), die uns in die Lage setzt, eine vorher verkannte oder dunkle Wahrheit in uns aufzunehmen. LEIDENSCHAFT UND WAHRHEIT. UN- ZULÄNGLICHE GRÜNDE {Mai 1916). - Man kann nicht sagen, daß meine Randbemerkungen philo- 122 sophisch-politischen Inhalts unbemerkt geblieben sind. Sie haben vielmehr eine stattliche Anzahl privater und öffentlicher Erwiderungen hervorgerufen, zum Teil beleidigender Art — wie billig, berücksichtige ich diese nicht — zum Teil mit Phantasiegründen ge- stützt und in Gemütsbewegungen gipfelnd. Nein, darum handelt es sich jetzt wahrlich nicht! Redne- rische Hilfen müssen jetzt beiseite gelassen werden, denn wir befinden uns in den Hallen der Wissenschaft, so gut oder schlecht sie sein mögen, ich habe logische Gründe zur Unterstützung der dargelegten Begriffe beigebracht ; und nur Gegengründe logischer Art dür- fen mithin herangezogen werden. Mit Phantasiegrün- den ist bekanntlich jede Lehre bekämpft worden, die gegen überkommene geistige Einstellungen verstieß; von der astronomischen der Bewegung der Erde um die Sonne an (die der Augenerfahrung widersprach) bis zu der spekulativen der Idealität der Außenwelt (die der Tasterfahrung entgegentrat). Ebensowenig gelten die Zweckmäßigkeits- gründe, wie etwa die Gefährlichkeit gewisser Lehren in der Kriegszeit darzulegen, weil sie die Leidenschaf- ten herabmindern, die Kraft der Kämpfer und des ganzen Volkes, das in seiner Gesamtheit kämpft, läh- men könnten. Ist eine Lehre wahr, so kann sie keine andern als gute Wirkungen haben, kann sie nur jeg- liches gute Ding achten und fördern; es ist ein eitles Beginnen, über die Mißverständnisse, die sie bei an- dern herbeiführen könnte, zu faseln, wie über die üblen Wirkungen, die sie zur Folge haben würde, und die Dummheit unserer Nebenmenschen zur Voraus- setzung zu nehmen, weil man unter dieser Vorausset- zung niemals wüßte, wie man sich benehmen sollte: 123 jedes Wort, ja das Schweigen selbst kann „mißver- standen" werden. Darum gibt es keinen andern Weg, sich von einer Lehre freizumachen, als den, sie als logisch verfehlt und deshalb schädlich nachzuweisen. Im vorliegenden Fall hat dies ein der Philosophie Beflissener versucht, indem er mir einwandte, daß geradeso wie im wissen- schaftlichen Streit das, was den Streitenden anfeuert, der Glaube ist, er halte die Wahrheit in Händen gegen- über dem vom Irrtum verblendeten Gegner, dies auch im politischen und nationalen Kampfe zutreffe, in dem der Kämpfer sich für den Verteidiger der gerechten gegen die ungerechte Sache hält. Dieser Einwand könnte — wie er sicherlich formell richtig ist — gelten, wenn politische und nationale Kämpfe wissenschaft- lichen Streitigkeiten vergleichbar wären , oder aber sittlichen Kämpfen, zu denen uns lediglich der Glaube an die Wahrheit und das Bewußtsein des Rechten drängen, und in denen uns die Pflicht zufällt, haben wir uns im Irrtum befangen erkannt, uns der Wahr- heit, die dargelegt ward, zu beugen und der nunmehr erwiesenen Redlichkeit des frühern Gegners unsere Achtung auszudrücken. Aber ich lasse nicht davon ab, auf folgendem Punkt zu bestehen : daß es notwen- dig sei, auf der Hut zu sein, damit der Umstand der Verschiedenheit zwischen den einzelnen geistigen Formen nicht außer acht gelassen werde: das heißt, in unserem Fall, sich klare Rechenschaft davon zu geben und niemals aus den Augen zu verlieren, daß die po- litischen Kämpfe, von denen die Rede ist, nicht wissen- schaftliche oder sittliche, sondern eben politische, oder wie ich sie verallgemeinernd nenne, wirtschaft- liche Kämpfe sind. 1 24 Nun liegt der Fall in der Tat so : in den politischen und wirtschaftlichen Kämpfen ist zum Unterschied von den sittlichen und wissenschaftlichen kein anderer Glaube denkbar als der an die eigene Kraft und Fähig- keit: ein Glaube, der anders als bei diesen letzten die Achtung, nicht die Mißachtung von Seiten des Geg- ners zuläßt und mit sich bringt, namentlich wenn dieser nicht ein schmählicher Feind ist und unserer Kraft seine eigene starke Kraft entgegensetzt. Einem jungen Manne, der jetzt im Heere dient und mir schrieb, könnte er jemals meiner Auffassung gemäß denken, daß unsere Gegner ebenso im Recht wären wie wir, so müßte er sich vom Kampfe abgehalten fühlen, habe ich erwidert, daß er sich sicherlich über seine Empfindung täusche und es ganz unmöglich sei, daß er als Soldat es für schöner und tröstlicher halte, Räubern und Verbrechern, einem Gesindel, oder Hel- fern von Gesindel gegenüberzustehen, als Soldaten gleich ihm selbst. Verbrecher sind, wie mir scheint, nicht der Ehre wert, von Soldaten bekämpft zu wer- den, dafür sind Häscher und andere Wächter der öffentlichen Sicherheit da. Man schreit so viel über „Barbarei" ; wie kommt es, daß man nicht bemerkt, wie Haß, Verleumdung, Beleidigung, Hohn und Spott fegen den Gegner im modernen Krieg echte und rechte Jberbleibsel der Barbarei sind, die häufig genug künst- lich hervorgerufen und zwischen Völkern, die dieselben Götter verehren, lebendig erhalten werden? Den Phantasie- und Zweckmäßigkeitsgründen haben sich zuweilen solche gesellt, die ich die Ehrfurchts- gründe nennen möchte; denn man hat mich ermahnt, Männern gegenüber, die, wenn sie auch fälschlich ur- teilen, doch immerhin von Leidenschaften edelsten 125 Ursprunges beseelt sind , mit meinen Ausstellungen zu- rückzuhalten oder sie wenigstens zu mäßigen. Gewif3, begegnet es mir, daß ich Ergüsse solcher Art von den Lippen Ungebildeter höre, so hüte ich mich wohl, meine Ansichten hervorzuholen und einen kalten Strahl auf den Feuerbrand von Liebe und Haß zu richten ; das wäre unnütze Mühe, ja in diesem Fall vielleicht schädlich, weil vorschnell auf noch unreife und unvorbereitete Gemüter wirkend. Maxima puero dehetur reverentia — dem Kinde soll man Ehrfurcht zollen ! Allein, die Männer der Forschung, die Profes- soren, an die ich mich in dieser Rundschau wende, sind nicht Knaben; und mag sie auch die Leiden- schaft verwirren, so besitzen sie doch in sich selbst die Mittel, ihren Geist zu klären. Es geht aber noch um etwas anderes. Es sind solche darunter, denen ich nicht glaube, daß sie so verstört sind, wie man behauptet, und daß sie, aus Liebe zur Heimat, den Kopf verloren haben : ich glaube vielmehr (und dessen klage ich sie an), daß sie ihn vielmehr recht sehr auf ihren Schul- tern behalten haben: den alten Kopf, das alte Gehirn aus Friedenszeiten, mit der Neigung, die Wahrheit als etwas zu behandeln, das den zufälligen Erfordernissen anzupassen erlaubt sei. Es sind nun schon ein paar Jahrzehnte her, daß ich in der akademischen Welt lebe, ohne ihr anzugehören, als eine Art „Regiments- freund" nach Scribe; ich kenne hinlänglich die Ge- wohnheiten dieser meiner guten Freunde, die allzu leicht geneigt sind, die Wissenschaft praktischen Rücksichten unterzuordnen, Methoden und Lehren zu rühmen oder zu verdammen, je nach den Einflüssen von Machthabern, der Kund- und Freundschaft, der ge- werbsmäßigen Zu- und Abneigungen der Volksgunst. 126 Diesen Neigungen entsprechend, meine ich, haben sie nicht allzuviel Mühe gehabt, den Aufbau ihrer Be- griffe und Urteile mit einem Schlage zu ändern, kaum daß die internationale Lage sich geändert hatte und der Krieg ausgebrochen war. Man kann also von mir erv^arten, daß ich gegen die Schw^achheiten von heute Nachsicht übe — und in diesen Randbemerkungen suche ich es auch zu tun, indem ich, sov^eit als mög- lich, keine Namen nenne und persönliche Angriffe vermeide — aber verlangen, daß ich das aus Gründen der Achtung tue, das ist wahrhaftig zu viel verlangt ! VOM VÖLKERRECHT {Critica XIV, Mail Sept. igi6). — In diesen Kriegsjahren hat man öfter vom „Tod" oder „Niederbruch" des Völkerrechts ge- hört, zusammen mit der Verteidigung durch die An- hänger dieses Rechts, die darzutun suchten, daß die vorgefallenen Verletzungen keineswegs seine Geltung aufheben, höchstens für einige Zeit sein weises und wohl- tätiges Wirken unterbrechen, daraufgerichtet, in einer mehr oder weniger nahen Zukunft die Abschaffung der Kriege und die Einführung des ewigen Friedens durchzusetzen. Beim Anhören dieser Anklagen und Verteidigungen dachte ich bei mir, daß eines stets lebendig und ein anderes diesmal wirklich gestorben ist. Tot ist der trügerische Gedanke des Völkerrechts als einer sittlichen Gesetzgebung der Menschheit; lebendig ist aber das Völkerrecht in seiner tatsächlichen Wirklichkeit von Richtlinien, die im gegenseitigen Einvernehmen der Staaten sich herausgebildet haben, und von denen einige, jetzt von allen oder von eini- gen Staaten abgelehnt, nach dem Kriege entweder wiederherzustellen oder abzuschaffen oder zu berich- 127 tigen sein werden. Was ist denn überhaupt das tat- sächliche Leben jedes Rechtes? Was anderes liegt in jedem Recht, als Aufstellung und Annahme von Richtlinien, Auflehnung, Abschaffung, Wiederher- stellung und Reformen, da alles, was den Kampf der Interessen widerspiegelt, der praktischen Angemessen- heit der einzelnen geschichtlichen Augenblicke ent- spricht ? Indessen bietet das Völkerrecht, das die Rechtsge- lehrten mit Unrecht von dem übrigen Recht als „der Bestätigung entbehrend" oder mit „unzureichender Bestätigung versehen" scheiden, gerade dieses Grund- wesen dar: die eigentliche Beschaffenheit jeglichen Rechts und seine tiefste, einzige Grundlage, welche die Stärke, das heißt die wirtschaftliche Angemessen- heit ist, besser durchblicken zu lassen. „Das Natur- recht der Völker (hat Vico gegen die Gelehrten seiner Zeit eingewendet) ist ein Recht der öffentlichen Ge- walt, die Staats vertrage werden durch die Kraft, die die Staaten entfalten, gestützt; andere Mächte halten sich darüber nicht auf, besonders wenn auch sie ihnen bei- treten, vor allem jedoch, wenn sie dafür bürgen." Allein auch Vico schied von diesem Völkerrecht, „das zwischen den staatsbürgerlichen Gewalten gilt, die kein gemeinsames bürgerliches Recht besitzen", jenes bürgerliche Recht, das „unter den Bürgern im Ansehen steht, die, als unterworfen einer gemeinsamen höchsten Waffengewalt, nur mit den Waffen der Vernunft kämpfen können". Nur ist diese Unter- scheidung höchst gebrechlich, da das Leben des bür- gerlichen und nationalen Rechtes denselben Ursprung und denselben Verlauf hat und den nämlichen Wechsel- fällen wie das Völkerrecht unterworfen ist ... Es scheint 128 bloß, daß um jenes mit der Vernunft gekämpft wird, der Kampf ist aber immer einer der Macht oder des Ansehens ; nur die Vernunft, oder genauer gesagt, die Auslegung und Anwendung der Gesetze ist in der Tat ebenso veränderlich wie in den Beziehungen zwischen den Staaten, und der Umsturz der Gesetze vollzieht sich hier mit derselben Notwendigkeit wie der in den zwischenstaatlichen Verhältnissen ; die Bürger der herr- schenden Klasse sind wohl geneigt, die bestehenden Gesetze als eine unverletzliche, vernunftgemäße und sittliche Gesetzgebung anzusehen, allein die Unzufriede- nen und die Empörer betrachten sie nicht in derselben Weise, da sie sich gegen den Zwang des bürgerlichen und Strafrechtes zur Wehr setzen, genau so wie ein Volk, das sich von einem andern in seiner Ehre ver- letzt, vergewaltigt oder ausgebeutet erachtet, an den Zügeln des Völkerrechts und seiner feierlichen Ver- träge reißt. Die Bestätigung des Völkerrechts liegt in der Macht, die gerade so wirksam andauernd wie das nationale Recht oder ebenso unwirksam und vor- übergehend ist, je nach dem einzelnen Falle; die Macht, die, wohlgemerkt, nur dann Macht ist, falls sie die andern als für sich nützlich erachten oder sich ihr als dem kleineren Übel anfügen und anpassen. Ist aber das Leben des Völkerrechts und jeden an- deren Rechtes so beschaffen, wie wir es hier zu um- schreiben gesucht haben, so sollte auch klar werden, daß es nichts Törichteres gibt, als vom Recht die Ab- schaffung der Kriege zu erwarten. Denn das Recht ist in sich selbst Kampf oder Krieg, oder ein Zwischen- spiel von Kampf und Krieg, und es vermag den Krieg nicht abzuschaffen, ohne sich selbst abzuschaffen. Die Richtlinien, die es aufstellt und die der allgemeinen 9 Croce, Randbemerkungen eines Philosophen I 20 praktischen Einstellung des wirtschaftlichen Lebens dienen, sind ein Erzeugnis von Kriegen oder Voraus- setzungen für neue Kriege, sie werden durch Kriegs- drohung oder durch den ausgekämpften Krieg aufrecht erhalten und formen sich in ähnlicher Weise um. Würde auch einmal das ersehnte Schiedsgericht der Staaten verwirklicht, so liegt es wohl auf der Hand, daß der Krieg trotzdem durch gewisse rechtliche Fik- tionen weiterbestehen würde, vermöge der Anstren- gungen, dieses oder jenes beschlossene oder auf Ab- stimmung ruhende Vorgehen, eine bestimmte Zahl von Beauftragten, durchzusetzen oder vermöge der periodischen Reformen dieser Einrichtung unter dem Druck drohender Kriege oder als Folge von durch- gekämpften Kriegen. Auch wenn man aus Gründen technischer Art dazu gelangte, den unmittelbar mör- derischen Krieg aufzugeben, wie er mit Geschützen und Torpedos geführt wird, so würde darum nicht jede andere Form des Krieges citra effusionem sanguis auf- hören: als der Krieg des Hungers, der Einkreisung, des wirtschaftlichen Zwanges, ja selbst des Bannes! Es gibt viele, die, obgleich sie nicht unmittelbar diese Wahrheiten des gesunden Menschenverstandes zu leug- nen vermögen, sich dennoch von der Wirklichkeit, die diese vor Augen stellen, unbefriedigt zeigen, als (wie sie sagen) ihrem Gefühl widerstrebend, abscheu- lich, schlecht. Allein, sie müßten uns doch erklären, worauf sich denn ihre Unzufriedenheit gründet. Auf die anerkannte Übermacht der Sittlichkeit, Kriege und Kämpfe« aus der Welt zu schaffen und das Recht zu formen ? Ist aber die Sittlichkeit unvermögend, zu be- wirken, daß Recht nicht Recht sei (sowie sie nicht be- wirken kann, daß Kunst nicht Kunst sei), so vermag 130 sie hingegen im höchsten Grade das Gewissen und den Willen zu formen und sittliche Erfordernisse aufzu- stellen, die fortwährend in der Geschichte des Rechts wirksam sind, obwohl sie notwendigerweise stets die Form des Rechtes, der Macht, des Nutzens an- nehmen mußten: darin liegt ja gerade der sittliche Fortschritt der Menschheit. Oder auf die tragische Be- stimmung des Menschen, dazu verurteilt, zu leiden und leiden zu machen, den Tod zu geben und ihm selbst zu erliegen? Aber da ein Leben ohne Schmerz, ein Leben, das nicht Tod ist und nicht den Tod in sich trägt, unfaßbar ist, so fehlt hier der Maßstab des Glückes, an dem jenes pessimistische Urteil über das wirkliche Leben zu messen wäre: es sei denn, daß jene Pessimisten in ihrem Gehirn den Plan einer bessern Welt, als die Gott zu schaffen verstanden hat, trügen, einen Plan, den kennen zu lernen gar wunderbar wäre, wäre es auch nuif um ihn als ein unerreichbares Schö- nes anstaunen zu können. Zieht sich übrigens eine logische Gegnerschaft auf das Gefühl zurück, so ist sie reif, sich zum Roman zu wandeln: zu dem Roman der Freifrau von Suttner, als welcher die einzige Stufe der Kunst ist, die die Begeisterung der Humanitarier zu erreichen vermag. Alle sonstige Kunst ist leider, wie das Leben selbst, dialektisch und antipazifistisch, NOCH ETWAS ÜBER DIE PHILOSOPHIE DES KRIEGES {Mai I Sept. jpiö). - Gewisse merk- würdige Empfehlungen locken mir ein Lächeln ab, die einige wenig glückliche Schriftsteller über philo- sophische Dinge aus der „Vorkriegszeit" jetzt der Öffentlichkeit mit ihren neuen Geisteserzeugnissen vor- zusetzen pflegen, indem sie auf diese Art zugleich die 9* 131 Aufmerksamkeit auf ihre übrigen altern, noch in den Schränken der Buchhändler schlummernden Schriften zu lenken suchen. Sie bemühen sich zu verkünden, daß ihre Philosophie stets eine „Gegnerin jener un- sinnigen Geschichtsphilosophie und der Lehre von der Immanenz vs^ar, die in den letzten Zeiten vorherrschte und endlich in den gegenwärtigen Krieg ausgemündet ist". Es ist mir nicht klar, w^elches Verdienst sie sich damit zuschreiben vv^ollen, oder w^orin die Begründung für die Belohnung liegen soll, die sie anstreben und die in der heiß ersehnten Ehre, gelesen zu werden, besteht. Die Philosophie, die sie angefeindet haben, ist, so wie sie vorher die ewige Idee des Krieges nicht geleugnet hat, nicht über den Krieg, der sich vor uns entwickelt, betroffen, noch schreit sie über den Verrat, den die Tat- sachen an den Idealen verübt hätten. Ich behaup- tete, daß die Geschichte ein Wettbewerb um Macht, aber kein Tribunal eines Friedensrichters, und daß die Berufung an eine abstrakte Sittlichkeit hohles Ge- schwätz sei ; man hat es erfahren, daß alle Völker, auch die am wenigsten kriegerischen oder die am stärksten in gedanklichen Täuschungen befangenen, sich ent- schließen mußten, in den Kampf um die Macht ein- zutreten, mit den Waffen, jedes sein eigenes Haus be- stellend, die eigene Kraft zur Geltung bringend, im vollen Bewußtsein, daß sie von andersher keine Hilfe zu erwarten hätten. Demgemäß ist unsere Philosophie nach wie vor im Einklang mit den Tatsachen, die ihre hingegen, damals wie jetzt, im Widerstreit. Eine Philo- sophie aber, die mit den Tatsachen in Widerspruch steht, ist mehr oder weniger eineschwache Philosophie und um so schwächer, je größer dieser Widerspruch ist. Es scheint mir also das Verlangen nach Anerkennung und Be- 132 lohnung von Seiten der Vertreter dieser schwächlichen Philosophie in keiner Weise erfüllbar. Wie billig, habe ich das Wort „Philosophie" in seinem eigentlichen und strengen Sinn genommen, als Gedankensystem, als Erklärung der Wirklichkeit. Ich weiß aber recht wohl (und habe öfters davon gehan- delt), daß andere alles das „Philosophie" nennen, was per accidens sich den eigentlich philosophischen Fragen zugesellen oder doch mit ihnen vermengen kann : etwa diese oder jene individuelle oder kollektive Gefühlsäuße- rung, diese oder jene Handlungeines Menschen oder eines Volkes, die mitunter dieses Einzelwesen selbst, oder jenes Volk, wohl auch ein anderer, der über sie urteilt, als logische Ableitung der vorgeblichen Philosophie zu verkünden pflegt. Aber sollte es noch nötig sein, die Widerlegung dieses überaus verbreiteten Irrtums zu wiederholen, der das werktätige Handeln als eine logische Schlußfolgerung ansieht, und ihm damit Selbst- willigkeit, Freiheit, Verantwortlichkeit und Eigenart nimmt? Muß eine Philosophie vom Wirklichen in seiner Gesamtheit Rechenschaft ablegen, von Gut und Böse, von Wildheit und Sanftmut, von dem so- genannten Krieg wie vom sogenannten Frieden, wie kann man nur glauben, daß sie den Willen zu dem oder jenem besondern Tun bestimmt, zu der oder jener Form von Handlungen, zu Wildheit oder Sanftmut, zu Frieden oder Krieg, zum Guten oder Bösen.? Und scheint sie in einigen Fällen dergleichen Bestimmungen oder Antriebe zu enthalten, sollte es nicht augenschein- lich sein, daß man dann in diesen eine ungeläuterte, nicht genügend verfeinerte und strenge Philosophie vor sich hat, nicht wirklich und vollständig philo- sophisch, sondern von praktischen Bestandteilen durch- 133 setzt, denen, nicht ihr selbst, Tadel und Lob der gewähl- ten besonderen Bestimmung zugehört? Daraus folgt, daß die praktischen Einflüsse dar- legen, wie sie dieser oder jener Philosoph bietet, nicht den Philosophen beurteilen heißt, sondern den Menschen, der hinter dem Philosophen steckt; es heißt das die Empfindung des Menschen beurteilen, nicht aber seine Philosophie, die vielmehr durch diese Kritik selbst geläutert wird und größere logische Stärke gewinnt. Trotzdem pflegen die Philosophen sehr häufig (auch von eleganten Geistern, wie Heinrich Heine) als Schöpfer, Förderer oder Rechtfertiger der Taten eines Volkes aufgeführt zu werden; es geschieht das aus naheliegenden Gründen, von denen einer schon erwähnt wurde und der in dem persönlichen werktätigen Ver- halten liegt, das ein Philosoph dem Leben seiner Zeit gegenüber einnimmt. Ein anderer liegt in der Tatsache, daß die Philosophen die praktischen und politischen Aufgaben ihrer Zeit zum Stoff, das heißt zur Triebfeder ihres Denkens machen ; so daß es darum scheint (und der vorbildliche Fall dafür ist Machiavelli), daß sie die Wirk- lichkeit inTat umgesetzt haben, die sie freilich geschaffen oder neugeschaffen haben, allein in der Form des Ge- dankens, als Theorie. Ein dritter Grund ergibt sich end- lich aus der Verbindung der Größe der Philosophen mit der eines bestimmten Volkes oder eines bestimmten ge- schichtlichen Augenblicks, derart daß sie als Sinnbilder dieses Volkes oder dieses Augenblicks dienen : so kann Cartesius als der Philosoph Frankreichs unter Ludwig XIV. erscheinen, Kant (oder Hegel) als jener der begin- nenden Machtstellung Deutschlands im modernen Le- ben; die gleiche Rolle hätten Bruno und Vico gespielt, ^34 wären sie nicht gerade in den Zeiten politischen Verfalls und Stillstandes des italienischen Volkes aufgetreten. Weshalb gebe ich mir die Mühe, noch einmal auf diese alltäglichen Unterscheidungen zurückzukommen? Vor allem, um die Freiheit der Philosophie in Schutz zu nehmen, die schwer bloßgestellt wäre, wollte man sie mit der Politik der Philosophen und der verschie- denen Völker, denen sie angehören, vermengen, sie mit dieser zusammen richten und bekämpfen : ebenso aber auch, um die Freiheit zu verteidigen, die jedem Men- schen, sei er nun Philosoph oder nicht, zukommt, von Fall zu Fall sein praktisches Verhalten , wie es ihm gut scheint, zu bestimmen, ohne Furcht, seine Philosophie durch seine möglichen politischen Torheiten bloßzu- stellen und ohne die Hoffnung, sie aus seinen allfälligen Voraussagen Nutzen ziehen zu lassen. KLASSIK UND ROMANTIK (Mai I Sept. 1916).- Sogar in der literarischen Kritik beginnen sich die „Torheiten der Kriegszeit" geltend zu machen, da von neuem der Gegensatz zwischen Klassischem und Romantischem, zwischen lateinischer und germanischer Kunst hervorgeholt wird, den wir bereits für immer los zu sein glaubten. Das Seltsame daran ist, daß dieser Gegensatz durch Leute wieder hergestellt wird, die das Schlagen ihres Herzens für die „Internationalität" und „Humanität" nicht stark genug hervorzukehren wissen ; von einem im politischen Felde unmöglichen Inter- nationalismus und Humanitarismus träumend, erheben sie gleichzeitig die frevelnde und entweihende Hand gegen die wirklich bestehende Internationalität und Menschlichkeit: jene von Wissenschaft undKunst.Aber das geht sie allein an: sie haben Papier vergeudet und be- 135 schmiert, und die Sache wird ihnen nicht zur Ehre aus- schlagen. Für unseren Teil halten wir an dem von der ästhetischen Wissenschaft, nach langen Versuchen, be- stätigten Grundsatz fest: daß die wahre Kunst weder romantisch noch klassisch ist, das heißt romantisch und klassisch zugleich, das erste, weil aus Gefühlsleben quellend, das zweite, weil sie dieses Leben zur Kunst- form verklärt; daß Romantik und Klassik mithin zwei einander entgegengesetzte Fehler darstellen, die abwechselnd als Heilmittel der einen für die andere angestrebt werden : so daß, wenn das Klassische zum Klassizismus erstarrt, es vom Romantischen be- richtigt wird, das als ein revolutionäres und fortschritt- liches Wesen emporkommt; verliert sich das Roman- tische im Wirrwarr entfesselter Leidenschaft, so wird es vom Klassischen gebändigt, das ihm in Erinnerung bringt, daß Kunst Klarheit oder Vollkommenheit des Ausdrucks ist. Klassische und romantische Augen- blicke gibt es demnach nicht nur bei jedem Volk und zu jeder Zeit, sondern in jedem Künstler, der nur dann wahrer Künstler ist, wenn er den Gegensatz überwindet, derart, daß er weder als Klassizist noch als Romantiker mehr aufgefaßt werden kann. Das Klassische in den lateinischen, das Romantische in den germanischen Völkern verkörpern zu wollen, kann mitunter zu ge- wissen erfahrungsmäßigen Scheidungen nützen, zeigt sich aber sofort als grobschlächtig und ungeeignet, wenn man sich auf die Einzelheiten einläßt. Ich habe das schon vor zehn Jahren klargestellt, als ich von der Gegenüberstellung ^^Germanischer und lateinischer Dichtung^'- handelte (vgl. Probleme der Ästhetik^ S. 158—64); dort habe ich auch auf die Trugschlüsse und Wortspielereien hingewiesen, zu denen man griff, 136 um diese wenig begründete Unterscheidung in den Einzelfällen festzuhalten. Die neuesten Untersuchungen könnten reichlich die bereits angeführten Beispiele ergänzen ; hat man doch in diesen Tagen gesehen, wie dem deutschen Volk seine größten Künstler, so Goethe und Beethoven abgesprochen wurden, als angeblich „universelle, nicht deutsche Genies" und ihm dafür alle unsere Künstler anfechtbarster Art zugeteilt wurden, als „deutsch dem Geiste, wenn nicht der Geburt nach" ! Allein die neuen Anhänger des Klassizismus und Feinde der Romantik gehen weit über die künstlerische Gegnerschaft hinaus, die bloß eine Seite ihrer Polemik darstellt und haben nicht mehr und nicht weniger im Sinne, als das sittliche, gesellschaftliche und politische Leben von der romantischen Seuche zu heilen, die von den Deutschen aus über Europa gekommen sein soll. Darin äffen diese Italienschwärmer allerdings gewöhn- lich französische Muster nach und bilden sich vermut- lich ein, daß sie allein gelesen hätten, was wir alle kennen : die Bücher von Maurras, Lasserre, Valois, die Revue critique des ide'es und andere durchaus nicht sel- tene Werke. Hätten sie aber auch die italienischen Bücher aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahr- hundertsgelesen, die von Rosmini undGioberti, auch die von Botta und Niccolini, so hätten sie erfahren, wie alt die Antriebe zu dergleichen Polemiken sind, und sie hätten lange vor Lasserre, Maurras und andern Fran- zosen von diesen alten Italienern die Anklagen gegen die Romantik, gegen den Sensualismus, Panthe- ismus und ähnliches hören können; ja sie können sie sogar in der ^^Zuwage^^ (Giunta alla derratd) gesammelt finden, die Carducci und seine der Romantik abgeneig- ten Freunde 1856 herausgaben, und die jetzt, zur guten Stunde, wiederabgedruckt worden ist. Diese Zusammen- stellung soll nicht bloß einen zeitlichen Vorrang fest- legen, sondern vor allem die wahre Beschaffenheit jener Anklagen erkennen lassen; denn so wie sie vorlängst in Italien von katholischen oder sonstwie rückschritt- lich gesinnten Schriftstellern herrührten, so jetzt in Frankreich von reaktionären Schriftstellern, die sich zwar nicht als Katholiken zu geben wagen, aber es doch gerne täten, und vorderhand einem politischen Katholizismus das Wort reden. Nehmen wir das Buch von Lasserre, gewiß eine scharfsinnige und wirksame Schrift, reich an verständigen Beobachtungen, die aber jedem, der durch die Oberfläche zu sehen versteht, so- fort zwei Irrtümer aufdeckt, die letzten Endes auf einen einzigen hinauslaufen: die Voraussetzung der Jenseitigkeit, demgemäß das wahre menschliche Leben im Himmel der Ideen sein ewiges Vorbild besäße; dann den Mangel an geschichtlichem Sinn, demgemäß das sittliche Romantikertum als eine Verirrung oder Entartung angesehen wird, aus der heraus die Rettung möglich sei durch die Rückkehr zu irgend einer un- bestimmten Ethik „Altfrankreichs". Alles eher denn geneigt oder wohlwollend dem sittlichen Romantiker- tum gegenüber (derart, daß mir seit Jahren fortwährend der Vorwurf des Intellektualismus, der Gefühlskälte, des Autoritätswesens und so fort gemacht wird), ver- mag ich mich doch nicht der Tatsache zu verschließen, daß die Romantik, die das ganze neunzehnte Jahr- hundert im Banne gehalten hat und noch immer die Gemüter bewegt, eine große Zeit des menschlichen Geistes gewesen ist, die ihren entfernten Usprung im Christentum, wenn nicht noch weiter zurück hat und vielleicht erst jetzt an ihren endgültigen Abschluß '38 gelangt ist, da sich da und dort die Umrisse neuer geistiger Bildungen zeigen, die dem sittlichen Leben neue Gestalt geben werden, jedoch über die Romantik hinaus und sich ihrer bedienend, niemals aber in ihrem Bannkreis und im vergeblichen Streben Geschehenes ungeschehen zu machen. Daß diese Gestalt in allzu vereinfachender Weise durch die Rückkehr zur Sittlich- keit „Altfrankreichs" erw^eckt werden könnte, zum Königtum, dem Blutsadel, der Geistlichkeit als politi- scher Macht, zur Akademie und zu Boileau, das ist Literateneinbildung ; daß sie nach dem Kriege mit einem Es werde in die Erscheinung treten könne, dank dem festen Entschluß, jeder Berührung mit dem krankhaften Deutschtum auszuweichen, ist Geschwätz von Feder- helden, die ihren Aufsatz zusammenflicken müssen und die Umgestaltung der Welt für ebenso leicht und jeder gedanklichen Anstrengung ledig halten als den Artikel, den sie gerade hinsudeln. Die Arbeit ist hart genug, tatsächlich über die zerrissene romantische Gemütsverfassung, über Fausts zwei Seelen hinaus- zukommen, sie ist hart, langdauernd und vielfältig, und alle Menschen aller Teile Europas sind an ihr seit einem Jahrhundert beteiligt, durch Leiden und Irrtümer hin- durch, mit den Bekenntnissen in Dichtung und Roman, mit den Forschungen der Philosophie, mit der sittlichen Erziehung, der wirtschaftlichen Zucht, den gesellschaft- lichen Reformen ; wer den wohltätigen Trieb zu diesem Ziele hin empfindet, darf nicht anders als irgendwie an dieser Arbeit teilnehmen, um sich als „ernstzu- nehmender" Mensch zu bewähren. Aber es ist nicht Sache ernsthafter Leute, vorzugeben, das Übel des sitt- lichen Romantikertums sei ausschließlich in dem Volke, gegen das man gegenwärtig Krieg führt, zu finden, — 139 bei jenem Volke, das länger in ihm gelebt hat, aber kraft- voller und glücklicher als jedes andere sich seiner zu entledigen gesucht hat, — und sich die Befreiung von der Romantik etwa wie einen kleinen Artikel, der in den künftigen Friedens- oder Siegesvertrag aufgenommen würde, vorzustellen. Dazu bedarf es wahrlich ganz an- derer Dinge! DIE NEUE AUFFASSUNG VOM LEBEN {Mail Sept. igi6). — Wäre es mir jemals möglich zu denken, das, was man die „lateinische" Auffassung von politischem und geschichtlichem Leben nennt, das heißt das Ideal von internationaler Gerechtigkeit, Brüder- lichkeit und Frieden, sei, ich sage nicht überlegen, so doch mindestens ebenbürtig dem, was man „ger- manisch" nennt, das ist dem Ideal des Lebens als eines fortwährenden Kampfes, das in diesem meist mit seiner Begründung auch seine Beruhigung findet; gelänge es jemandem, mir dies zu beweisen, so hörte ich auf zu schreiben, wie ich es tue und hielte es von da ab für meine Pflicht, mich den vielen andern zur Verteidigung des lateinischen Ideals zuzugesellen, das theoretisch dem germanischen gleichwertig wäre, dennoch aber für uns praktisch höher stehend, gerade weil es unser ist. Leider verhält es sich aber nicht also; denn diese beiden sind durchaus nicht der Ausdruck zweier verschiedener Rassen, wie die Nichtswisser sich einbilden, die so von Nationaldünkel oder von metaphorischen, aus beson- deren Fällen abgeleiteten Stammesbezeichnungen sich täuschen lassen, sondern sie sind zwei Formen, Stufen oder Abschnitte des Gemüts- undGeisteslebens, wie wir alle wissen, die wir nach langen Arbeitsjahren dazu ge- langt sind, uns in Probleme der Geschichte zu vertiefen. 140 Zwei Abschnitte: der erste davon (das sogenannte lateinische Ideal) ist noch der theologische Zeitraum mit dem Ziel des himmlischen Paradieses, wie bei den Katholiken, oder des Paradieses auf Erden, wie bei den Jakobinern und Demokraten jeder Färbung, er wird in der Zeitrechnung dort als Mittelalter, hier als acht- zehntes Jahrhundert bezeichnet. Der andere hingegen (das sog. germanische Ideal) ist der wahrhaft mensch- liche Zeitraum, in dem das Paradies sowohl im Him- mel als auf Erden geleugnet wird, und die wahre Gottes- oder Vernunftstadt sich als die Geschichte selber darstellt. Dem ersten dient noch die Scholastik, die Vorstellung vom Naturrecht und der Intellektualismus, überhaupt die Philosophie, die sich im extremen Karte- sianismus und in der Ency klopädie erschöpft,dem zweiten die Dialektik, die historische Richtung, der Idealismus, die Philosophie, die in Deutschland durch Kant, in Italien durch Rosmini und Gioberti eingeleitet wurde; beherrscht nun der Gedanke die Welt (wie alle sagen, aber nicht immer mit der Tat bekräftigen), ist es dann nicht klar, daß die Form geistigen Lebens, die von einem überlegenen Gedanken geleitet wird, auch in ihrer Gesamtheit der überlegen ist, die sich nach einem tieferstehenden Gedanken richtet? Diese Überlegenheit wird durch die Auflehnung bezeugt, die sich schon seit Jahren in den lateinischen Ländern gegen die demo- kratische Ideologie bemerkbar machte, und ihren Na- men bald von den verschiedenen Nationalismen, bald sogar vom Sozialismus und Syndikalismus entlehnte; wenn aber diese Versuche auch in ihrer Eigenschaft als Anzeichen sehr bemerkenswert sind, wohl auch noch als etwas mehr, nämlich als satirisch-leidenschaft- liche Verneinungen jener Ideologie, so zeigen sie doch 141 deren Schwäche, die einen mit ihrer Hinneigung zu mehr oder weniger literarischen Sehnsüchten nach unmögHchen Rückschritten und Restaurationen, die andern mit ihrem Anschluß an den Klassenkampf, das heißt an eine einseitige und enge Auffassung der Ge- schichte, als welche die verschiedenartigsten und gröb- sten Angelegenheiten ausschließlich des Proletariertums behandelt. Aber es ist nicht nötig, sich in die Über- treibungen der Nationalisten wie Syndikalisten zu ver- lieren, um zu erkennen, daß die Linie der Geschichte zur Idee des Lebens als Selbstzweck und ewiger Tat, durch die der Mensch und die menschliche Gesell- schaft sich ewig erneuen, hinleitet. Ist das richtig, und bisher hat noch niemand beweisen können, daß es nicht richtig sei (die Gefühlsgründe, die Schimpfreden und ähnliche Albernheiten zählen dabei nicht mit), so würden wir, die wir diese Wahrheit gehegt haben und denen in unmittelbarerer Weise das Amt, diese zu be- hüten, zukommt, unseren Überzeugungen untreu wer- den und eine schmähliche Handlung begehen, wenn wir das sogenannte — übel sogenannte — lateinische Ideal gegen das ebenso übel benannte germanische ins Treffen führen wollten. Freilich meinen etliche, daß zum Nutzen des Krieges und des Vaterlandes aujch das Opfer unserer wissenschaftlichen Überzeugungen erforderlich sei; allein, die so sprechen, denken nicht über diese ihre Worte nach. Täten sie es, so müßten sie sogleich einsehen, daß sie, setzen sie ihr Vaterland in Widerspruch mit der Wahrheit, damit die Verur- teilung ihres Vaterlandes aussprechen, das im un- gleichen Kampf mit der Wahrheit notwendig unter- liegen muß. Dem eigenen Volk, das in größerem oder geringerem Maße in trügerische oder wirre Gedanken 142 verstrickt ist, leistet man nur dann einen Dienst, wenn man die falschen Meinungen richtig stellt und die ver- worrenen aufhellt, in dem ruhigen Bewußtsein, daß nichts von dem, was wohltätigen Einfluß gehabt hat, verloren geht, vielmehr seine Wirksamkeit wächst und an Kraft gewinnt. Denn wer vermöchte im Ernst zu glauben, daß unser Land jetzt für etwas anderes kämpft als für sein Heil und seine Volkskraft, bewußt, damit sein würdig Teil an der Geschichte zu nehmen, ent- schlossen, sich um keinen Preis in die Reihe der un- tätigen und der Völker zweiten Ranges verweisen zu lassen ? Die Reden in den Versammlungen, Umzügen, Festmählern mögen verschiedenen Klang haben ; allein jeder hört aus ihren Klängen die tatsächlichen Emp- findungen heraus, empfindet hinter den Bildern die Tat- sachen, die sich unter ihnen verbergen oder in sie hineingelegt werden müssen. Wehe, wenn er nicht also täte! und wehe, wenn er die herkömmlichen Redensarten als etwas Wirkliches nimmt, und die Hand- lungsweise, die er seinem Lande empfiehlt, logisch daraus ableitet, das heißt in Albernheit und Verderben zu stürzen sucht. Gerade weil unter den Intellektuellen und Politisierenden diejenigen allzu zahlreich sind, die sich dieser üblen Ratschläge schuldig machen, ist es notwendig, daß sich gegen sie andere erheben, die diesen Verrat an der Wahrheit, der zugleich auch Ver- rat am Vaterlande ist, verhindern. Mein Glaube an die Vorzüglichkeit des historischen Ideals (man lasse es mich mit seinem wahren Narrien und nicht unter seinem ethnischen Gleichniswort nennen), an das geschichtliche und kämpfende Ideal des Lebens ist so groß, daß ich überzeugt bin, daß in diesem Kriege die lateinischen Völker und das verbündete und demo- H3 kratisierte England, statt ihr demokratisches oder para- diesisches Ideal zu stärken, es vielmehr allmählich zu zerstören im Begriffe sind, um sich selbst zu stärken, und daß sie sich, nach Schluß des Krieges, in einer gar sehr veränderten Geistesverfassung befinden w^erden, viel w^eniger demokratisch und phantastisch, als sie v^aren und zu verbleiben glauben, viel „militaristischer", das heißt kriegerischer, als sie es seit langer Zeit v^aren. Ich habe außerdem noch einen andern Grund, der mir verbietet, das geschichtliche Lebensideal mit Deutsch- land gleichzusetzen, das es in den letzten Zeiten ohne Zw^eifel besser als andere Völker verkörpert hat ; denn, vsräre diese Gleichsetzung richtig, müßte ich schließen, daß Deutschland, w^ie immer der Krieg auch ausgehe, sein Ideal zur Anerkennung gebracht und seine geistige Führerschaft geltend gemacht habe. Allein mein Glaube und meine Hoffnung gehen dahin, daß v^ir alle, Italiener, Franzosen und Engländer, aus unserm eigenen Innern, aus dem Grunde unserer Menschlich- keit, jene Kräfte hervorbringen v^erden, die w^ir haben unterdrücken, herabsetzen und schv^ächen lassen, und daß wir eine gesündere europäische Gesellschaft w^er- den aufrichten helfen, in der kein Vorv^and und keine Versuchung mehr gegeben sein wird, das geschicht- liche und kämpfende Lebensideal „deutsch" zu nen- nen, weil es, europäisch geworden, zu gleicher Zeit von dem geläutert sein wird, was es zufällig an besonderem, stofflichem und grobschlächtigem Deutschtum enthal- ten hat. Was haben wir (so viele oder wenige wir gewesen sind oder noch sind) auf dem Felde der Forschung getan? Haben wir vielleicht denen Gehör geschenkt, die uns schon im Verlaufe unserer völkischen Wieder- erhebung aufgefordert haben, uns an die ehrwürdige 144 „italische" Weisheit, an Pythagoras, an Zenon von Elea, an Thomas von Aquino oder Marsilio Ficino zu halten, und die Ohren vor den Lockungen der teutonischen Sphinx zu verschließen? Nein, wir haben vielmehr die Ohren recht weit aufgetan vor jenen neuen, seltsamen Stimmen; und ohne sie nachzuäffen, haben wir uns ihrer Unterweisung bedient, um eine neue Philosophie hervorzubringen, die nicht die des vergangenen alten und ältesten Italiens ist, aber auch nicht die Deutschlands im neunzehnten Jahrhundert. So wird es, so muß es auch im politischen Leben in England, Frankreich, Italien geschehen; unsere nationale Eigenliebe würde vortrefflich für sich selbst sorgen, wenn sie uns den Vorrang oder vielmehr den Vortritt in der selbstän- digen Tätigkeit zu sichern suchte, und wenn sie uns Italiener, schlecht und recht ausgedrückt, dazu führte, daß wir ein gutes Beispiel einer modernen Einstel- lung und Haltung des Denkens und WoUens gäben. NOCH EIN WEITERES {September 1916).^) - Ich will eine Artikelfolge Crispoltis erwähnen, damit man nicht sagen kann, ich schweige über die gegen mich gerichteten Kritiken, während ich in Wahrheit von jenen (und es ist die Mehrzahl) schweige, die nicht Kritiken, sondern Torheiten und Beleidigungen sind und mich zu Entgegnungen verleiten müßten, die im gegenwärtigen Zeitpunkt mehr als jemals erbärmlich und zu vermeiden sind. Crispolti freilich begründet seine Kritik sehr gut: nur hängt der Faden seiner Darlegungen an der christ- lichen und katholischen Auffassung, die sicherlich, wenn man sie sich zu eigen macht, die von mir vertretene ^) Anläßlich einer Folge von Artikeln, die Crispolti im Momento dt Torino (9. August fF.) veröffentlicht hatte. 10 Croce, Randbemerkiingen eines Philosophen 14.^ Lehre nicht verträgt; lehnt man sie jedoch ab, so bleibt der von Crispolti angesponnene Faden in der Luft. Es ist unbestreitbar, daß die einzige Auffassung, von der aus man das Leben als einen Kampf um die Macht leugnen kann, die jenseitige christliche ist, die die Menschen auffordert, in Frieden und Brüderlichkeit miteinander zu leben und mit so wenig Sünden als möglich diesen Weg der Pilgerschaft zurückzulegen, der die Welt heißt; ich bin sogar gerade w^eil ich die Erhabenheit einer solchen Auffassung verstehe und fühle, so unerbittlich gegen die andere humanitär- freimaurerische, die nicht ihre Gegnerin, v^ie sie sich einbildet, sondern ihr Zerrbild ist, da sie Frieden, Ge- rechtigkeit und allgemeine Verbrüderung der Welt predigt, — aber der Predigt ihre Stütze nimmt, die eben in der Voraussetzung eines Jenseits liegt. Die wahre und eigentliche Gegnerin der christlichen Auffassung ist aber die von der Wirklichkeit als einer Entwicklung und eines Kampfes, der nicht, wie manche glauben, eine Ausnahme von der Moral zugunsten der Politik fordert, sondern im Gegenteil dem Einzelwesen die strengste sittliche Pflicht auferlegt, die Politik un- abhängig von der Sittenlehre zu behandeln (so wie es strengste sittlicheP flicht des Künstlers oder Forschers ist, auf die ästhetische oder logische Vollkommenheit seines Werks bedacht zu sein, ohne sich von nicht zur Sache gehörigen sittlichen Wallungen abziehen zu lassen). Mit andern Worten, das Einzelwesen ist berufen, an dem leidensvollen Geheimnis des Werdens der Wirklichkeit teilzunehmen, darum auch an dem ewigen Kampf, der von der alltäglichen Reibung bis zum be- waffneten Widerstand oder dem Krieg reicht; es kann sich nicht anmaßen, die Gesetze — die göttlichen Ge- 146 setze - der Welt zu ändern, sondern muß allein die Sache des Volkes, von dem es einen Teil ausmacht, verfechten und den Posten, der ihm von seinen be- sonderen Bedingungen her angevvriesen vvrorden ist, bis zum Äußersten behaupten: im Vertrauen darauf, daß aus seinem ehrlich und streng erfüllten Wirken das größtmögliche Gute sprießen wird. — Aber diese Auf- fassung ist religiöser Art! w^ird man sagen. — Wies euch gefällt^ — aber sie gehört dann zu jener Religion, die zugleich Philosophie ist. VON ITALIENS GESCHICHTE {Critica XIV, Juli igi6). — Ich stehe nicht an zu sagen, entgegen den herkömmlichen Vorurteilen und Redensarten der land- läufigen Geschichtsschreibung, und v^eiche damit gleich- wohl nicht von dem tiefen Allgemeinbewußtsein ab, daß die italienische Geschichte keine alte und jahr- hundertlange, sondern eine neue, keine geräuschvolle, sondern eine bescheidene, keine glänzende, sondern eine von Mühsal erfüllte ist. Neu: das heißt es muß aus ihr nicht nur — wie es die Geschichtsschreiber des romantischen Zeitraums versuchten — die Geschichte Altroms ausgeschieden werden, sondern auch die mittelalterliche der Stadt- gemeinden — die jene Geschichtsschreiber hingegen in enge Verbindung mit ihr brachten, — ferner selbst die Renaissance, deren wir uns erst später zu rühmen be- gonnen haben. Diese drei oder zwei (wenn man die Geschichte der Stadtwesen und der Renaissance als eine einzige betrachtet) großen Geschichten sind längst vollkommen überwunden und, ist der Ausdruck erlaubt, verdaut, und obwohl sie für immer der allgemeinen Geschichte der Menschheit angehören, so gehören sie io» 1 47 doch nicht mehr unserer eigenen wirklichen und be- sondern Gegenwart. Ist das ein Paradoxon? Nicht im geringsten ; das ergibt sich aus den Worten der Erzähler und Verherrlicher jener Geschichten selbst, in denen Italien nach ihrem Ausspruch Europa die antike Ge- sittung und antikes Recht, die neue bürgerliche Ge- sittung im Handel und Gewerbe, die moderne im Sinne des Laientums gehaltene Auffassung von Mensch und Staat „geschenkt" hat. Nun, was man „geschenkt" hat, kann man nicht wieder zurücknehmen, und es ist nicht mehr unser, sondern höchstens ebenso unser wie derer, die wir zu Teilhabern eines längst allgemein ge- wordenen Gutes berufen haben. Will man noch einen andern Beleg? Was hat Italien getan, nachdem es seine Renaissancegesittung über ganz Europa verbreitet hatte ? Es verfiel, sagen die Geschichtsschreiber, das heißt, es bewahrte nicht allein nicht jenen Vorrang, sondern es erwies sich andern Völkern als unterlegen und geriet nacheinander unter die Vorherrschaft der übrigen Nationen. Und was tat es nach dem Verfall? Es er- hob sich von neuem, antwortet die landläufige Ge- schichtsschreibung. Was heißt aber dieses Wiederer- heben, wenn nicht ein Aufstreben zu neuen Zielen, der Beginn einer neuen Geschichte? Diese hat ihre Vor- boten im achtzehnten Jahrhundert, verstärkt sich durch den Wendepunkt der französischen Revolution, ge- winnt im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts Gestalt und bewegt sich immer in aufsteigender Linie. Es handelt sich also längstens um die Geschichte von anderthalb Jahrhunderten: eine neue Geschichte, und wie ist es möglich, in dem italienischen Angesicht von heute die vorherrschenden Züge des Römertums, des mittelalterlichen Bürgertums oder des Renaissance- 148 menschen zu erkennen? Dafür sind höchst ausgeprägt die der Gesittung des achtzehnten Jahrhunderts und der französischen Revolution, obwohl gemildert durch die geschichtlichen Erfahrungen der Folgezeit und die Einwirkung des heutigen Weltlebens : daher des weitern die in unserm Lande merkbaren Gegensätze zwischen humanitären und patriotischen Zielen, zwischen gleich- machenden und gliedernden, individualistischen und staatlichen, unter Überwiegen der erstem. Ich habe die italienische Geschichte nicht bloß neu, sondern auch bescheiden genannt. In der Tat, was ist bis jetzt ihr Inhalt gewesen.? Sich auf die Stufe der vorgeschritteneren Länder Europas zu erheben, am europäischen Leben nicht nur im leidenden Sinn (in dem Italien, wie es unausweichlich war, auch in den Zeiten seines Verfalls teilgenommen hat) zu beteiligen, sondern auch im tätigen und handelnden. Einst Lehrmeister der Gesittung in der Renaissance, fand sich Italien seinen Schülern gegenüber im Zustand der Unterordnung, und dieses Bewußtsein der Unterlegenheit, das sein acht- zehntes Jahrhundert hatte, war ein Ansporn zu den Be- mühungen, sich wieder zu erheben und auf gleichen Fuß mit den andern zu stellen. Daher die Reformen, die Unabhängigkeit von der Fremdherrschaft, die Auf- lösung des politischen Bandes mit der katholischen Kirche, das heißt die bürgerliche Unabhängigkeit, die Einigung, das heißt die Entwicklung zu einer ansehn- lichen und gefestigten staatlichen Individualität, die ge- sellschaftliche und wirtschaftliche Umbildung, die Förderung von Gewerbfleiß und Handel, die Erneuerung der Kultur und so fort. Ein sehr ansehnlicher Inhalt, aber trotzdem bescheiden; und an Bedeutung der Ge- schichte jener Völker, die unterdessen der Welt neuen 149 Anstoß gaben, nicht vergleichbar; unvergleichbar auch der Geschichte Italiens in den drei großen, früher er- wähnten Zeiträumen. Wer sich davon überzeugen will, braucht sich nur die Geschichte Europas im acht- zehnten und neunzehnten Jahrhundert zu vergegenwär- tigen; er wird finden, daß Italien an ihr nur insoweit Anteil hat, als, bin ich versucht zu sagen, „es Anteil haben wollte." Gewiß, es hat in diesem Zeitraum den Wissenschaften und Künsten hervorragende Männer geschenkt, ansehnliche Beiträge zur Weltarbeit geleistet; allein die wirklich neuen Strömungen sind nicht von ihm ausgegangen, es hat vielmehr nur an jenen Bewe- gungen Anteil genommen, die schon vorher anderwärts zutage getreten waren. Endlich eine mühselige Geschichte, gerade deshalb, weil sie nicht aus der reifen Kraft eines Volkes hervor- bricht, sondern einem Heilungsvorgang vergleichbar ist, in dem sich die Kräfte langsam wiederherstellen, unter Rückfällen, Schwächezuständen und vielfachen Spuren der überstandenen Übel, desgleichen unter neuen Schäden, die aus der Anstrengung, die eigenen Kräfte anzuspannen, hervorgehen. Die sicherlich über- mäßige Neigung der Italiener zur Literatur ist nicht ohne Grund; denn es ist Tatsache, daß sie dieser den Beginn ihrer Wiedererhebung verdanken : eine Wieder- erhebung, die vom Gehirn ausgegangen, sich den Gliedern mitgeteilt hat, nicht wie in andern Fällen, auf dem umgekehrten Wege. Aber dieser Ursprung aus dem Gehirn hat notwendigerweise auch Ungleich- heiten mit sich gebracht, zwischen Träumen und Wirklichkeiten, zwischen Vorsätzen und Taten, und angesichts der Größe der Erwartungen, geringfügige Ergebnisse. Es ist nicht nötig, glaube ich, dieses Urteil durch das schwermütige Verzeichnis der Unter- nehmungen zu bekräftigen, zu denen Italien sich an- geschickt und an denen es gescheitert ist oder kärgUche Früchte geerntet hat; oder mit der Aufzählung des ungeheuerlichen Aufwandes, den uns jeder unserer Fortschritte gekostet hat. Spricht man, wie alle tun, von dem Glück, das uns zur Seite stand, so ist das ohne Zweifel oberflächlich, wenn man dabei vergißt, daß man, um der Hilfe des Glücks teilhaft zu werden, auch in Bereitschaft gewesen sein muß, sich seiner zu be- mächtigen. Allein man spricht die Wahrheit, wenn man mit diesem Bilde einfach die Mühseligkeit der italie- nischen Geschichte herausstellen will, die sich ihr Strombett nicht durch kraftvollen Ansturm der Ge- wässer geschaffen, sondern da und dort den Pfad ge- sucht hat, Hindernisse umgehend und die Wege nutzend, die sich vor ihr auftaten. OPTIMISMUS (Juliic)i6). - Ich weiß recht gut, daß diese meine Betrachtungen über die Geschichte Italiens pessimistisch angehaucht erscheinen werden und daß man (wie es wirklich in ziervoller Weise geschehen ist) sagen wird, sie seien eine neue Niederträchtigkeit von mir, um „unsern Krieg zu sabotieren" oder (mit einem andern, den Zeiten mehr angemessenen Bilde, das ebenfalls auf mich angewendet worden ist) daß sie „indirekte Schüsse" bedeuten, um „Italien zu treffen und seine Feinde in Schutz zu nehmen." Es sind das Albernheiten, die mich nicht aufregen, da sie von der Art sind, wie sie stets über den ausgeschüttet werden, der es verschmäht, falsche und ungesunde Urteile sich zu eigen zu machen, die man ihm gewaltsam auf- drängen will, und der versucht, so zu urteilen und zu reden, wie es die Wahrheit erfordert. Das Sonderbarste ist aber, daß die von mir vorgebrachten Darlegungen, w^eit entfernt davon, mich zu pessimistischen Schluß- folgerungen zu führen, vielmehr optimistische haben. Ich gehöre und habe niemals zu den. Vielen gehört, die so oft an Italien und an seiner Zukunft verzv^eifel- ten, obgleich ich niemals v^eder im Frieden noch im Kriege, weder für Italiener noch vielleicht für irgend etwas anderes in der Welt, das Amt des Lobredners ausgeübt habe, so schön dies Amt auch sein mag, zu dem mir aber sicherlich etwas nicht zu Entbehrendes fehlen muß: Temperament, Stil, Wärme, Eifer oder weiß Gott noch was. Ich begreife nicht, weshalb bei der Fülle dieser Ware auf dem literarischen Markt die Leute sich so arg darüber beschweren, sie bei mir nicht zu finden, das heißt gerade an der Stelle, wo man sie am wenigstens zu suchen hat und wo man dafür Waren von geringerem Glanz, aber deshalb doch vielleicht nicht ganz ohne Wert, finden kann. Ist mithin Italien gehalten auf seine ruhmreiche Vorgeschichte, auf die Geschichte der zwei oder drei vorausgehenden Italien, zu verzichten, und muß es sich auf seine eigene, kurze, moderne beschränken, so ist das, nach meiner Ansicht, eine Wohltat für Italien, und sehe ich diese Erkenntnis zutage treten, wie in dem Ausspruch, daß hier ein „junges Volk" sei oder in der Mahnung „die alten Ruhmestaten beiseite zu lassen", so freue ich mich dessen, weil ich darin die Italien von Natur gegebene Tugend des gesunden Menschenverstandes aufleuchten sehe, der sich mit einer schlichten Gebärde der widergeschichtlichen An- sicht von den Völkern als festumschlossenen Indivi- dualitäten, metaphysischen Seinsarten, bevorzugten oder verworfenen Geschöpfen freimacht. War das etwa ein großes Italien, das sich mit den Erinnerungen an das alte Rom belud und in Verschen von der Art Meta- stasios über sie deklamierte? Oder war das ein kluges Italien, das sich am „Primat" Giobertis berauschte? Hat dem heutigen Deutschland die phantastische AnStückelung seiner ganz modernen und preußischen Geschichte durch die Erinnerungen an Hermann, an die Nibelungen, die Ottonen, an Friedrich Barbarossa großen Nutzen gebracht, die ihm die Versuchung nahe legten oder sie in gefälligen Farben zeigten, die Ge- schichte der Völkerwanderung und des Weltkaisertums nachzuahmen? Und wo steht es geschrieben, daß man, um würdige Taten zu vollbringen, sich einbilden müßte. Ahnen zu besitzen, die man nicht hat oder die uns nicht mehr zugehören, und sich auf das trübe Be- wußtsein von einer göttlichen Auserwähltheit zu ver- lassen, bekräftigt durch eine sagenhafte Geschichte, die in unsern aufgeklärten Zeiten einigermaßen nach Betrug schmeckt? Ebensowenig hat die zweite Behauptung von dem bescheidenen Charakter der italienischen Geschichte irgendwie pessimistischen Sinn, da kein Volk die Welt- lage, in der es sich zum Handeln berufen sieht, er- schaffen kann, genau so, wie kein Mensch beanspruchen kann, erhabene Unternehmungen auszuführen, wenn der Lauf der Ereignisse ihm nicht den Stoff dazu bietet ; wohl aber erweisen Einzelwesen und Volk ihren Wert, wenn sie die Aufgabe, die ihnen von Fall zu Fall gestellt wird, gut erfüllen. Anderseits ist es für ein Volk etwas so Seltenes, einer Epoche den Namen zu geben, daß dies keinem jemals zuzweien Malen geglückt ist— (außer Italien, wo aber auch eine scharfe Unterscheidung not tut) ; darum kam vorlängst durch üble Verallgemeinerung der Gedanke auf, jegliches Volk sei in seinem Augen- blick berufen, seine Rolle auf dem Geschichtstheater zu spielen, um dann abzutreten und für immerdar zu schweigen; daher die „Folge der Monarchien", die „Dialektik der Völker", die Weissagung von der Voll- endung oder vom Ende der Menschheit um des Mangels willen, der sich eines Tages an neuen, zu den ersten Rollen berufenen Völkern herausstellen würde! Und obgleich man, die sogenannte Weltgeschichte aus dem Groben betrachtend, die Behauptung aufstellen könnte, sie habe sich bis jetzt in Vorherrschaften dargestellt, so ist es doch wahrscheinlich, daß dieser Rhythmus jetzt erschöpft oder doch gründlich abgeändert ist, wenigstens bei den Völkern, die die europäische Ge- sittung ausmachen ; und obwohl eine solche Folgerung denen sehr unerfreulich klingen mag, die das Amt von Schulmeistern des Menschengeschlechts für etwas über- aus Schönes halten, so wird doch andern die Schau der Völker Europas als etwas viel Schöneres erscheinen, die als eine Gesellschaft von Gleichen leben, zusammen arbeiten, wetteifern, voneinander lernen, wohl auch miteinander kämpfen, bald dies, bald jenes Sieger in diesem oder jenem Bereich des Lebens, allein jedes frei unter Freien, ohne den höchsten magister oder imperator^ und ohne die pax germanica oder einen andern Vor- mund, einen Frieden^ der ein Sumpf für Beherrschte und Herrscher wäre. Demnach sehe ich für das neue Italien keinen Grund zur Klage, wenn aus seiner Ge- schichte nicht erhellt, daß es „zum drittenmal als Herrscherin" erschiene oder zu erscheinen bestimmt sei. Was ich ferner als das Mühselige seiner Geschichte bezeichnet habe, so ist das ohne Zweifel etwas, das uns 154. die Schranken unserer Kräfte, die Mängel unserer Sitten und Einrichtungen immer mehr zum Bewußtsein zu bringen geeignet ist, uns ferner überlegter in unsern Entschlüssen, behender in den anzuwendenden Heil- mitteln, immer mißtrauischer gegen die Fürsprecher gewagter Unternehmen und ungeduldiger gegen Fest- redner und sonstige Schwätzer zu machen. Allein die unablässige Kritik, die hochzuehrende, falls tätige Unzufriedenheit, die sich aus der geschichtlichen Be- trachtung ergibt, ist gerade das Gegenteil jenes Ge- fühls der Verzagtheit, das sich Pessimismus nennt. Denn jene geschichtliche Einsicht in den langsamen und mühseligen Fortschritt im Leben Italiens ist gleich- wohl die Einsicht in einen Vor-, nicht Rückschritt, einen um so wertvollem Fortschritt, je mehr er be- hindert ist, uns um so teurer und heiliger, je mehr er uns gekostet hat, um so wunderbarer, je tiefer die Stufe, von der wir ausgegangen sind. Wie ich schon erklärt habe, tauge ich nicht zum Lobredner und mag mich auch jetzt nicht in dieser Weise vernehmen lassen; will aber ein anderer sich daran machen, dem jenes Tempera- ment, jener Stil, jener Eifer und jene Wärme, die mir offenbar fehlen, zur Verfügung stehen, so rate ich ihm (was er ja wohl tun wird), den Gegensatz zwischen dem Italien vor anderthalb Jahrhunderten oder selbst mit dem vor sechzig Jahren und dem von heute wohl ins Licht zu stellen: das verlumpte Volk und die erbarmungs- würdige Bauernschaft von damals mit dem Stadtvolk und den kräftigen und blühenden Landbewohnern von heute; die Schwärme von Bedienten, Lakaien und sonstigem Gesindel mit den heutigen Arbeitern, mögen sie auch in sozialistische Verbände gepreßt sein; die wenigen überaus gelehrten Männer und die unüber- 155 sehbare Menge der Unwissenden damals mit der weit und gleichmäßig verbreiteten Bildung von heute; die Wenigen von heldenhafter Anlage, die stolzen Seelen, „die in verderbter Zeit gelebt", mitten in einer niedrig gesinnten, feigen und verängsteten Gesellschaft, mit den Vielen von heute, denen die Gelegenheit fehlt, sich zu Helden und stolzen Seelen zu entwickeln, in denen aber eine allgemeine Redlichkeit und Würde lebt, die früher selten war; oder noch besser, das politische und militärische Italien, das sich der französischen Revolution und der napoleonischen Macht gegenübergestellt sah, das Italien von 1815, 1820/21, von 1848/49, ja selbst das von 1859/60 mit dem heutigen, das nach langem leidenschaftlichen Streit seinen Platz in dem Völker- kampf gewählt hat, seinem Ideal und seiner Auffassung folgend, seinen leitenden Männern gehorchend, und das zum erstenmal seit Jahrhunderten, vollkommen geeint einen großen und harten Kampf besteht, dessen schwere Lasten mit klarem Geiste auf sich nehmend und gefaßten Mutes seine Leiden tragend: das Italien von heute, in dem alle Stämme, einst fast unbekannt miteinander, von den entferntesten Gegenden her sich wirklich einig und als Italiener fühlen, in dem selbst die Weiblein und Buben mit lebendiger Teilnahme das Werk des nationalen Heeres verfolgen, das die Alpen verteidigt, bessere Grenzen für den Staat zu er- ringen, ihm die Straßen nach Afrika und dem Orient zu sichern trachtet. Sicherlich bleibt uns noch viel zu lernen und zu arbeiten übrig, um den Platz, den wir uns unter den großen Völkern erworben haben, wür- dig festzuhalten und zu erweitern ; allein, was geleistet worden ist, erscheint wie ein Traum, wenn man die äußersten Enden, den Ausgangspunkt und den, zu dem 156 man gelangt ist, vergleicht; vor allem erhebt uns die Wahrnehmung, daß jeder Schritt ein Schritt nach vor- wärts gewesen ist, jeder Fehler eine Warnung, das Jahr 1848 dem Jahr 1821 ebenso überlegen wie 1859 jenem und 191 5 dem Jahr 1866. Daß mithin dieser Krieg selbst nicht allein einen Fortschritt über die Vergangen- heit hinaus bedeuten wird, sondern zugleich eine Er- fahrung, die uns ein klareres Bewußtsein unser selbst und der modernen Welt, in der wir leben, verleihen und uns anspornen wird, in Zukunft allen Teilen unseres nationalen Lebens eine bessere Richtung zu geben. „ITALIENISCH-FRANZÖSISCHE GE- SELLSCHAFT". EIN WORT FÜR DEN ERNST DER WISSENSCHAFT {Dezember 1916). — Ich setze voraus, daß der Plan einer Vereinigung, die die italienischen Studien in Frankreich bekannt machen soll, sich in nichts von andern Plänen unter- scheidet, die man ausgedacht hat oder ausdenken könnte, um diese Studien in welchem Teil der Welt immer zu verbreiten. Sollte aber in diesem Plan (und wahr- scheinlich verhält es sich also) der Hintergedanke an irgendein Bündnis zwischen italienischem und fran- zösischem Denken stecken, im Namen einer angeb- lichen Rasseneinheit, nach Abkunft oder Geschichte, einer bestehenden oder zu entwickelnden Verwandt- schaft zwischen italienischem und französischem Geist und eines gemeinsamen Anderssein dem anderer Völker gegenüber, so müßte ich zum Schutze der höchsten Daseinsgründe aller Wissenschaft dagegen Einsprache erheben. Denn wollte man selbst die selt- samen Auffassungen von der Gleichartigkeit oder Rasse sowie der Brüder- oder Vetterschaften zwischen Völkern zugeben, so wäre die Schlußfolgerung, die man ziehen müßte, der gerade entgegengesetzt, die man gewöhn- lich macht ; das heißt, es wären vielmehr die Beziehungen zwischen den ethnisch und historisch sich ferner- stehenden Völkern herzustellen, ist der Satz richtig, daß Ehen zwischen Nächstverwandten, so verführerisch und so herzlich eingeleitet sie auch sein mögen, gefähr- lich sind, während die Ehen zwischen Fernstehenden eine kräftige und lebenstüchtige Nachkommenschaft erzielen. Es ist in der Tat allgemein bekannt, welchen Nutzen Deutschland daraus gezogen hat, das es zuerst bei Italien, dann bei Frankreich in die Schule gegangen ist und wieviel anderseits uns Italienern die englische und deutsche Dichtung und Literatur genützt hat, um unseren Geist zu bereichern und unsere Bildung auf demselben Wege wie unsere neue Dichtung zu nähren. Allein die Wissenschaft den Stammes- und Kultur- verwandtschaften unterordnen, heißt nicht allein in schädlicher Weise den Kreis der geistigen Ehen ein- engen, sondern auch die Wahrheit zu einer praktischen Angelegenheit machen, zu einem physiologischen, kulturhaften und politischen Erzeugnis, und sie damit in ihrer göttlichen Freiheit verneinen, in ihrem Grund- wesen als Wahrheit selbst, die fortwährend aus dem menschlichen Streben quillt, aber auch fortwährend über dieses hinwegschreitet. Als Pfleger der Wissen- schaft sind wir zuerst solche und erst in zweiter Linie Italiener, und kein Nationalismus, kein politischer An- teil wird uns jemals verleiten können, eine minder- wertige Philosophie, nur weil sie italienischer oder französischer Herkunft ist, anzunehmen und eine höher geartete, weil deutscher Herkunft, zurückzuweisen; so- wie niemals die Anhänglichkeit an das Vaterland oder •5.8 an eine politische Partei einen Astronomen dazu be- wegen wird, die irrigen Berechnungen eines lateinischen Bruders anzunehmen — ich spreche von Astronomie, weil ich unter den Namen der Förderer des neuen Instituts den Astronomen Professor Celoria finde; ich möchte ihn hier fragen, ob es wirklich eines eigenen Instituts oder einer internationalen Ruhmesagentur be- darf, um die Entdeckungen und die astronomischen Verdienste eines Piazzi und Schiaparelli in Frankreich, Deutschland oder England bekannt zu machen? Was das anbelangt, werden wir, während des Krieges wie späterhin, trotz der Forderungen der politischen Kanne- gießer und Ränkeschmiede, die uns nahelegen wollen, in der Wissenschaft die sogenannten, ganz mytho- logischen „italienischen Überlieferungen" aufrecht er-, halten, in der Wissenschaft, die das Eigene hat, daß vor jedem ihrer Schritte jede Überlieferung zu- nichte wird — ; trotz diesen Forderungen also, die einen gröblichen Angriff auf dife Unabhängigkeit der Wissenschaft bedeuten, durch Leute, die glauben, alles könne und müsse sich ihren Bequemlichkeiten und Launen fügen, wollen wir damit fortfahr«n, die Wahr- heiten zu hören und entgegenzunehmen, woher sie auch kommen mögen, ohne uns darum zu küm- mern, ob in den Adern ihrer Urheber lateinisches oder germanisches, keltisches oder jüdisches Blut fließe, weil alles dies nicht das mindeste mit der Wahrheit zu tun hat. Darum, liebe Freunde, um es auf fran- zösisch zu S2igtn, fichez nous la paix mit der lateinisch oder anglo- lateinischen oder slavo-anglo- lateinischen Wissenschaft! Weshalb ewig auf diese langweilige Sache zurückkommen ? Weder Ihr noch andere werdet jemals etwas mit ihr erreichen, aus dem einfachen 159 Grunde, weil man schlechterdings nichts mit ihr er- reichen kann. FÜR DEN ERNST DES POLITISCHEN EMP- FINDENS [Dezember igi6). — Hier glaube ich zu fühlen, wie mich jemand am Ellbogen zupft und mir sagt: — Schon recht, aber man muß wirklich recht dick- schädelig sein, um nicht einzusehen, daß alle diese „Ge- sellschaften", „Institute", diese „A/Z/ances'^ und „Ami- tUs^^ einen wesentlichen und praktischen Zweck haben, ganz verschieden von dem anscheinenden und wissen- schaftlichen, den du zu kritisieren unternimmst; einen politischen Zweck, der darin liegt, gewisse Gruppen von Menschen auszuwählen und bereitzuhalten, damit sie fortwährend oder wenigstens in gewissen ernsten Augenblicken auf die öffentliche Meinung einwirken und den politischen Beziehungen der beiden Länder Nachdruck verleihen. — Nun gut, das habe ich wohl auch verstanden, allein gerade das hätte ich nicht zu verstehen gewünscht, oder besser, ich hätte gern davon zu sprechen vermieden ; nun sehe ich freilich, daß dies nicht angeht. So frage ich mich denn, mit welchem Rechte ein Bürger über Fragen politischer Art zu einem Einverständnis, einer Vereinbarung, einer Kundgebung des Anteils, oder wie man's nennen will, mit Bürgern fremder Staaten kommen kann. Ich glaubte zu wissen, daß die Beziehungen der Staaten, ihre Gegensätze, Er- örterungen und Verhandlungen bloß die betreffenden Regierungen angingen und eine dem Vorgehen der ein- zelnen, die den Staat bilden, gänzlich entzogene Sache ausmachten ; daß mit Auswärtigen wohl der Austausch von Waren, die Zusammenarbeit in der Wissenschaft, Bande der Freundschaft möglich seien, jedoch gerade i6o dies eine verwehrt sei: über Angelegenheiten zu ver- handeln, die die politischen Beziehungen der betreffen- den Länder angehen ; — alles das v^urde mir durch einen Grundsatz der Anstandslehre bestätigt, daß man mit Fremden niemals über Politik sprechen dürfe, v^rill man nicht Gefahr laufen, je nachdem entw^eder gegen die (eigene) Würde oder gegen das Zartgefühl (der andern) zu verstoßen. Es kann sich unter anderem ergeben, daß der Lauf der Dinge die Staaten, denen die Bürger in solchen Verbänden angehören, in Gegnerschaften ver- v^ickelt; dann werden die in diesen angeknüpften Bande zu Hemmungen, Verlegenheiten oder Ärgernissen für die Erwägungen oder Entschließungen der leitenden Männer, die allein verantwortlich und allein zuständig sind, weil sie die allein tatsächliche Lage in ihrer Gesamt- heit überblicken, aber die Unverantwortlichen und Un- zuständigen sich entgegenarbeiten sehen, mit ihren törichten oder aus trüben Quellen stammenden Vor- schlägen, mit ihrer nicht weniger törichten Berufung auf die „Sympathie" oder die „Freundschaft". Das ist nicht so gemeint, als ob in freien Staaten, auch was die äußere Politik anbelangt, der Beitrag freier Erörterung und Meinung durch die Bürger verwehrt sein solle; aber eben bloß als Erwägungen, die man im Familien- kreise anstellt und die von jedem Schatten praktischer und gefühlsmäßiger Verbindlichkeit frei bleiben sollen, von jenem „Einvernehmen" zwischen Gruppen von Privaten, die fast schon den Beginn politischen Handelns und Antriebe zu Bündnissen darstellen, die dem Wohl des Vaterlandes entgegen sein können. Es ist demnach Pflicht eines jeden, der das politische Empfinden in Italien gesund erhalten und immer ernsthafter machen will, die Bildung internationaler Verbände zwischen II C r o c e , Randbemerkungen eines Philosophen I O I Privatleuten nicht zu begünstigen, oder aber sie im Auge zu behalten und darüber zu wachen, daß ihnen die Mög- lichkeit zu schaden benommen werde, sie sich vielmehr einfach auf Empfänge von Akademikern und Feier- lustigen beschränken, die sich beeifern, von den be- treffenden Regierungen wenn möglich Ordensauszeich- nungen zu ergattern und untereinander auszutauschen. Wer dem geschichtlichen Ursprung der „internationalen Freundschaften" nachgeht, wird finden, daß diese haupt- sächlich französischer Herkunft sind und mit der Politik der französischen Revolution zusammenhängen, aus jener Zeit, als franzosenfreundliche Gesellschaften sich in Italien, wie in manchen andern Ländern Europas, aufgepfropft auf den Stamm der freimaurerischen Ge- setze, zu bilden begannen ; er mag darüber nachdenken, was dank diesen Gesellschaften sich ereignet hat, und sich der Verrätereien gegen die nationalen Regierungen, zu denen sie auch auf den Schlachtfeldern Anstoß gaben, und der daraus folgenden Unterdrückung durch die Fremdherrschaft erinnern. Seit jener Zeit haben die Franzosen, stets dessen eingedenk, daß es ihnen schon einmal gelungen war, das Gefüge der Staaten zu brechen, dadurch, daß sie eine Art von neuem ideologischen Staat in deren Schoß pflanzten — und mit den Franzosen zu- sammen ihre Nachahmer in der Demokratie — immer wieder von neuem versucht, die Politik der Völker von der Politik der „Staaten" zu sondern und dieser ent- gegenzustellen, das großherzige „Gefühl" der Völker den trüben „Interessen" ihrer Monarchien, und einen Dualismus gehätschelt, der seinen Förderern zuweilen schlimme Streiche gespielt und bittere Enttäuschungen gebracht hat. Mit andern Worten, die Verbände der „Völker", die „Freundschaften", die internationalen 162 „Sympathien" bilden einen Teil jener Gesamtheit von Methoden und Mitteln, die das demokratische und freimaurerische Dogma ausmachen ; und hat der gegen- wärtige Krieg gezeigt — wie es sicher der Fall ist — wie kurzsichtig dieses politische Dogma ist, wie viel Blut und Unheil es kostet, die Übel, die es hervorbringt, gut- zumachen, und wie dringend es mithin ist, die Gemüter Italiens im Verlauf des Krieges und später von ihm zu reinigen, so wird klar, weshalb man von jetzt an jed- weder Vereinigung solcher Art entgegenarbeiten muß, der italienisch-französischen, italienisch-englischen, ita- lienisch-russischen, italienisch-japanischen oder in der Zukunft einer italienisch-deutschen, italienisch-bulga- rischen, italienisch-griechischen oder welcher immer. Wünschen wir uns mit allen Völkern lebhafteste Han- delsverbindungen wie lebhafteste geistige Verbindungen; erweitern wir den Umkreis unserer privaten Freund- schaften durch solche mit den Menschen der verschie- densten Völker, nicht allein, weil dies in uns das Gefühl der Humanität vertieft, sondern auch, weil es dem Geiste Nutzen bringt, ihn von Vorurteilen läutert und mit neuen Kenntnissen, neuen Antrieben bereichert; lehnen wir es ab, Mitschuldige zu werden an den Überheblich- keiten, Verleumdungen, Plattheiten, an dem Schmutz, den jedes Volk gegen das andere schleudert, nament- lich die „Nachbarvölker", die ausersehen scheinen, sich nach Art der Bauern benachbarter Gemeinden zu hassen : — aber von italienischer Politik wollen wir nur unter uns Italienern reden und uns stets in Bereitschaft halten, jedes Volk, auch das, welches am meisten zu unseren Herzen oder zu unserer Phantasie spricht, als Gegner zu betrachten, falls die Leiter des Staates es uns eines Tages als solchen bezeichnen sollten. Die poli- "• 163 tischen Angelegenheiten — das ist's, was man, ich weiß nicht warum, nicht hören will, was aber den Wert eines Axioms hat — sind nicht unsere privaten Angelegen- heiten, auch nicht durch unser zärtliches Herz umzu- formen, sondern sie gehören jenen Leviathanen an, die man die Staaten nennt, jenen ungeheueren Lebewesen mit ehernen Eingeweiden, denen zu dienen und zu ge- horchen wir verpflichtet sind; und diese haben ihrerseits gute und gewichtige Gründe, einander scheel anzusehen, sich die Zähne ins Fleisch zu schlagen, sich zu zer- reißen und zu verschlingen, in Anbetracht dessen, daß die Weltgeschichte sich bisher allein in dieser Weise abgespielt hat und im Wesen auch immer so abspielen wird. ORGANISATION UND GESCHICHTLICHES WESEN {Critica XV, März 1917). - Ein vor kurzem erschienenes Buch (E. Giovannetti, Der Unter- gang des Liberalismus, Bari 19 17), weit ausgreifend in seinen Überblicken und sehr lebendig in der künst- lerischen Darstellung, bricht eine Lanze gegen die „libe- rale Idee" der lateinischen Länder und Englands und für die „Organisation" — ein häßliches Wort, das ein- stens die Anhänger der französischen Revolution im Munde geführt haben und das heute wieder bei den Bewunderern der deutschen Macht in Schwang ge- kommen ist. Und in der Tat, solange der Verfasser die beiden verschiedenen Auffassungen in ihrem Gegensatz zeichnet und die Überlegenheit der zweiten über die erste dartut, verficht er eine unumstößliche These, denn, wie ich schon ein andermal darzulegen gesucht habe, heißt dies die Überlegenheit des Reifern über das weniger Reife anerkennen, des Denkens des neun- 164 zehnten über das des achtzehnten Jahrhunderts, der sozialen Wirklichkeit über einen abstrakten Idealismus. Allein, sobald der Verfasser zur Beurteilung von poli- tischen Bildungen und Einrichtungen fortschreitet, er- heben sich in mir nicht geringe Zweifel ; um diese alle in einem einzigen zusammenzufassen, möchte ich nur meiner Befürchtung Ausdruck verleihen, es könnte die „Organisation", das greifbare Ideal sozialen und poli- tischen Lebens selber in abstrakter, jakobinermäßiger Weise aufgefaßt werden. Ich sage absichtlich „Befürch- tung", weil wir nach dem Kriege vielleicht allenthalben in unsern Ländern die Mahnung, den Antrieb, den Be- fehl zu „organisieren" erleben werden ; sehr häufig wird aber eine Maske ohne lebendiges Antlitz dahinter „or- ganisiert" werden, eine neue gesellschaftliche Lüge, ein schön ausgestattetes Titelblatt, hinter dem sich Gewalt, Trug und ähnliche Dinge verbergen werden. Um schon jetzt allem Hinterhalt und der Gefahr vorzubeugen, muß man sich eine Seite des Organisationsgedankens recht deutlich machen, die einfach „Seite" genannt werden kann, wenn man das Wort an den richtet, der sie übersieht, die aber in Wirklichkeit das Wesen und den lebendigen Hauch dieser Idee darstellt und ihr wirksame Kraft verleiht: die feste Überzeugung von der Ehrfurcht, die man der Geschichte schuldig ist. Denn wahrhaftig, „organisieren" ist bald gesagt, wer aber hat denn die Kraft, die virius^ zu organisieren? Es erfordert das Autorität, und wo findet sich diese, das heißt, die mit Ehrfurcht betrachtete Macht, von Ver- trauen umgeben, und darum sich selbst vertrauend.? „Wohl sind Gesetze, doch wer führt sie aus?" Und will nicht „Organisation" eine besondere gesellschaftliche Ordnung besagen, oder nicht vielmehr jede Ordnung, .65 die organisch, nicht mechanisch, lebendig, nicht tot ist? War die „organisierte" JesuitenrepubHk in Paraguay „or- ganisch" oder nicht vielmehr die anscheinende Anarchie des italienischen Städtelebens im dreizehnten und vier- zehnten Jahrhundert? Und v^äre — nehmen w^ir es als Beispiel oder als Bild — ein Neapel auf deutsche Art „organisiert" etwas Organisches, mit seinen Schaum- schlägern, die bei diesem Anlaß den Mund vollnähmen mit Redensarten deutscher Prägung, mit seinen Ver- waltungen, die auf deutsche Art die ortsüblichen schlech- ten Gewohnheiten in ein System brächten, wie sie es bereits nach französischer, freimaurerischer oder Block- manier, wie man es nennen will, tun, und mit den klugen Zuschauern (bei uns sind die Klugen immer Zuschauer), bereit zur Ironie und zum Spott? Wäre diese wenig anziehende Vorstellung einem Neapel nach deutscher Art gegenüber nicht das alte Neapel weitaus organischer zu nennen, von Hof- und Kirchenleuten verwaltet, die eine lange geschichtliche Überlieferung hinter sich hatten und viel Gutes wirkten, wie es die Einrichtungen, die sie hinterlassen, und die Denkmäler, die sie errichtet haben, bezeugen? Der Begriff der Or- ganisation — nicht der vernünftelnden, jakobinischen, sondern der von innen heraus wirkenden, dialektischen — erfordert an erster Stelle das Nachforschen darüber, wie- viel an Lebendigem, noch Wirkungs- und Entwick- lungsfähigem in den sozialen Einrichtungen und Klassen vorhanden ist, und die daraus sich ergebende Klugheits- forderung, dieses Lebendige (mag es auch hie und da fehlerhaft, übersteigert und zwiespältig erscheinen) nicht zu opfern, nicht dem Wahnbild einer vermeintlichen Regelmäßigkeit und Einfachheit nachzulaufen, das sich bei der Umsetzung in die Wirklichkeit als unfruchtbar i66 und ohnmächtig herausstellen oder zu den Mißbräuchen des Alten die Fehler des Neuen hinzufügen würde. Wer jemals an Verwaltungsgeschäften teilgenommen hat, wird bei seinen ersten Schritten eines jugendlichen Ra- dikalismus an sich selbst die Erfahrung gemacht haben, daß ihip, wenn er zuweilen an Stelle des Ungeregelten das Geregelte setzen wollte, das Ungeregelte unter den Händen starb und das Regelrechte nicht geboren wurde, und wird sich, nicht ohne innere Gewissensbisse des landläufigen Sprichworts vom lebendigen Esel, der mehr wert ist als der tote Doktor, erinnert haben. Es ist dies sogar der natürliche Weg, auf dem man vom Radikalen mehr oder weniger zum Konservativen wird, nicht etwa, wie die Spötter sagen, weil auf die warme jugendliche Hochherzigkeit die kalte und berechnende Nützlich- keitsgesinnung des reifen und bejahrten Menschen folgt. TOTE UND LEBENDIGE GESCHICHTLICH- KEIT [März 1917). — Die Gewissenserforschung der nationalen Politik, die wir anstellen müssen, die Er- weckung der Reue und der Vorsatz, der daraus folgen muß, bestehen also in erster Linie in der Erkenntnis, daß in den Ländern des Abendlandes während der letz- ten hundertfünfzig Jahre allzuviel und allzuhastig zer- stört worden ist. Man müßte die Stimmen jener Min- derheiten sammeln und wieder auf sie achten, die im Verlauf der Zerstörungen Einspruch erhoben und warn- ten, besonders in den gefährlichsten Augenblicken, so bei der Ausbreitung der französischen Revolution oder bei der des auf Einheit zielenden Italiens; es sind das Stimmen, die selbst in unserer Dichtung Widerhall fanden, so in den Sonetten Alfieris, wo man unter ande- rem lesen kann: 167 Alt ist die Welt und stets war dies ihr Lauf; Doch ohne aufz,ubauen zu zerstören, • Das trifft allein der starre Gallierschädel. Freilich, vorbei ist vorbei, und mir fällt es sicherlich nicht ein, zu Klagen über nahe und ferne Vergangen- heit aufzufordern, und noch viel weniger zu empfind- samen, phantastischen und theatermäßigen Wieder- belebungsversuchen, und obv^ohl ich gerade die Terzine Alfieris angeführt habe, w^ill ich doch auch noch die Anrufung des guten Kaisers Barbarossa durch Heinrich Heine hierhersetzen: Das Mittelalter, immerhin Das wahre, wie es gewesen, Ich will es ertragen — erlöse uns nur Von jenem Zwitterwesen. Von jenem Kamaschenrittertum, Das ekelhaft ein Gemisch ist Von gothischem Wahn und modernem Lug, Das weder Fleisch noch Fisch ist. Jag fort das Komödiantenpack Und schließe die Schauspielhäuserj Wo man die Vorzeit parodiert — Komme du bald, o Kaiser! Nein, nichts von Mittelalter aus Pappendeckel, von ancien regime französischer Nationalisten, von Teutonen- tum nach Art italienischer Jungen, auch nicht einmal von Monarchie vom Schlage Marie-Antoinettes, w^ie sie einst unser Bonghi ersehnt hat; nichts von Erzeug- nissen in Retorten und Destillierkolben, nicht Helme Don Quijotes! Aber auch in unserem Italien, hervor- gegangen aus einer Folge von Umwälzungen, „ge- wachsen" (wie Carducci gesagt hat) „im freien Sonnen- licht" Frankreichs, gibt es viel Vergangenheit, viel i68 Geschichtliches, das noch Dienste zu leisten fähig ist; sogar in unserer Staatsverfassung, wo wir eine Herrscher- gewalt haben, die einst eine vortreffliche und strenge Dienerin ihrer Völker war, als sie noch auf ihr altes Piemont beschränkt war, und die eine treue Dienerin, eine .nachsichtige Mutter, voll mäßigender Klug- heit gewesen ist, als sie sich über Gesamtitalien er- streckte: eine Monarchie, die wir nicht stückweise zu- sammenzuklauben brauchen, wie es die französischen Nationalisten tun müssen, aus dem Sumpf, in den ihre Königs- und Kaiserfamilien hinabgesunken sind, son- dern die ihren geschichtlichen Zusammenhang und ihre sittliche Würde gewahrt hat. Und eine Kraft der Überlieferung liegt in dem nicht mit Unrecht gerühm- ten gesunden Sinn der Italiener, gebildet aus Bescheiden- heit, Ergebung und Mut. Eine Kraft der Überlieferung ist ebenso unser künstlerischer Geist, der das Körper- und Formhafte liebt und gleicherweise die zügel- lose Einbildung wie die tüftelnde Überlegung verab- scheut. Kraft der Überlieferung ist die Abneigung gegen Mystik, Theologentum, der wissenschaftliche und philo- sophische Realismus, der sich in verschiedenen Arten und Abstufungen in allen Landschaften Italiens und in allen ihren Schulen bemerkbar macht. Und Kraft der Überlieferung ist ebenso das „zu lachen wissen" über Schwulst und Taumel aller Art, lehrhafter oder prak- tischer Natur, ist das sofortige Zurückführen falscher Traumgröße auf ihr kleines Maß. O hegen und pflegen wir doch das alles, das vorhanden ist, und entwurzeln wir es nicht, um an seine Stelle Gewächse zu setzen, die schwerlich Wurzeln schlagen werden ! Der scharf- sinnige Verfasser des früher angeführten Buches ver- spottet den Begriff der Nation, und ist durchaus im 169 Recht, sagt dreimalheilige Dinge, wenn er ihn darauf- hin betrachtet, was er an Naturwissenschaftlichem und Materialistischem enthält,und für jeden modernen Geist, der sich zuerst und wesentlich als Mensch fühlt oder wenigstens als europäischer, sicherlich nicht nationaler Mensch fühlt, etwas Erniedrigendes hat. Aber es gibt ein anderes Nationalgefühl, gar sehr dem Familiengefühl verwandt, ein Gefühl, das mit dem zusammenfällt, was in der Sittenlehre die „Pflicht gegen den Nächsten" heißt und das nicht bloß die Nation, sondern selbst den Gau und den Kirchturm umfaßt; und hier heißt es mit Kritik und Satire vorsichtig sein, um nicht durch ihre ätzenden Säuren, zusammen mit der naturwissenschaft- lichen Kruste auch das ideale Mark zu verletzen; nament- lich in Italien, insofern das Nationalgefühl bei uns eine ziemlich neueErrungenschaft oderÜberlieferung ist, sehr viele Überwinder des nationalen Bewußtseins überhaupt niemals ein solches wirklich besessen haben, aus einer Überwindung (wie es aus der Philosophie her bekannt ist), die heilsamerweise nur dem gegenüber eintreten kann, was man besessen hat, niemals aber dem gegen- über, was man niemals sein genannt hat. Es scheint mir, daß der Verfasser diese Vorsicht außer acht läßt, wenn er, habe ich recht verstanden, von einer Art freier Wahl zwischen den Vaterländern spricht: etwas, das mir, offen gesagt, widerstrebt, weil ich in dieser Hinsicht der Meinung Dantons bin, daß man das Vaterland nicht an den Schuhsohlen trage; und so schmeckt mir auch nach Egoismus der Gedanke, das Vaterland auf- zugeben — es sei denn, man wäre dazu durch unaus- weichlichen Zwang genötigt — weil man es, obwohl es das von Natur gegebene, als uns nicht entsprechend ansieht, um eines bessern, aber künstlichen willen; denn 170 ich habe das Gefühl — oder sollte dies religiöser Aber- glaube sein? — daß die Vorsehung uns dort, wo sie uns zur Welt kommen läßt, auch die Ausübung unserer Pflichten auferlegt. DIE NEUE ORGANISATION (März 1917). - Dennoch scheint alles, was ist, dazu bestimmt, sich umzubilden, das heißt zu sterben, und ich leugne nicht, daß gesellschaftliche Einrichtungen und Formen, die ich in Italien noch für lebensfähig halte, eines mehr oder weniger nahen oder fernen Tages unter ruhigen oder stürmischen Abendröten vergehen werden. Ich leugne nicht einmal, in theoretischer Hinsicht, daß es eines Tages ebenso zeitwidrig und töricht sein wird, sich als Italiener, Franzosen, Spanier zu bekennen, wie heute als Herzog, Fürst oder sonstwie als Feudalherrn. Wenn ich auch die deutsche Klugheit verstehe und schätze, die im modernen Leben sogar gewisse mittelalterliche Einrichtungen, gewisse feudale Klassen, gewisse barba- rische Verhaltungsweisen zu bewahren und auszunützen verstanden hat, als einzigartiges Beispiel der von den Soziologen gemeinsam als widersinnig verurteilten Ver- bindung einer militärischen mit einer industriellen Ge- sellschaft, so bin ich doch weit davon entfernt, diese vorübergehenden geschichtlichen Bildungen in Götzen- bilder und Fetische zu verwandeln, ihnen Ewigkeit und ewig wirksame wohltätige Kraft zuzuschreiben. Wenn alle diese einst kraftvollen und heilsamen gesellschaft- lichen Gebilde allmählich gealtert sein und absterben werden, will ich es gerne den Dichtern überlassen, sie zu verklären und zurückzusehnen, sowie sie es schon mit den Burgfrauen des Mittelalters, den Zinnentürmen und den fahrenden Minnesängern getan haben. Auch 171 vermag ich nicht, um dergleichen auf der Hand liegen- der Voraussichten willen, düster und trübe in die Zu- kunft zu blicken, noch mich durch die Bilder eines „Verfalls des menschlichen Geschlechts", wie es die positivistischen Soziologen zu tun pflegen, abschrecken zu lassen, oder durch solche vom Untergang der Welt, wie ihn die Anokalyptiker aller Zeiten ausmalen; der- gleichen Todesbetrachtungen, nicht allein auf die Einzel- wesen gerichtet, sondern auf alle menschlichen Ein- richtungen, ja selbst die Völker — auch diese sterben, obwohl ein schönrednerisches Schlagwort besagt, daß „ein Volk nicht stirbt" — sind, wie leicht einzusehen, eine Quelle des sozialen Pessimismus, der in den all- gemeinen Weltschmerz ausmündet. Jegliches stirbt, nur der Geist nicht, der alle sterblichen Dinge geschaffen hat und stets in der Lage und am Werk ist, neue zu schaffen, ja gar nichts anderes zu tun vermag. Und hieran liegt es, daß die Pflicht, die sich zu der gesellt, nicht leichtsinnig das Bestehende und das noch zu nütz- lichen Diensten fähige Alte zu vernichten, auch die Pflicht ist, das Neue zu schaffen, die neuen Überliefe- rungen, da auch das Alte, Tote oder Sterbende einstens neu gewesen und nicht vom Himmel gefallen, son- dern durch Geistes- und Willensanstrengung der Men- schen geschaffen worden ist. Diese Pflicht ist um so stärker und dringlicher in den Ländern unseres west- lichen Europa, weil, wie gesagt, allzuviel zerstört worden ist; darum wäre es aber doch kein ernstzunehmender Gedanke, Gerippe und Knochen zu sammeln, um aus ihnen lebendige Menschen zu bilden, die in der idealen Welt ebenso wie in der physiologischen nicht durch Verfahren von Einbalsamierern, Totengräbern und anderen Friedhofsangestellten hervorgebracht werden. 172 So schließt also die Betrachtung, die mit der Geschichte und Kritik des Schlagwortes der „Organisation" ein- geleitet wurde, mit der durchaus nicht verwunderlichen und immer richtigen Folgerung, die erste und grund- legende „Organisation" sei die, die wir fortwährend mit unserem Geist und Gemüt vorzunehmen gehalten sind, und von der die äußerlichen „Organisationen" nur Sinn- bilder darstellen, die gerade so viel wert sind als die ver- sinnbildlichte Sache. m LITERARISCHES ZWISCHENSPIEL SCHRIFTSTELLER AUS DER ZEIT VOR DEM KRIEGE (Crü.XFlAug.igiyY-M.BARRES. — Ist es möglich, große Gefühle oder gar große Ge- danken vorzutäuschen, wenn man bloß elementare und krankhafte Empfindungen hat? Sicherlich, falls sich zu dieser natürlichen Beschränktheit ein nicht weniger natürlicher Scharfsinn zugesellt und der „Be- weisgrund des Geistes" zum „üblen Wollen", das heißt in diesem Fall zum „üblen Empfinden" hinzukommt. Nun, gerade Moritz Barres scheint mir — ich spreche, wohlgemerkt, vom Künstler, nicht vom Menschen — eine Seele, die, streng genommen, in ihrem Grunde nichts anderes als ein Gewimmel ungesunder Neigungen aufweist, zum Teil aber vorgeführt als das Verhalten eines überlegenen Geistes, zum andern erweitert zu einem politischen und nationalistischen Gefühl, so- wie zu einem sittlichen und geschichtlichen Dogma. Von seinen ersten Büchern an erscheint er als Nach- ahmer Stendhals, der diese Quelle seiner Eingebung mit andern von Baudelaire und Flaubert (dem Flau- bert der Salammbo und der Tentattons) gespeisten ver- mischt .und beide trübt, indem er Stendhal seiner naiven Vorliebe für das Kraftvolle und Leidenschaft- liche, auf dem seine Dichtung ruht, entkleidet, Baude- laire des Abscheus vor sich selber und seines Sinnes für menschliches Mitleid, und von Flaubert das 174 Schlechteste annimmt, nämlich das, was gerade in sei- nen minderwertigen Werken zum Ausdruck kommt. Barres' culte du moi ist nichts anderes als Stendhals egotisme (ein Wort, das er übrigens selbst gelegentlich als gleichbedeutend verwendet): Napoleon tritt auch bei ihm als „Lehrer der Spannkraft" auf und erteilt ihm Lehren einer „Methode im Dienst der Leiden- schaft" ; dem Andenken Napoleons oder seiner Gruft leisten seine Gestalten den Treueid, wie vorher Julian Sorel oder Fabrice del Dongo, und sie bemühen sich, gleich Stendhals Helden, „soviel als möglich zu fühlen, indem sie soviel als möglich zergliedern";. ebenso ent- nehmen sie ihr Rüstzeug der religiösen und kirchlichen Welt, und streben sie auch nicht wie ihre Ahnen die Prälatur an, so ziehen sie sich doch zeitweise in ein fast klösterliches Leben zurück, nehmen die geistlichen Übungen des heiligen Ignatius zum Leitstern und wollen für die Anbetung des Ich die gleiche „Hygiene" anwenden, die vordem die geistlichen Orden für jene Gottes gebraucht haben. Aber wenn die Helden Sten- dhals auf irgendwelche geräuschvolle Taten, außer- ordentliche Leidenschaften oder politische Herrschaft zielten, so schätzen die Barres' keine andern Werte als „gewisse Nervenkitzel, die die Welt weder kennt noch empfinden kann, und die wir in uns vervielfältigen müssen". Der Sozialismus, als eine „Magenfrage", er- weckt ihnen keinen Anteil, da sie bereits seine gute Seite ausgeschöpft und für ihren Magen gesorgt haben, und da damit die leiblichen Bedürfnisse erledigt sind, so trachten sie, „ihrem Feingefühl die seelische Be- friedigung zu geben, die es fordert" ; ihr Problem ist nicht das quid agendum^ sondern das quo modo gauden- dum: „das Ergebnis ist nichts, alles liegt in der Erkun- düng", wie Barres zu wiederholen liebt, in einem ganz andern Sinn, als dieser Formel bei ihrem Ursprung innewohnte, denn „Erkundung ist alles", bedeutet für ihn „Lust ist alles". Derart daß, während Stendhals egotisme die verdrehte Form des Egoismus ist, der culte du moi nur die Form ist, die wir, um es nicht in unserer Sprache sagen zu müssen, auf französisch co- chonne nennen wollen. Und die cochonneries, die Barres fast in allen seinen Büchern, besonders in Du sang, de la volupt^ et de la mort vorbringt, sind unsagbar ; wollte man sie sammeln und zusammenstellen, so würde man glauben, die Paragraphen einer Abhand- lung über geschlechtliche Pathologie niederzuschreiben : Vorliebe für Blutschande, für verschieden betonte und gleichzeitige Liebeshändel, für Wollust und Blut, für frevelnde, verbrecherische und schändliche Lüste, vor allem für die Verbindung des Bildes der Liebe mit denen von Zerstörung und Auflösung, Tod und Lei- chen. Lassen wir den Vorhang darüber fallen, umso- mehr als es für uns Kritiker höchst überflüssig ist, Dinge zu zergliedern, die im Schrifttum des neun- zehnten Jahrhunderts recht alt sind und die wir längst bei ganz andern Künstlern und mit ganz anderer Be- tonung getroffen haben. Was aber hervorzuheben not tut, ist eine und die andere Stelle, in der Barres deut- licher enthüllt, was er vom Menschen denkt; so wenn er, die Aufregungen einer corrida schildernd, sagt: „Feine Geister erheben sich aus dem vergossenen Blut, ein Duft durchdringt uns und weckt das reißende Tier in uns. Für die Menschheit ist das ein Jungbrunnen; jüngster Jugend, noch derTierheit nahe", oder wenn er seinen Helden Sturel, den er in die tiefsten Niederun- gen des Pariser Lebens führt, den Gedanken aus- 176 sprechen läßt: „Ich kann wohl meine individuellen Eigenheiten haben, denn keine Blüte der Welt ist an- dern Blüten gleich, aber ich tauche hinab in das, was allen Menschen gemein ist und was nur den schärfsten Blicken sich enthüllt. Ich nehme an der Tier h ei t teil. Wir sind ursprünglich geboren, um zu beißen, zu erbeuten, zu zerfleischen." Weiter- sinnend darüber, endigt er damit, sogar auf die Goethe- schen „Mütter" zurückzugreifen. Nun beweisen Ge- danken, wie die eben angeführten— da, was ursprünglich, auch wesentlich ist — ausdrücklich, was man im übri- gen dem ganzen Schaffen Barres' entnehmen kann: daß er keine Ahnung von der Geistigkeit des Men- schen hat, derart, daß er die „jüngste Jugend" nicht in das Auge des Kindes verlegt, das vor dem Schauspiel der Welt erstaunt, sondern in die Begierde des Tieres, jenes Tieres, das letzten Endes der verwandelte Mensch selbst ist, nicht das wirkliche Tier, das man nicht ver- leumden sollte, wie es üblerweise getan wird. Gar manche Leser werden zuweilen vor Barres' Blättern in Verwirrung geraten sein und sich die Frage vorgelegt haben, ob der Verfasser im Ernst spreche, oder scherze und sie zum besten halte; der wackere Bourget nennt in der Einleitung zu jenem andern ver- kehrten Meisterwerk, dem Disciple (auch dies ein Gemengsei aus Stendhal, läppisch geworden durch das Hineintragen einer albernen philosophisch-moralischen Tragik), den Homme libre des „ausgezeichneten Zer- gliederers Hrn. Barres" ein „Meisterwerk der Ironie, dem bloß eine Bekehrung fehlt". Nun, fehlt diese „Bekehrung" — die innerliche Bekehrung, nicht etwa * ein angekleisterter Schluß, der wohl leicht hinzuzufügen gewesen wäre — so fehlt alles und die Ironie ist un- 12 Croce, Randbemerkungen eines Philosophen 177 möglich ; denn diese erfordert gerade, daß der beschrie- bene Seelenzustand überwunden und ersetzt werde. Barres ist kein Ironiker, obwohl, wie oben erwähnt, ein scharfsinniger Geist, der sich wohlbewußt ist, daß gewisse Dinge nur erträglich sind, wenn sie einfach und derb herausgesagt werden ; so sagt er sie also bald im Ton lehrhaften Ernstes, bald aus zerrissenem und angewidertem Gemüt heraus, bald mit fast scherzhafter Übertreibung, nicht etwa weil er sie wirklich unter sich gebracht hat, sondern vielmehr, weil er sie in sich trägt und zur Schau stellen will, indem er auf diese Art vermeidet, allzuviel Ärgernis zu erregen, sich offen sittlichen Tadel zuzuziehen ; so verschafft er sich dank diesem Ton ein Alibi. Er ähnelt einem Lasterhaften, der nicht umhin kann, von seinem Laster zu sprechen, es aber mit einem gewissen Geist uiid vor allem mit der Geschicklichkeit des Mannes von Welt tut. Was für eine Kunst aus einer solchen Geistesanlage entspringen kann, ist leicht vorauszusehen. DerBarres- schen Prosa kann malender und klanglicher Reiz, Kraft des Ausdrucks, Darstellungsvermögen keines- wegs abgesprochen werden; allein das alles sind be- sondere und äußerliche Vorzüge, und im Lebensatem dieser Prosa fühlt man nicht die Kunst — die Kunst, die uns so häufig in den Strophen der Fleurs du mal ent- gegenklingt und die auch das Schamlose keusch macht — , sondern die Rhetorik des Unreinen und Schänd- lichen, eine Rhetorik, die nur verwirren, niemals läu- tern kann. Man denke an seine wichtigsten Frauen- gestalten, die Berenice des Jardin de Berenice oder die Asiatin Astine der Deracines und frage sich selbst, ob man sie Geschöpfe der Kunst zu nennen sich getraue, * wie man es doch vor der Lady Macbeth oder Madame 178 Bovary tut. Es sind mehr Geschöpfe zügelloser Ein- bildung als künstlerischer Phantasie. DER SINNLICH GERICHTETE NATIONA- LISMUS. — Wie alle trübgestimmten Sinnesmenschen, können auch Barres' Helden nicht anders denn Wider- willen gegen werktätiges Handeln, insbesondere die Politik zu empfinden, namentlich gegen die klügelnde^ demokratische, die gleichsam eine der ihren entgegen- gesetzte Einseitigkeit darstellt — Intellektualismus ge- gen Sensualismus — und derer^ Mängel und Irrtümer sie sofort durchblicken. Auch darin liegt nichts Neues, auch dies ist in Barres' „Quellen" vorhanden; sein Eigen- tum ist bloß der neue StofFzur Beobachtung, die französi- sche Politik, an der der Verfasser mit beteiligt war, na- mentlich zur Zeit des Generals Boulanger und des Pana- mahandels. Sein Scharfsinn leistet ihm auch hier gute Dienste ; mit Spannung und nicht ohne Nutzen liest man den Zeitbericht, den er in den Deracines, im Appel au Soldat^ in Leursßgures von jenen Jahren gibt, und bewun- dert oft seine Kunst soziologischer Typengestaltung, die in vielen der von ihm gezeichneten Figuren bemerkens- wert ist und in der des Professors Boutellier gipfelt, des Erziehers mit den Grundsätzen der Vernunftmoral, des guten Republikaners, des starren Freimaurers, des vortrefflichen Regierungsagenten für die Wahlvorbe- reitung, in der Art, wie er sich zum Abgeordneten wählen läßt, verwickelt in die wenig säubern Ange- legenheiten des Panamahandels: es ist eine Gestalt, wie sie leider in der Politik des westlichen Europa nicht selten vorkommt, eifernd und heuchlerisch, ärger als ein Pfaffe und wie ein solcher zugleich unduldsam und geschmeidig. Allein Barres will sich nicht auf 12« IJC^ diese verneinende Kritik beschränken und stellt darum eine gegensätzliche Politik, eine gegensätzliche Lehre auf: die von der stammhaften und völkischen Seele, im Widerspruch zur abstrakten Seele der Nationalisten und Demokraten. Auch das ist eine ziemlich alte Lehre, die nur die sprunghafte Entwicklung der fran- zösischen Kultur im neunzehnten Jahrhundert hat original erscheinen lassen können; genau so wie aus demselben Grunde viele Leute in Frankreich verführt worden sind und es noch werden, in Hippolyt Taine einen selbständigen und tiefen Denker zu sehen, der, um es geradeheraus zu sagen, trotz der Verehrung, die der Mensch und der Forscher verdienen, viel mehr in die Geschichte der Kultur als in die der Wissenschaft gehört, in welch letzterer man kaum angeben kann, was er Neues gefunden hätte, außer einigen Paradoxen, gut genug für das Anekdotenwesen. Auch Barres bringt ihn als eine geheimnisvolle, verwirrende Geistes- kraft auf seine Bühne, erklärt ihn für „einen ver- ehrungswürdigen Schriftsteller durch die Fülle seiner Gaben, die Kraft, mit der er sie ordnet, durch seine Erfassung des modernen Göttlichen" und urteilt, daß er namentlich als Lehrer für kraftvolle Geister, fähig, die unvermeidliche Bürde wahrhafter Intelligenz zu tragen, gelten müsse; gleichsam, als wäre er ein Vico oder ein Hegel gewesen. Die Lehre von den natio- nalen, ja selbst den regionalen Werten gehört (wie jeder weiß, der irgendwie Einblick in die Geschichte der modernen Philosophie und Historiographie ge- wonnen hat) dem Rückschlag gegen Aufklärertum und Jakobinismus vom Beginn des neunzehnten Jahr- hunderts an ; sie gründet sich auf den Begriff des Allge- meinen als Sinnfälligkeit und Individuation und wendet i8o sich daher nicht in Vereinfachungssucht etwa gegen die „Humanität des erleuchteten Jahrhunderts", sondern gegen deren abstrakte Form, und nimmt diese in sich auf, indem sie sie berichtigt und vervollständigt. In der Tat v/ürden Nation und Landschaft, abgetrennt vom Begriff der Menschheit, gar keinen Sinn mehr haben, nichts Menschliches und darum auch nichts Wertvolles; ihr Wert liegt darin, dem politischen Menschen den Stoff darzubieten^ der verarbeitet wer- den muß, nicht mehr und nicht weniger, verarbeitet und nicht etwa beiseite geworfen um eines eingebil- deten, aus den Wolken zu holenden Inhalts willen ; so wird dem Erzieher oder dem, der sich selbst erzieht, nicht eine Aufgabe gestellt, die für alle gleich ist, son- dern eine Aufgabe, die aus bestimmten Anlagen und ' Verhaltungsweisen, aus einer bestimmten Blutmischung sich ergibt. Daher vermochte Barres, der so gänzlich jeden Gefühles für wahre Menschlichkeit und Geistig- keit bar ist, auf keinerlei Weise zum Begriff der Nation und der Region zu gelangen, weil dieser im höchsten Sinne geistig ist, das heißt viel tiefer als jener armselig geistige, weil bloß verstandesmäßige des Professors Bouteiller. Wie mag es nun gekommen sein, wäre es auch nur dem Scheine nach, daß er für den Apostel des französischen Volks und der lothringischen Land- schaft gilt, und über diesen Gegenstand in seinem reifen Alter ebenso viele Bände geschrieben hat als in der Jugend über Liebeleien, umwittert von Weihrauch und Blut; trunken von der Sucht für das Unreine und die Vorboten der Verwesung? Gerade auf diesem Wege, dem der Sinnlichkeit, ist er dahin gelangt; den Übergang hat ihm die Landschaft vermittelt, jene traurige, wollüstige, sinnliche Landschaft, an der er in i8i seinen ersten Büchern so viel Gefallen fand und die allmählich, ohne ihr innerstes Wesen zu ändern, zur Landschaft wurde, durch die die Seelen der toten Ahnen schwanken, und die die Aufgabe bestimmt, derer harrend, die in ihr zur Welt kommen: ihre Pflicht gegen Frankreich ; so werden diese, falls sie im Rationalismus erzogen werden, falls versucht wird, sie zu Menschen, nicht zu Geschöpfen der Scholle zu machen, „Entwurzelte", d&acines. Denn auch der Regionalismus hat, wie überhaupt der Mensch bei ihm, seine Wurzeln, ja seine ewige Jugend im Tier, und der Götzendienst des landschaftlichen Ich ist nur ein neuer Abschnitt im Götzendienst des persönlichen Ich ; daher ist Barres' Nationalismus (wie der vieler an- derer französischer Nationalisten literarischer Her- kunft) ein sinnlicher Nationalismus und vermag als solcher nur mit einer gewissen absichtlichen Über- steigerung, die auch blague heißt, aufrechterhalten und verkündet werden. SINNLICHER UND GEISTIGER NATIONA- LISMUS. — Von einem derartigen Nationalismus aus gaben sich vor dem Weltkriege manche in Frankreich den Anschein, der deutschen nationalen Lehre Wider- part halten zu können; diese letztere hat aber ihre geistigen Voraussetzungen im Protestantismus wie in der idealistischen Philosophie, und ihre Übertreibung, das Alldeutschtum, schöpft seine Kraft aus primitiven theologischen Anschauungen von einem auserwählten Volk, wie sie zuweilen auch in den Aussprüchen einer naturwissenschaftlichen Völkerkunde zutage tritt: es sind das alles Dinge, die, wenn auch trügerisch, so doch viel edler und sicherlich viel reinlicher als tierische \%2 und triebmäßige Unterstellungen sind. Ebenso ist edler und reinlicher, im Gegensatz zu ihnen, auch die rationalistische und demokratische Ideologie nach Art Bouteillers — nebenbei gesagt, versteht man nicht, warum Barres ihn gerade zu einem Nachfolger Kants macht, der in dieser Hinsicht ein Philosoph des Übergangs ist und den Rationalismus in seiner Reinheit, dessen wahre Klassiker in Frankreich zu finden sind, nur unvollkommen vertritt. Die demo- kratische Ideologie ist wohl eine zurückgebliebene, aber sie gestattet den Übergang zu einer höhern Form, ist sogar in gewissem Sinne ein notwendiger Bestandteil in der Entwicklung jedes Menschen, zusammen mit dem Republikanertum, das in einem Lustspiel von Pailleron die „politische Blatternkrankheit" {rougeole politique) genannt wird. Allein der sinnliche Nationalismus ist eine richtige Verfallslehre und bietet jener Kritik, die Fortschritt ist, gar keine Stütze. So kann es nicht wun- dernehnien, wenn die zahlreichen Schriften, die Barres bei Kriegsausbruch veröffentlichte, getrieben von dem Verlangen auch seinerseits nach Möglichkeit zum Kampfe und zum Widerstand seines Volkes beizu- tragen, allgemein als frostig und abgeschmackt emp- funden worden sind; denn er hätte sich, um ein so ernsthaftes, schweres und prosaisches, oder auch dich- terisches aber prosaisch-dichterisches Ereignis wie den Krieg würdig zu erfassen, geistig erneuern und von vorne beginnen müssen ; solche Vorgänge von Erneue- rung und Wiederherstellung brauchen aber Zeit. Hätte er wenigstens die Notwendigkeit einer solchen Erneue- rung in sich verspürt, so würde er sich in sich selbst zurückgezogen und geschwiegen haben. Allein er wollte sprechen; da aber klang seine Rede falsch, .83 so vortrefFlich auch seine Absichten gewesen sein mögen. P. CLAUDEL. — Ich möchte sagen, daß die näm- liche krampfartige Erregung, wie bei Barres der Na- tionahsmus, bei Claudel die Religion ist; und ich brauche dazu keinen andern Zeugen als ihn selbst, nämlich die ans Obszöne streifenden Worte, in denen er seine Lust, sich dem Katholizismus zu verbünden, schildert: „Sättigung, wie durch die Nahrung, eine Be- friedigung gleich der, die in der Vereinigung der Ge- schlechter liegt." Beim Lesen seiner Bühnenstücke ver- mag ich niemals, leihe ich auch dem musikalisch-philo- sophisch-lyrischen Singsang seiner Figuren mein Ohr, den Geruch des Tieres, der Bestie, des Geschlechtlichen loszuwerden, und es erhebt sich in mir immer wieder die fast ärgerliche Frage : Bei welchem Dichter, bei welchem großen und bei welchem wahren, wenn auch noch so bescheidenen Dichter war jemals dieSe Form der Erregung zu finden, die im neuesten Schrifttum immer mehr an Ausdehnung gewinnt.? Gewiß nicht bei dir, gewaltsam-leidenschaftlicher Dante, der du den Schauer des Fleisches so wohl kanntest und in deiner Terzine ausgedrückt hast, ihn mit sittlicher Schamhaftigkeit umhüllend und verklärend; nicht bei dif, liebevoller Meister Ludwig, der du zugleich zart und klug zu sein verstandest, und sogar aus deinem Exemplar des Furioso ein paar Oktaven ausmerztest, in denen deine komische Einbildungskraft und deine Meisterschaft in der Beschreibung sich allzusehr gehen ließen; nicht bei dir, empfindungsreicher und wol- lüstiger Tasso, der du auch die Gefallsucht der Ar- miden zur Demut der Liebe gezwungen hast; nicht 184 bei euch, Foscolo und Leopardi, euch modern-roman- tischen Geistern, erfahren in Süßigkeit und Wut der Liebe, stets verhebt und stets von Schönheit träumend; ihr, die ihr so keusch in euren Versen gewiesen seid. Und ebensow^enig bei allen andern Dichtern jeglicher Zeit und jeglichen Volkes, die ich mir durch den Sinn gehen lasse, die, sicherlich nicht kühl oder düster und asketisch, dennoch sämtlich um die Verhältnisse der Dinge Bescheid w^ußten und in der „göttlichen Proportion" der Kunst die Trunkenheit, die Raserei, die Krankheit an ihren Platz zu stellen v^ußten, sie aber nicht zu Königinnen krönten. Befindet man sich hingegen unglücklicherw^eise unter den seelischen Be- dingungen eines Claudel, so muß man nicht zur Lite- ratur greifen, sondern viel eher — w^ie soll ich nur sagen ? — zum Reisen, um seine armseligen und lächer- lichen Tragödien der Sinne durch die Schau der Werk- tätigkeit, der Bewegtheit, der Tragödie der w^eiten Welt zu beschämen und zu bändigen; oder zur kör- perlichen Arbeit, unter Arbeitern der Hand, wo denn die Gewöhnung das richtige Verhältnis herstellen und den Sinn des Lebens, der in Arbeit liegt, wieder zurückgeben wird. Claudels Bühnenstücke sind mit allen ihren Ansprüchen auf philosophische Tiefe und erhabene Dichtung doch nur ein nervenkrankes Irre- reden; und wann sind Irrereden und Pathologie jemals Dichtung gewesen .? Da aber Poesie auf solche Weise nicht erreicht wer- den kann, so ist die Gestalt der Glaudelschen Dramen auch formlos: ein Blinken von Bildern, ein rhythmi- scher Kitzel, die einen überströmenden Reichtum vor- täuschen — etwas, das D'Annunzio verführt hat, mit vollen Händen daraus zu schöpfen — , das aber tatsäch- ■85 lieh arm und eintönig ist. Vor allem ist die Tongebung falsch, denn richtige Tongebung bedeutet geistige Herr- schaft des Dichters, und hier ist weder Herrschaft noch Dichtung, und die NachäfFung eines nicht geringern als des äschyleischen Tuns vermag dafür keinen Ersatz zu geben. So spricht etwa einer von seinen Helden, ein Schuft und Taugenichts, mit seinem süßen jungen Weibchen, das er aus Liebe geheiratet hat und das ihn über alles liebt (das aber freilich bald einen andern lie- ben wird, wenn es sich in ihn vergaffen konnte !) ; er, der sich jetzt zu einer andern Frau hingezogen fühlt, sagt in deren Gegenwart zu ihr: O Marthe, ma femme! o Marthe, ma femme! — O douleur, hdas ! — o douce - am^re ! certes je t'appellerai am^re, car il est amer de se sdparer de toi! — O demeure de paix, toute ma- turitd est en toi ! — Je ne puis vivre avec toi, et ici il faut que je te quitte, car c'est la dure raison qui le veut, et je ne suis pas digne que tu me touches. — Et voici, que mon sdcret et ma honte se sont ddcouverts! — C'est le corps qui l'a voulu, car il est puissant chez les jeunes gens et il est dur quand il tire. — Et il est vrai que j'y ai consenti et je voulais mentir et cacher, mais voilä que cette action s'est ddcouverte — Et je me suis pris a cette femme et je lui suis attachd fortement, et je sais qu'elle ne te vaut pas, et eile n'est pas honnSte. — Elle m'aime, et moi je ne puis me d^prendre d'elle! O ma femme! O ma femme qui es ici! Tu es ici et il faur que je te dise adieu! Diese Sprache ist falsch, nicht nach dem Spruch der rhetorischen oder realistischen Kritik, die leugnet, daß ein Mensch dieses Charakters in dieser Lage so sprechen dürfe (denn man wird sagen, die Personen Claudels wollen nackte Seelen, nicht Menschen sein), sondern weil sie in sich selbst falsch ist, als Lyrik, die sie zu sein vorgibt. Und ebenso sind es alle seine an- dern Sachen: Tete d'or^ Jeune ßlle Vtolaine^ La Ville^ Partage du Midi und Otage, mit ihren in Hingabe und i86 Opfer heroisch-stupiden Geschöpfen, mit ihren heroisch- verbrecherischen Liebenden : sämtHch übergeschnappt, besungen von einem Übergeschnappten. DER STIL GL AUDELS. - Aber selbst wenn Glau- del sich nicht diesem Aberw^itz überläßt und den ge- hobenen Ton des Sittenlehrers, des Philosophen, des Vaterlandsfreundes und des Katholiken anzuschlagen sucht, ist sein Stil falsch. Da es meine Gewrohnheit ist, Schriftstellern gegenüber, die ich bew^undert sehe, die ich meinerseits aber nicht bev^undern kann, nicht auf die Gegner, sondern die Anhänger und Lobredner zu hören, um bei ihnen jenes Licht zu suchen, das mir vielleicht mangeln kann, um mir von ihnen die Schönheiten darlegen zu lassen, die mir möglicherw^eise verborgen bleiben, so habe ich vor kurzem aufmerksam eine Studie über Claudel gelesen, die in einer angesehenen englischen Rundschau {Quarter ly Review N. 456, Jän- ner 19 17, SS. 18—94) erschienen ist; hier v^ird er nicht allein bedingt als the greatest living french poet — was nicht viel heißen würde — gefeiert, sondern unbedingt als a great poet\ und so habe ich die Perlen zu bewun- dern getrachtet, die der Kritiker hervorzieht und zur Schau stellt. Nach seiner Meinung hätte Claudel die Vervollkommnung der französischen Prosa gefördert durch Weiterführen der Arbeit, die von Chateaubriand zu Maurice de Guerin, und von diesem zu Rimbaud leitet: wieder etwas, das in der Dichtung recht wenig besagt, da die Techniker die Werkzeuge verbessern, von Montgolfiers Ballon allmählich zum lenkbaren Luftschiff gekommen sind und sicherlich noch weiter gelangen werden ; aber dergleichen ist nicht ' Sache der Dichter. Wie dem auch sei, genießen wir eine 187 Probe raffinierter Prosa, einen Denkspruch aus Uart poHique'. Tournons donc comme la rdligieuse Chaldde nos yeux vers le ciel absolu oü les astres en un inextricable chiffre ont dressd notre acte de naissance et tiennent grefFe de nos pactes et de nos serments. Hier mag und wird auch wohl die „feine Musik" vorhanden sein, die den Kritiker entzückt; aber gleicherweise auch Verschrobenheit des Gefühls und Ausdrucks, in der Art des schlimmsten Schwulstes aus dem siebzehnten Jahrhundert! Und das folgende Bruch- stück aus der Connaissance de P Est mag wohl eine „wun- derbare Harmonie von Klang und Bedeutung" auf- weisen, allein es sagt in marktschreierischem Über- schwang nur etwas, das man heutzutage in jedem mittelmäßigen Buch über Philosophie findet: Aux heures vulgaires nous nous servons des choses pour un usage, oubliant ceci de pur, qu'elles soient: mais quand, apr^s un long travail, au travers des branches et des ronces, ä midi, pdn^trant historiquement au sein de la clairi^re, je pose ma main sour la Croupe brülante du lourd rocher, l'entrde d'Alexandre ä Jerusalem est comparable ä l'dnormitd de ma constatation. Ebenso stößt mich die Geziertheit in der Anrufung der Muse (in der Citiq grandes ödes) ab, wo in der näm- lichen Art ein recht gewöhnlicher Gedanke wieder- holt wird: Mais ton chant, 6 Muse du po^te, Ce n'est point le bourdon de l'avette, la source qui jase, L'oiseau du paradis dans les girofFliers! Mais comme Dieu saint a inventd chaque chose Ta joie est dans la possession de son nom, Et comme il a dit dans le silence: „Qu'elle soit!" c'est Ainsi que, pleine d'amour, selon qu'il l'appelle Comme au petit enfant qui dpelle: „Qu'elle est!" Ich Staune wie man einem solchen Kniff von Naive- tät gegenüber ■ noch behaupten kann: „Dies ist die i88 Geburt des Wunders in einer von vieler Erkenntnis gesättigten Welt und in einer Dichtung, verarmt in ihren Worten, vsreil sie jede unmittelbare Kraft einge- büßt haben. Die Lust des Erkennens, die Freude des Kindes, dem sich das Sein enthüllt, strömt in diesen Zeilen w^ie ein befruchtender Strom durch die aus- gedörrten Felder der modernen französischen Dich- tung." Diese Felder sind aber in Frankreich, und nicht nur hier, schon seit einem guten Stück mit diesem alles eher denn befruchtenden Schlamm über und über bedeckt. In einem Bruchstück der Trois po^mes de guerre (1915)- De nouveau apr^s tant de sombres jours de soleil ddlicieux Brille dans le ciel bleu. L'hiver bientot va finir, bientot, le printemps commence, et le matin S'avance dans sa robe de lin. Apr^s le corbeau afFreux et le sifFlement de la bise gdmissante S'entends le merle qui chante' Sur le platane tout ä l'heure j'ai vu sortir de son trou Un insecte lent et mou. Tout s'illumine,* tout s'dchaufFe, tout s'ouvre, tout se ddgage, Peu ä peu croh et se propage. Une eap^ce de joie pure et simple, une esp^ce de sdrdnitd La foi dans ia future dtd! Ce Souffle encore incertain dont je sens ma joue caress^e C'est la France, je le sais ! Ah, qu'elle est douce, car c'est eile! naive mais pdremptoire, L'haleine de la Victoire! — finde ich alles, v^as der Kritiker daran lobt : „die Kühn- heit der Bev^egung, die unnachahmlich zarte Beschleu- nigung des Rhythmus"; aber durchaus nicht : „die Einigung der musikalischen Empfindung mit der gei- stigen Zuversicht zu einer triumphierenden Gewißheit". Vielmehr finde ich darin die Rhetorik von Anlauf und Beschleunigung, lauter mechanische Dinge, aber gar 189 keine Innerlichkeit. Wäre sie überhaupt vorhanden, so genügte es, um sie zu verscheuchen, jenes insecte lent et mou^ und jenes nüchtern-komische naive mais peremptoire ! CLAUDELS RELIGIÖSE DICHTUNG. - Noch seltsamer ist die katholische Poesie Claudels, von der ihr englischer Bewunderer ein Bruchstück aus dem Lobgesang auf Gott beibringt : Et puis il n'est rhomme si vulgaire qui ne vous ait gard^ quelque chose de nouveau, Et qui n'ait fabriqud pour vous, en dehors de ses heures de bureau Esperant que l'idde un jour vous viendra de le lui demander, Et que peut-6tre 9a vous plaira, quelque chose d'afFreux et de compliqud, Oü il a mis tout son coeur et qui ne sert a quel que ce soit. Ainsi une petite fille, le jour de ma f^te, qui s'avance avec em- barras, Et qui m'ofFre, le cceur gonfld d'orgueil et de timiditd, Un magnifique petit coussin ceuvre de ses mains pour y mettre des dpingles en laine rouge et en fil dore. Darin entdeckt er eine „köstliche Gutmütigkeit". Das ist aber ganz etvv^as anderes als Gutmütigkeit, das ist echter und rechter Voltairianismus, der die katho- lischen Ideen und Vorstellungen, die Bräuche des Kul- tus kindisch und lächerlich findet ; die Grille, die sich Claudel in den Kopf gesetzt hat, sich als Katholiken zu geberden, und die ihn über diese Komik eine ko- mödiantenhafte Salbung und Bußfertigkeit ausbreiten läßt, macht sie noch komischer, und noch mehr vol- tairisch unehrerbietig. Die hier angewendete Versart scheint eigens dazu gemacht, zum Lachen zu bringen, die Verszeile auf diese Wirkung hin berechnet. In dem Lobgesang auf Gott (mit vielen andern Stücken der 190 gleichen Art veröffentlicht in dem Bande Corona benig- nitatis anni Domini 191 5) stehen ferner diese beiden Verse, in denen die komische Absicht ganz klar wird, in den ä dimension ausgestreckten Armen, die sich auf Ascension reimen. Mais je vais avoir le soleil m6me, j'ouvre les bras ä votre dimen- sion. Je regarde au plus haut du ciel un point d'or comme un jour de votre Ascension. Gibt es eine wirksamere Art, einen Tartuffe darzu- stellen, als indem man ihn die Arme ä dimension Gottes öffnen läßt .? Wollte man mir diese katholische Lyrik Claudels als scherzhafte Dichtung zugestehen, so würde ich hie und da an ihr Geschmack finden können. Im Chant de N'phiphanie erscheint es ganz natürlich, daß die Armen um die Krippe stehen: Mais avec les savants et les Rois c'est une bien autre afFaire! II faut, pour en trouver jusqu'ä trois, remuer toute la terre. Encore est-il que ce ne sont pas les plus illustres ni les plus hauts, Mais des esp^ces de magiciens pittoresques et de petits souverains coloniaux. Et ce qu'il leur a fallu pour se mettre en mouvement ce n'est pas une simple citation, C'est une dtoile du ciel meme qui dirige l'expddition . . . Die drei Magier an der Krippe, die malerischen Drei- königlein, die mit „kleinen Kolonialherrschern" ver- glichen werden, sind wirklich niedlich! Sainte-Odiie: Et pourtant eile ^tait ma grande fiUe chdrie et je ne pouvais m'en passer, Ma grande Odile au visage si doux, avec de petits points de rouille, Ma fille d'Alsace en or, chargde de soie comme une quenouille. Auch dieses große sommersprossige Mädchen, mit ihrem sanften Gesicht, mit ihrem Goldhaar auf dem 191 Kopf, so reich, daß sie aussieht wie ein voller Spinn- rocken, ist gelungen ! Würde Claudel auch mit den Figuren seiner Bühnen- stücke eine ähnliche Parodie vornehmen, sow^äre meine Aussöhnung mit ihm vollkommen, da ich wirklich nichts anderes zu wünschen hätte. Allein die parodi- stische Umformung stellt sich bei ihm selbstwillig nur in Religionsdingen ein, weil er sie nicht ernst nimmt; niemals würde ihm das bei den andern in den Sinn kommen, die für ihn eine höchst ernsthafte Angelegen- heit bedeuten. BERÜHMTHEITEN AUS DER ZEIT VOR DEM KRIEGE: A. RIMBAUD. - In Wirklichkeit ist Rimbauds Name in Italien schon um 1890 bekannt gewesen; Pica hatte den Freund Verlaines in Vor- trägen und Aufsätzen behandelt. Aber „wiederentdeckt" worden ist er erst an zwanzig Jahre später, damals als von neuem durch Frankreich eine Welle der Anteilnahme und Bewunderung für das „Wunderkind", für den Ver- fasser der lUuminations ging; so daß um das Jahr 19 10 auch bei uns Bewunderer, Ausleger, Übersetzer und Nachahmer Rimbauds, der als ein außerordentlicher und tief geheimnisvoller Geist gefeiert wurde, auf- standen. In dieses Geheimnis vermag ich freilich nicht einzudringen, da der Band mit Rimbauds Werken sowie die Schriften seiner Biographen und Kritiker mir in die kurze Geschichte dieses Menschen und dieses Geistes für jedermann klaren Einblick zu gewähren scheinen. Rim- baud war ein frühreifer Knabe, der sehr frühe einiger- maßen von Baudelaire beeinflußte Gedichte geschrieben hat, Offenbarungen eines überströmenden, aufrühre- rischen, launenhaften Gemütes, das sich gegen das 192 gesellschaftliche Herkommen empörte, von der Sucht nach dem Schändlichen und Häßlichen besessen, dem Sarkasmus ergeben war. Eingebungen solcher Art stellten dar Ma boh^me, Poete ä sept ans, Les assis, Le bateau ivre, und noch ein paar andere Sachen, in denen der Ungestüm des Gassenjungen, ja des Taugenichts, seiner selbst froh, sicher und stolz, mitunter an die Dichtung heranreicht, obwohl sie sonst meist nur eine nicht gewöhnliche Geschicklichkeit erkennen lassen. Allein bei dieser dem Anschein nach glücklichen Jugend- begabung war Rimbaud dennoch im Grunde recht unglücklich, da ihm jede Spur von Feinheit und wahrer menschlicher, spekulativer, religiöser, politischer, sitt- licher Leidenschaft, ja selbst Liebesleidenschaft fehlte ; dieser unglückliche Mangel führte ihn dazu, zwei Pläne zu fassen, die beide seine Unfähigkeit zu einer ernst- haften und fruchtbaren Entwicklung darlegten. Der eine davon war, sich ein Leben außerhalb des gesell- schaftlichen Herkommens zu zimmern, ein Leben der Freiheit, das außer Stoff zur Poesie, an sich selbst Poesie sein sollte ; der andere, eine neue Kunst und Sprache zu erfinden. Der Widersinn dieser Doppelabsicht ist leicht zu durchschauen ; denn niemandem ist es gegeben, außer- halb der tatsächlichen Verhältnisse zu leben, da Leben nichts anderes ist, als diese zu verarbeiten und damit neue zu schaffen ; noch viel weniger ist es möglich, zu dem Ende zu leben, um sich Stoff zum Dichten zu ver- schaffen, denn in solchem Streben zerrinnt gleicher- weise Leben wie Dichtung, jenes seinem innersten Zweck entfremdet, diese künstlich gesucht, während sie überhaupt nicht gesucht werden kann, sondern ent- springt, wann es eben dazu an der Zeit ist; endlich ist jede neue Dichtung, die erscheint, neue Kunst und 13 C r o c e , Randbemerkungen eines Philosophen 193 Sprache, und sich die Neuheit als Ziel vorzusetzen, heißt lediglich eine leere Abstraktion verfolgen und das Stück Fleisch um seines Spiegelbildes w^illen ins Wasser fallen zu lassen. Wer demnach nicht nach vvrirklichem Leben, sondern nach einer Lebensdichtung und Stoff zur Poesie trachtet, gelangt unausvs^eichlich zu einer Art Ze.rrbild von Leben und Dichtung und sieht als solche die Un- ordnung, den M üßiggang, die Z ügellosigkeit, das Sprung- hafte und Zusammenhanglose an. „Was er w^ollte — schreibt der Hauptbiograph Rimbauds — v^ar, ein Seher zu vsrerden. Zu diesem Zweck beschließt er sein Sinnen- leben durch alle Mittel, durch Wein, durch Gift, durch Abenteuer zu bereichern." Später fügt er noch hinzu: „Er v^ill die Schmach, er w^ill die Schande kennen ler- nen: darin liegt Schönheit! Alles w^as den Menschen Leiden schafft, alles w^as sie für gewöhnlich verabscheuen, das wünscht er an sich zu erleben!" Es ist nicht nötig, sich das sooft Erzählte und in Wahrheit des Erzählens recht wenig Werte noch einmal aufzuwärmen, Rim- bauds Kameradschaft mit Verlaine, ihre gemeinsame Landstreicherei, die gemeinsamen wüsten Gelage, die Pistolenschüsse, die sie erhalten, die Fußtritte und Faust- schläge, die sie ausgeteilt haben; es genügt zu bemerken, daß sich darauf das von Rimbaud erträumte reiche und freie Leben beschränkte und wohl auch beschränken mußte, „der so bezeichnende Trieb Rimbauds (wie der Biograph sagt), stets seine Empfindungen zu erneuern, sein unersättlicher und unerhörter Wunsch, das All zu umfassen . . . zum Zwecke einer unvergleichlichen Auf- stapelung von Poesie, eines vollständigen Vorrats an Gedanken und einer Erneuerung der rhythmischen Sprache". Hätte er irgendein bescheidenes Handwerk, ja selbst häusliche Pflichten ausgeübt, oder hätte er 194 sich etwa in eine Bibliothek eingeschlossen, so würde er wahrscheinlich reichere und tiefere, sicher edlere „Lebenserfahrungen" gesammelt haben, als in den Schnapsläden und Schenken von London und Brüssel. Aus einem solchen Leben hat sein Dichtwerk weder Stoff noch Wachstum erhalten; und das Ideal dieses Werkes selbst stellte sich ihm in etwas Willkürlichem und Launenhaften dar, denn — wie abermals sein Bio- graph sagt — nicht zufrieden mit sämtlicher Dichtung „von Homer bis zu den Parnassiens", gestaltete Rim- baud den Gedanken, die neue Dichtung müsse reine Wiederholung eines Traums sein, frei von überlegenden und verstandesmäßigen Bestandteilen. Da aber die Dich- tung nie etwas anderes gewesen und niemals etwas anderes sein kann als dieses, frei von allem andern, was sie nicht selbst ist, so läßt sich gerade deshalb ihr Grundwesen oder ihre allgemeine Aufgabe nicht in einen besondern Zweck verlegen : genau so wie man nach einem berühmten Beispiel nicht eine Frucht im all- gemeinen essen kann, sondern immer nur Kirschen, Pfirsiche oder Pflaumen. In dieser Hinsicht widerfuhr Rimbaud dasselbe wie im gewöhnlichen Leben, in dem er, um eine abstrakte Freiheit zu suchen, sich in die törichteste Knechtschaft begab, genau so, wie er um reine Dichtung zu erlangen, in Wirklichkeit nichts erlangte; seine llluminations haben keinen andern Wert als den eines unfruchtbaren Versuches. Wenig über zwanzig Jahre alt, überkam ihn schließlich das klare Bewußtsein, gänzlich, in Leben wie in Dichtung, irre gegangen zu sein ; eines Tages schrieb er unter bittern Tränen über sich selbst sein Bekenntnis und erkannte das Problem, die ihm noch ungelöst in Saison en enfer vorgeschwebt hatte: „Ich, der ich mich Magier oder 13» 19s Engel genannt hatte, ledig aller Moral, ich habe mich der Erde wiedergegeben, mit einer Pflicht, die zu suchen, mit der runzelvollen Wirklichkeit, die zu erfassen ist. Bauer werden!" So schob er das Dichten beiseite und versuchte vielerlei Arten verschiedener Werktätigkeit, bis er sich endlich entschloß, in Afrika zu reisen und Handel zu treiben; erst nach etwa zwanzig Jahren ist er wieder krank in die Heimat zurückgekommen, um dort mit siebenunddreißig Jahren zu sterben. Über seine Dichtung von einstens vermied er zu reden, und schätzte sie, falls man ihn daran erinnerte, als etwas „Lächerliches und Abgeschmacktes" ein; daß er seine zweite Entwicklungsstufe als Vorbereitung für eine andere vielgestaltigere Dichtung betrachtet hätte, das ist ein frommer Glaube seines schon wiederholt ange- zogenen, höchst naiven Biographen, der sich Herr Paterne Berrichon nennt. DIE URSACHE VON RIMBAUDS LITE- RARISCHEM RUF. - Daß diese biographisch- kritische Auslegung nicht etwa ein Hirngespinst oder eine Verleumdung ist, wird, wie schon gesagt, jeder einsehen, der sich die Mühe nimmt, die wenigen Werke Rimbauds und die Nachrichten von seinem Leben zu lesen. Wollte man — was mir in diesem Falle nicht angebracht schiene — der Bestätigung kein Gewicht beilegen, die sie durch Wort und Tat Rim- bauds selber erhält, besonders in jener Saison en enfer, die übrigens ebensowenig eine glückliche Dichtung ist (obwohl die Bewunderer hier von niemand Geringerem als Dante gesprochen haben !), sondern wesentlich eine lebensgeschichtliche Urkunde, so könnte doch die Ver- gleichung meines Urteils mit dem zweier französischer 196 Schriftsteller, die aus verschiedenen Gründen geneigt sein mußten, Rimbauds Kunst zu schätzen und zu überschätzen, einiges Gewicht haben. In seinen Diva- gations schreibt Mallarme : „Es ist das Aufflammen eines Meteors, ohne anderen Trieb als seine Gegenwart selbst entzündet, einsam entstehend und vergehend. Sicher wäre alles seitdem, ohne diese bemerkenswerte vorüber- gehende Erscheinung, ebenso ins Leben getreten, gerade so wie ihn tatsächlich kein literarischer Umstand vor- bereitet hat: der ganz persönliche Fall bleibt mit Not- wendigkeit bestehen . . . Ich glaube, daß die Hoffnung auf ein Werk der Reife hier der exakten Auslegung einer in der Geschichte der Kunst einzig dastehenden seltsamen Erscheinung schadet." Desgleichen schreibt Laforgue in den Melange s posthumes: „Rimbaud, eine jäh aufgesprossene und ganz für sich stehende Blume, ohne ein Vorher und Nachher. Hier gibt es weder Strophe, noch Mache, noch Reim. Alles beruht auf dem unerhörten Reichtum der . Bekenntniskraft und der niemals vorauszusehenden Unerschöpflichkeit an stets angemessenen Bildern. In diesem Sinne ist er das einzige Gegeribild Baudelaires". Trotz alledem verstehe ich die Gründe , die nicht wenige bewogen haben, ihn als einen Vorläufer und Lehrer zu begrüßen. So viel man auch auf Rechnling einer gewohnheitsmäßigen Bewunderung sogenannter „seltener" oder „Ausnahmekunst" wird setzen dürfen, es steht dennoch fest, daß Rimbaud durch sein Wunschbild eines von jedem sittlichen Zwang gelösten Lebens und einer Kunst, die das Chaos der Empfindungen bildhaft macht, mit einer zwiefachen Krankheit dem Doppel- leiden entgegenkommt, das viele Seelen unserer Zeit ge- drückt hat und noch drückt, einem Leiden, dessen ge- 197 schichtliches Werden und dessen tiefer Sinn hier nicht abermals dargelegt werden soll. Wenn dieses Doppel- leiden einmal geheilt oder vermindert sein wird, wird auch Rimbaud mit andern Augen angesehen werden: als ein negatives Beispiel für die Bestätigung der Wahrheit, daß die Kunst wie Blüte des Lebens auch Ernst sei; und daß ein Künstler, bevor er Künstler ist, eine „ Persön- lichkeit", das heißt ein Mensch von Herz und Geist sein muß und — das ist der wesentliche Punkt — daß eine Persönlichkeit solcher Art nicht irgendwie künstlich beschafft werden kann, am allerwenigsten durch ein Müßiggänger- oder Zigeunerleben, zu dem Zwecke, Stoff zu sammeln oder auf künstlichem Wege eine unmögliche Dichtung hervorzutreiben. RIMBAUD ALS SEELENWERBER FÜR DIE KATHOLISCHE KIRCHE. - Solange aber jene Doppelkrankheit anhält, bleibt Rimbaud und muß es bleiben, ein Vorbild, gleichsam ein Heiliger für die bohemiens^ die sich Künstler wähnen; sowie für die- jenigen, die sich absichtlich als bohemiens geben, weil sie hoffen, daß sich irgendeine der neun Musen in sie vergaffe. Es scheint viel schwieriger verständlich, wie so Arthur Rimbaud jetzt als sittlicher Held und als eine von Gottes Hand berührte Seele der Ehre eines Altars teilhaftig werden kann. In seinem Leben wie in seinen Werken begegnen uns so viel unschöne Dinge, und sicherlich niemals eine Tat, ein Ausspruch, ein Gedanke, die eine wie immer geartete Höhe des Gefühls oder eine Spur religiösen Bewußtseins verrieten ; ohne irgendwie geneigt zu sein, ihn mit Strenge zu behandeln (was sollte das nützen ?), vielmehr mit dem Zugeständnis, daß er nicht gewesen ist, was man niedrig oder bösartig 198 nennt, und daß er in seinem ferneren Leben Mut und eine Art Stoizismus bewiesen habe, kann man doch nicht umhin, sich gegen gewisse freisprechende und verherr- lichende Urteile seines Biographen aufzulehnen, min- destens über sie zu lächeln; so wenn er, beispielsweise bei der Erzählung, wie Rimbaud sich als Kolonial- soldat in holländischen Diensten anwerben ließ, und nachdem er den Sold eingesteckt, desertierte, bemerkt: „er hatte einen viel zu lebendigen Sinn für Ehre und Würde (!) ; eine zu starke sittliche Auffassung (!), um auch nur einen Schatten von Verpflichtung (!) Leuten gegen- über zu fühlen, deren Gewerbe es ist, diejenigen aus- zurotten, die sich nicht ohne Widerstand ausplündern lassen" : Was so viel heißt, daß es erlaubt, ja vielmehr Pflicht sei, die Holländer oder allgemein gesprochen, Diebe zu bestehlen (denn nach alledem sind ja die Hol- länder Diebe!). Nichts demnach von Sittlichkeit, nichts von Religion, aber auch nicht einmal — und dies spricht zu seinen Gunsten — der komödiantenhafte Versuch, sie vorzutäuschen, wie es sein unglücklicher Freund Ver- laine getan hat. Das muß auch der Biograph zugeben, der rühmt: „Keine vereinzelte religiöse Formel, und wäre es auch der Katholizismus, war imstande, seine ungeheuren, unerhörten Geheimnistiefen in sich zu fassen; er fühlte sich jeglichem Glauben jeglichen Landes zugehörig; eine kosmographische Synthese thronte in seinem Innersten", derart, daß „sein end- gültiges Wort, in meisterlicher Verschmelzung aller Sprachen, harmonisch und von einer alles bezwingen- den und überall zugänglichen Beredsamkeit, vielleicht die menschliche Seele wiedererneut hätte." Auch heute gibt es noch jemanden, der behauptet : „Arthur Rimbaud war ein Mystiker im Naturzustand, 199 eine verlorene Quelle, die aus einem gesättigten Boden dringt ; sein Leben ein Mißverständnis, ein mißlungener Versuch, durch die Flucht sich dieser Stimme zu ent- ziehen, die ihn ruft und zu sich fordert und die er nicht anerkennen v^ill ..." Noch gibt es jemanden, der ihn als einen Fürbitter bei Gott ansieht und als gläubiger Katholik in Rimbaud die „Enthüllung des Über- natürlichen" erkennt! Wer mag, lieber Leser, dieser feine und zartempfin- dende, sittlich-religiöse Geist sein? Du hast es bereits erraten: Monsieur Claudel. Niemand anderer als er . . . DER KRIEG UND DIE STUDIEN {CriticaXV, September 1917). — Diese Rundschau hat ihre zweite Folge begonnen, als der Krieg sich bereits in Europa entzündet hatte; sie tritt nun in das vierte Jahr ihrer zweiten Reihe, während er noch fortdauert. Man ge- statte uns demnach, auf der Schwelle dieses vierten Jahres, uns ein wenig mit unsern Lesern über die Lage, in die der Krieg die Studien teils schon versetzt hat, teils für die Zukunft vorbereitet, zu unterhalten. Man wird sich erinnern, daß wir, als unser Land be- schloß, an dem großen Kampf teilzunehmen, in einer Randbemerkung unsern Entschluß kundgaben, das Werk der Forschung fortzusetzen, „als ob es keinen Krieg gäbe". Es war das ein Wort, das vielen Ohren wie eine Überspanntheit oder eine Lästerung klang; während es vielmehr ein wohlerwogener Gedanke, von guter Voraussicht eingegeben, war. Der diese Absicht äußerte, nimmt keinen Anstand, zu beteuern, daß er da- mit einem Bedürfnis nach persönlicher Rechtfertigung Genüge tat; denn er erwog in Gedanken die Länge und Langsamkeit des Krieges und erblickte sich keineswegs 200 ' als Minister und noch viel weniger als Gehilfen des Ministers für Äußeres, für Krieg und Volksernährung, sondern sah sich der Qual dessen ausgesetzt, der als Zu- schauer den Ereignissen beiwohnen muß, sie nach seinen Wünschen lenken und ihren Abschluß beschleunigen möchte, es aber doch nicht vermag, sich darum in mehr oder weniger unnützer Tätigkeit versucht, die jedenfalls nicht der eigenen Fähigkeit und Vorbereitung entspricht und sich in Beteuerungen, Beschwörungen, Voraussagen und anderm unfruchtbarem Gerede verliert, als fünftes Rad am Wagen, seine Verstandes- und Willenskräfte derart erschöpfend, daß er davon ganz zerrüttet wird. Aus diesen Gründen hat er den Freunden, die einen andern Weg einschlugen und vermutlich auch von Natur die körperliche Eignung und Widerstandskraft besaßen, die ihm mangelte, die ihn aber unter vier Augen und öffentlich aufforderten, „seine Pflicht" zu erfüllen, das heißt sich als Redner und Agitator gleich ihnen zu betätigen, stets ablehnend geantwortet, aus derselben „Furcht vor dem Leeren" heraus, aus der er einem geantwortet hätte, der ihn etwa aufforderte, sich kopfüber aus einem Fenster des vierten Stockwerks zu stürzen. Allein er muß mit der gleichen Wahrhaftig- keit bekennen, daß seine individuelle Besorgnis und Vor- sicht sich mit einer ebensolchen allgemeiner Art ver- band, da er schweren Herzens sah und sieht, was sich in Italien und vielleicht noch mehr in einigen andern Teilen Europas ereignet hat und noch ereignet: die fast vollständige Unterbrechung alles geistigen, kritischen und wissenschaftlichen Lebens. Gedenkt man der viel- fachen Anstrengungen, des sorgsamen Eifers, der harten Mühen und der geduldigen Erwartung, die notwendig sind, um in einem Volk oder einem Zeitraum ein paar 20I Mittelpunkte und Straßen der Kultur zu schaffen, so kann man nicht anders als sorgenvoll vorder Verwüstung stehen, die auch in dieser Hinsicht auf vv^eite Strecken hinaus angerichtet worden ist; erst vor kurzem hat einer der erlesensten Geister Frankreichs, mit dem ich mich seit mehr als zwanzig Jahren in Gedankenaustausch und Übereinstimmung befinde, die gleiche Besorgnis geäußert, indem er mir schrieb : „Je länger sich der Krieg hinzieht, um so mehr scheint mir die Zukunft Europas bedroht. Ich glaube nicht, daß bis jetzt viele Leute diese Gefahr eines langdauernden wissenschaftlichen Nieder- gangs erkannt haben." Die literarischen und wissen- schaftlichen Zeitschriften der verschiedenen europä- ischen Länder bringen fast in jedem Hefte Namen ihrer im Kriege gefallenen Mitarbeiter, und zahllose andere Jünglinge, die ihre Studien begonnen hatten oder schon in ihnen weit vorgeschritten waren, sind seit geraumer Zeit gewaltsam aus ihnen gerissen worden, gerade in der heikelsten Zeit ihrer geistigen Entwicklung, und zu einer ganz anders gearteten hingeführt worden; und wenn auch die geistig frischesten unter ihnen, die eines Tages doch in das bürgerliche Leben zurückkehren werden, sich von dieser langen Unterbrechung nicht allein hinreichend rasch erholen, sondern auch daraus den Antrieb zu neuer und selbständiger Kraft werden schöpfen können, so ist doch zu fürchten, daß die Vielen, die weniger Starken, aber dennoch für die allgemeine Kultur Unentbehrlichen unwiderruflich abgelenkt oder sich auf andere niedrigere oder praktischere Lebens- weisen einstellen werden. Auch legen wir auf die Vor- hersagen kein Gewicht — wir hoffen, sie werden bloß solche bleiben — die manche Beobachter und Forscher über die Entwöhnung von der sittlichen und geistigen 202 Entschluf3kraft vorgebracht haben, wie sie das bürger- liche Leben sogar täghch fordert und anregt, die aber der gegenwärtige Krieg unterbinde, sowie über die Schwierig- keit, ja zuweilen Unmöglichkeit des Wiederanpassens. Inzwischen ist jedoch die Lage derer fast noch schlim- mer, die daheim geblieben sind, um das Geschick ihrer Heimatländer bangend, gemartert von der Sorge um das Geschick ihrer Lieben oder verzweifelt über die Ver- luste, die sie erlitten, gestört oder gehindert in ihrer ge- wohnten Tätigkeit, jeden Augenblick in Gedanken auf den Krieg zurückgleitend, und Jahre hindurch von nichts anderem hörend und redend. Wohin sind die von Verständnis leuchtenden Augen um uns, die war- men Worte, die kühnen Pläne gekommen, das geist- reiche Lachen, das wir in den Jahren hörten, von denen uns ein Abgrund trennt? An ihrer Stelle sind ermüdete Mienen, erloschene Augen, stumpfgewordener Verstand getreten, die Bereitwilligkeit, jeden Klatsch, der erzählt wird, jede noch so rohe und verdrehte Doktrin, die fanatische oder unwissende Menschen vorbringen, für bare Münze zu nehmen. Diese Erwägungen — um vom Großen wieder aufs Kleine zu kommen — rechtfertigen den von uns ge- faßten Vorsatz, dafür zu sorgen, daß in unserem kleinen Kreise der in der letzten Friedenszeit mühsam ange- sponnene Faden nicht abreiße und verloren gehe, sowie fortzufahren, für unser Teil zu arbeiten, sogar noch angespannter als vorher, nämlich auf Rechnung auch derjenigen unserer geistigen Genossen, die berufen wur- den, ihre Soldatenpflicht dem Vaterlande gegenüber zu erfüllen. In Zeitschriften und Büchern, nicht bloß ita- lienischen, auch ausländischen, wurde gesagt, wir hätten den italienischen Jünglingen geraten, sich keine Ge- 203 danken über den Krieg zu machen und während des- selben „archäologische Bücher" zu schreiben; in Wahr- heit haben wir aber vielmehr den Archäologen geraten, Archäologie zu treiben und die archäologisch-politisch- patriotischen Sendschreiben beiseite zu lassen, mit denen man ein gar zu leichtfertiges Spiel zu treiben begonnen hatte; desgleichen haben wir jedem geraten, seinen Beruf weiter zu betreiben, so lange es ihm gestattet sei; und diesen Rat haben wir ebenso uns selber gegeben und ihn zur Tat zu machen gesucht. In alledem liegt unserer Meinung nach nichts Anstößiges, noch weniger Lächerliches. Wenn wir nach dem Kriege mit dem übrigen auch das geistige Soll und Haben aufstellen werden und in diesem etwas als unser Guthaben ge- bucht werden wird, dürften wir uns ein Stück davon zuschreiben und daraus berechtigte Genugtuung schöp- fen können. Wir haben aber von Anfang an auf einem anderen Punkt bestanden; auf der entschiedenen, fortdauernden Abwehr gegen etwas, das schlimmer als Erschlaffung und geistiger Müßiggang ist, weil es nicht bloß alles, was an Gutem und Nützlichem hervorgebracht wird, vernachlässigt und verkommen läßt, sondern es un- mittelbar angreift und zersetzt, ja selbst die schlum- mernden Keime künftiger Ernten tötet. Wir spielen damit auf einen Zustand an, der sich sogleich allent- halben in Europa herausgebildet hat und auch in Italien (hier freilich nicht mehr, denn anderswo) in Schwang kam : die Wissenschaft selber in Trugschlüsse aufzulösen, unter dem Vorwand, der Sache des Vaterlandes zu dienen. Dem haben wir sogleich den goldenen Grundsatz ent- gegengehalten : es sei pflichtgemäß alles dem Vaterland zu geben, außer Sittlichkeit und Wahrheit, denn das 204 sind nicht Dinge, die den Einzelwesen gehören und über die diese mithin nach Gutdünken verfügen dürfen. Um dieses von uns durchaus nicht entdeckten, sondern bloß in Erinnerung gebrachten unantastbaren Grundsatzes halber wurden wir (auch diesmal nicht nur in ita- lienischen, sondern auch in ausländischen Zeitungen und Schriften) mit dem Verfasser des Jean- Christophe^ der zum Verfasser des Au-dessus de la meUe geworden war, in denselben Topf geworfen und dergleichen Rüge teil- haftig. Allein niemals ist es uns in den Sinn gekommen, uns „über das Handgemenge" im Sinne des trefflichen Romain Rolland stellen zu wollen, der allen kämpfen- den Völkern gegenüber als Bannstrahlschleuderer und als Pädagoge der Gerechtigkeit auftritt, sie alle gleicher- weise tadelt und liebt; vielmehr haben wir versucht, uns „jenseits des Handgemenges" lediglich auf theoretisches und wissenschaftliches Gebiet zu stellen oder vielmehr dort zu verbleiben, denn Kunst und Wissenschaft sind, soviel uns bisher bekannt geworden ist, gerade die beiden Formen, in denen sich der menschliche Geist fortwäh- rend der melee oder dem Gewirr des praktischen Seins entwindet und sich ewig über sie erhebt. Diese Abwehrstellung war um so dringender, als die Wahrheiten, die in Italien und in den mit ihm verbün- deten Ländern am schwersten verletzt wurden, gerade diejenigen waren, die innerhalb der modernen Gesittung von dem Volke, gegen das zu kämpfen uns obliegt, zur Geltung gebracht worden waren; zur Geltung gebracht, nicht etwa geschaffen, denn wenn irgendein Volk das getan hat, so sind gerade wir Italiener in unserer großen Zeit es gewesen. Wir brauchen hier nicht mehr im Aus- zug zu wiederholen, was wir des öftern mit vielen Einzel- heiten zur Unterstützung der „historischen" gegenüber 205 der „abstrakten" Politik und der geregelten gegen eine abenteuernde Wissenschaft vorgebracht haben. Diese doppelte Abwehr muß einen Rückschlag von Belei- digungen und Verdächtigungen von Seite der Vielen hervorrufen, die — eine alte Geschichte ! — aus der Ver- wirrung Vorteil ziehen, um sich aufzuspielen „trag an t des faux devoirs et frappant des vrais droits^\ wie der Dichter sagt; allein es ist unnütz, von ihnen allzuviel Aufhebens zu machen oder ihre so rasch verfliegenden Worte zu behalten. Worum es sich einzig handelt, ist zu untersuchen, ob unsere Behauptung richtig und, weil richtig, auch wohltätig und heilsam sei; oder ob wir in unserer Darlegung gefehlt und mit unserm Irr- tum Schaden gestiftet haben, für den wir, gemäß der von uns vertretenen Lehre, nicht in unserm guten Glau- ben Entschuldigung suchen, sondern uns für sittlich verantwortlich erklären werden. Wir beruhigen uns in der Zuversicht, daß in näherer oder fernerer Zeit an- erkannt werden wird, daß wir der Wahrheit gemäß gesprochen und derart die vaterländische Pflicht erfüllt haben, die uns aus Gründen unserer Zuständigkeit oblag. Vielleicht brauchen wir nicht einmal den kommen- den Tag zu erwarten, da, als erst vor wenig Wochen ein Schrei der Entrüstung durch Italien ging, über die Probe internationalen Rechtes, das heißt abstrakter Politik, die ein paar einer gewissen Gemeinschaft an- gehörige Italiener auf einer internationalen Zusammen- kunft zum Schaden ihres Vaterlandes geliefert haben, uns aus den Ereignissen selbst eine freiwillige und voll- kommene Bestätigung wurde, gleicherweise auch von denen uns zugebilligt, die in ihrem Nachdenken von den Tatsachen zu den Theorien aufzusteigen pflegen. Ein Hagel von Anklagen, Entgegnungen, Spottreden 206 ergoß sich über jene unseligen Sendboten der Humani- tät und der internationalen Gerechtigkeit; derart, daß unsere erste Regung sogar die war, für sie in die Schran- ken zu treten, da es uns unbillig erschien, daß, wer von falschen Voraussetzungen ausgeht, über diejenigen den Stab breche, die von den nämlichen Voraussetzungen her ihre logischen Folgerungen ziehen. Der Irrtum jener Sektierer liegt nicht sowohl darin, daß sie ihre phantastische Humanität über das Vaterland gesetzt haben, denn darin handelten sie folgerichtig und das verdient Lob, als darin, daß sie sich in einer Ideologie wiegten, die im achtzehnten Jahrhundert, vor Napoleon, ja sogar vor der französischen Revolution erlaubt war, jetzt aber so veraltet und ungeeignet ist, als das ptole- mäische System oder die Lehre von den vier Welt- monarchien. Lassen wir nun die Politik beiseite (von der wir immer nur ungern und allein um jenes wenigen willen, das philosophische Lehren und geschichtliche Auslegungen zuläßt, sprechen) und bleiben wir vielmehr bei dem Problem der Wissenschaft und der Bildung, so haben alle in den letzten Zeiten dem Schauspiel der Auflösung beigewohnt, von der Italien durch die Schulverord- nungen bedroht wird, sowie den Angriffen, mit denen man jenes Maß von wissenschaftlicher Zucht zu er- schüttern begann, das nach den sechziger Jahren durch die unablässigen Mühen von Forschern und Lehrern aus allen Gegenden Italiens begründet worden war. Man ist dazu gelangt, für die Lehrkanzeln der italienischen Literatur an den Universitäten abermals der Dichtung Beflissene vorzuschlagen und schon wagen sich die Lob- redner ihrer leichtfertigen Geschichtsdarstellungen und ihrer platten Philosophien hervor, die, in Italien unbe- 207 kannt, aber, wie sie sagen, „von der geistigen elite der lateinischen Lande und Amerikas bewundert werden." Gegen den Warnungsruf, den wir vor nunmehr zwei Jahren erhoben, hat sich ein alterund überaus achtungs- werter Philolog und Lehrer, auch seinerseits von un- angebrachtem politischen Eifer ergriffen, gewendet, indem er uns öffentlich vorwarf, wir vermöchten mit unsern Ideen nicht einmal drei Soldaten gegen die Öster- reicher ins Feuer zu führen ; gerade als ob wir Korporale und nicht vielmehr Forscher wären, die sich nach Ver- nunftgründen mit andern Forschern auseinandersetzen. Allein, wenn jener Wackere bemerkt hat, wie sich im Namen des Italienertums, der Deutschfeindlichkeit und der lateinischen Geistigkeit Scharen von Angreifern, wir sagen nicht gegen seine Person, wohl aber gegen die Hochziele wissenschaftlichen Lebens, denen er sein ganzes Leben gewidmet hat, erheben, so wird er, wenn auch verspätet, unsern Warnungsruf ein wenig besser verstehen und sich überzeugen, daß unsere Voraussicht diesmal größer als die seine gewesen ist. KRIEG UND BÜRGERTUM (Giornale d'Italia, ■ ly. September igiy), — Lieber Bergamini, erlauben Sie, daß ich einmal, statt die Leser Ihrer Zeitschrift über literarische Dinge zu unterhalten, von Politik spreche ? Von Politik, die nicht streitbar und vielleicht selbst Literatur ist . . . Vor ein paar Wochen las ich ein Buch über die moderne Geschichte Italiens, von einem österreichischen Historiker [L. Hartmanri] herrührend — übrigens sehr rücksichtsvoll gegen unser Land gehalten — und fand darin den Satz: Italien werde „gegen die Minderheit, die die Wiedererhebung gemacht und seine neueren 208 Geschicke gelenkt hat", von den Arbeitern, der sozia- listischen Partei, dem „Volk" gerettet werden. Nun habe ich gar nicht die Absicht, etwas zu sagen, das wie eine Beleidigung Herrn Giolitti's aussehen könnte, da ich den Grundsatz vertrete, Politiker könn- ten, und sei es in schärfster Form, meinetwegen selbst mit Beleidigungen durch andere Politiker bekämpft werden, daß aber, wer außerhalb der werktätigen Politik steht, nicht, wie es allzuoft geschieht, Schmähungen gegen sie richten dürfe, die unbillig sind, weil sie von Unverantwortlichen stammen. Nichts demnach von Beleidigungen; aber es bleibt Tatsache, daß ich beim Lesen des Buches jenes Öster- reichers daran denken mußte, seine Auffassung sei im Grunde die nämliche wie in der unlängst im Provinzial- landtag von Cuneo gehaltenen Rede! Dieses Zusammentreffen erschien mir als die schärfste Kritik an jener Rede; denn — auch die besten Ab- sichten des Redners zugegeben — es ist schwer, ihre ungünstige Wirkung in den Unruhen von Turin und der Gärung, die sich in andern Teilen Italiens zeigt, zu verkennen. Aber wie man von Gedanken zu Gedanken schweift, so habe ich auch darüber nachgedacht, daß konservative und liberale Zeitungen, einem sicher wohltuenden red- nerischen Nachdruck Raum gebend, seit einiger Zeit etwas schildern, das gar nicht vorhanden ist, und da- durch Gefahr laufen, es in die Welt zu setzen (nämlich seine schlimmen Folgen) : fast wie Balzac, der kraft der * Beschreibungen, die er in seinen Romanen vom Haus- rat bric-ä-brac entwarf, die Mode des bric-ä-brac her- vorgebracht und damit den guten Geschmack unserer Zeit sicherlich nicht gefördert hat. 14 Croce, Raudbemerkungen eines Philosophen 20Q Dieses nicht Vorhandene läßt sich in einen Satz zu- sammenfassen, der voll tiefen Sinnes zu sein vorgibt und in Wirklichkeit abgeschmackt ist: — Den Krieg führen die Landleute. Ich habe dies von Landleuten wieder- holen gehört, nicht im Tone des Stolzes, sondern mit Traurigkeit und Unmut, in dieser Gestalt: Nur wir armen Teufel sind gut genug dazu, umgebracht zu werden. Will man mit diesem Satz aussprechen, daß im kämpfenden Heere die Bauern an Zahl überwiegen, so behauptet man etwas unzweifelhaft Richtiges, das aber gar nichts besagt, weil, auch in Friedenszeiten, Bauern und Handarbeiter die zahlenmäßige Mehrheit der Be- völkerung ausmachen. Will man aber vielmehr sagen, daß die Landleute in den Krieg ziehen und die Bürgerlichen zu Hause bleiben, so spricht man damit die Unwahrheit, denn jeder von uns, die wir doch im großen und kleinen Bürgertum, nicht unter Landvolk leben, sieht, wenn er um sich blickt, alle seine Bekannten, Verwandten, Freunde unter den Waffen, viele von ihnen gefallen, verwundet, wegen ihrer Tapferkeit ausgezeichnet. Die Tausende und aber Tausende von Offizieren, die dieser Krieg erfordert, sind mit bewundernswerter Raschheit vom Bürgertum, wie ich glaube, nicht vom Land- volk gestellt worden ^). Ebensowenig möge man gegen das Bürgertum die Anschuldigung oder Beleidigung, es suche sich zu „drücken", richten, denn man müßte darauf mit der ^) Hierzu bemerkt der italienische Herausgeber G. Castellano mit Recht, die jetzt erscheinenden Statistiken über die Kriegsverluste aller kriegführenden Länder zeigten, daß die verhältnismäßig höchsten Ziffern dem Bauern- und Bürgerstand angehören, die geringeren jedoch den Arbeitern, die allenthalben in weitem Ausmaße enthoben worden sind. Z'IO Aufforderung an die Militärbehörde antworten, so un- erbittlich als möglich die „Drückeberger" auszuheben, wo immer sie sich auch finden mögen, gleichzeitig aber den Gendarmen und Polizisten empfehlen, mit dem größten Eifer Ausreißer und Versteckte auszu- forschen und dingfest zu machen, die, soviel ich weiß, nicht bürgerlich zu sein pflegen. Mit andern Worten, es genießt auch in dieser betrüblichen, vom Krieg un- zertrennlichen und allen Ländern gemeinsamen Er- scheinung kein gesellschaftlicher Stand das Vorrecht der Lauterkeit. Die Sünder sind in jedem vertreten. In diesem Ducken und Sichkleinmachen der bürger- lichen Blätter vor Arbeitern und Landleuten ist eine unbewußte Unterwerfung unter die Anmaßungen und Überheblichkeiten, nicht etwa jener Volksklassen, die kräftig und bescheiden sind, wohl aber ihrer Anführer oder Verführer zu merken. Ich wollte, daß das italie- nische Bürgertum zuweilen in sich die Kraft fände, sich selbst Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, und das mutige Wort auszusprechen, das der Historiker Drumann, im Namen der deutschen Forscher und Bürger zu den Massen, die sich damals mit dem Namen der arbeitenden Klassen zu schmücken begannen, ge- sagt hat: — die wahre Arbeiterklasse sind wir! Erregt es auch diesmal Anstoß, daß ich damit fort- fahre, Namen deutscher Schriftsteller anzuführen? Möglich, daß mir dazu die Lust gewachsen ist, seit man mir zumuten wollte, sie nicht mehr in den Mund zu nehmen! Wie dem auch immer sei, ich wieder- hole, was mit geringerer Rauheit des Ausdrucks, aber größerer Anmut ein hervorragender französischer Dichter, Alfred von Vigny, in seinen 1 847 verfaßten Versen gesagt hat: H' 2 1 I Noriy non, il n*est pas vrat, que le peuple h tout äge Lui seul ait travailUy lui seul ait combattu: Que l^immolation, la force et la courage N'halfitent pas un coeur de velours revkuy Plus helle itait la vie et plus grande est sa perte Plus pur est le calicey oü l^hostie est offerte ... — Je mehr man die rednerische Übertreibung, die ich erwähnt habe, aufputzt, verbreitet und festigt, desto mehr erleichtert man den Wühlern das Zurechtmachen eines ihrer beliebten gefühlsmäßigen Trugschlüsse: „Den Krieg haben die Bürgerlichen gewollt, aber sie lassen ihn von den Bauern, die ihn nicht wollten, führen" . Als ob etwas Absonderliches oder Unsittliches darin läge, daß die sorgenvolle Bekümmernis und die schwere Verantwortlichkeit, über den Krieg schlüssig zu werden, leider den gebildeten und leitenden Klassen zugefallen ist, die auf diese Art zweimal die Rechnung bezahlen, das eine Mal mit dem Gehirn, das zweite Mal mit dem Einsatz ihrer Person. Den übrigen Klassen fällt hingegen bloß die Ausführung und die Pflicht, aus- zuharren, zu: Dinge von höchster Wichtigkeit und edelster Art, aber etwas weniger sturmvoll und quälend, denn Gehorchen ist pflichtgemäß, aber auch viel ein- facher und beruhigender als Befehlen. Entschuldigen Sie diese Plauderei, lieber Bergamini; bevor ich mich von Ihnen verabschiede, lassen Sie mich noch hinzufügen, daß ich durchaus keine Furcht vor irgendeiner grundstürzenden Reform habe, die die wirtschaftliche Wohlfahrt, die geistige Kultur und das bürgerliche und vaterländische Bewußtsein unserer wackern Landleute vermehrt. Wohl aber empfinde ich große Furcht vor rednerischem Wortschwall, der geistlos nachgeplappert, den Weg zu stumpfer Ergebung ebnet und Werte und Zuständigkeiten, die sich müh- 212 sam in der Geschichte herausgebildet haben, zugunsten von elementaren, anfängermäßigen oder noch unrei- fen Werten und Zuständigkeiten herabdrückt. Eine Furcht, die freilich, wie ich gestehe, sich etwas vermindert hat seit der großen, uns durch Rußland geleisteten Unter- stützung — ich meine damit nicht die Waffenhilfe vom Frühjahr 1916, als Vergeltung für die unsere vom Frühjahr 1 9 1 5, und von uns abermals im Sommer 1 9 17 geleistet, sondern dadurch, daß es uns in einem furcht- baren Beispiel gezeigt hat, wohin die Umkehrung der gesellschaftlichen Werte führe. Ich glaube, daß dieses Beispiel selbst auf die italienischen Sozialisten seine Wirkung nicht verfehlen wird, die, was man auch von ihnen sagen mag, dennoch ebenfalls Italiener sind, das heißt einem durch jahrhundertelange Erfahrungen ge- läuterten und bedächtig gemachten Volke angehören, und die, wie ich glauben möchte, es für keinen Ehren- titel halten würden, „Mitglieder des Sowjet" genannt zu werden. DER KRIEG ITALIENS, DAS HEER UND DER SOZIALISMUS (Giornale d'Italia, Sept. 1917^) — Ich muß damit beginnen, den Lesern ins Gedächt- nis zurückzurufen, daß ich mich in Wahrheit nicht für würdig halte, in den Versammlungen zu sitzen, die die sogenannten „Interventionisten" noch im dritten Kriegsjahre einberufen, denn vor unserer Kriegs- erklärung war ich offenkundig „deutschfreundlich", wie man damals sagte, oder „Anhänger des Dreibunds". Ebenso muß ich in Erinnerung bringen, daß ich während des Krieges fortgefahren habe und noch fortfahre in Schutz zu nehmen, was an Wahrem und Gesundem 1) Ursprünglich wegen der Ereignisse im Herbst 1917 unterdrückt. in deutscher Wissenschaft und deutschem Brauche liegt: ich habe deshalb von den meisten Tadel, aber von den w^enigen, an die ich allein meine Worte richtete, Lob erfahren, und verharre auch heute noch trotz aller Schmähungen (die sich übrigens seitdem merklich ver- ringert haben) bei dieser Haltung, die ich für würdig und kraftsteigernd halte; — und ich vermag das mit ruhigem Gewissen zu tun, weil es mir niemals in den Sinn gekommen ist, irgendwer könnte im Ernst an dem tiefen undeifersüchtigen Vaterlandsgefühl jemandes zweifeln, der nicht bloß die Ehre hat, dem Senat des Königsreiches anzugehören, sondern vor allem auch italienischer Schriftsteller war und ist. Meine drei- bündlerischen Neigungen waren schon, wie es natür- lich ist, mit der Kriegserklärung im Mai 19 15 über- holt; seit damals habe ich mich von ihnen verab- schiedet, wie man es mit so vielen Dingen tut, die in den Schatten der Vergangenheit zurücktreten und die man niemals mehr erblicken wird. Man verzeihe mir diese persönlichen Bemerkungen, da sie einerseits dazu dienen, ebenso niedrige wie nicht zu rechtfertigende Anwürfe hintanzuhalten, anderseits vielleicht das bekräftigen, was ich zu sagen habe. Wer die italienische Geschichte durchforscht hat, um über die oberflächlichen und herkömmlichen Kenntnisse, die einem die Schule vermittelt, hinaus- zugelangen, weiß, daß einer der ältesten und fast der einzige Vorwurf, der den Italienern von den andern Völkern Europas, besonders Franzosen und Deutschen, gemacht worden ist, der war, „unkriegerisch" zu sein. Dieses Urteil bildete sich hauptsächlich zu Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, dank der schwachen oder 214 gar nicht vorhandenen Abwehr gegen die Fremden bei ihrem Herabsteigen in unser Land, das ihr Schlacht- feld wurde; aber vorausdeutende Zeichen finden sich bereits im Mittelalter, als unter anderem die Fabel vom „Lombarden und der Schnecke" in Europa verbreitet war und die harten, eisenklirrenden Lehnsherren von jenseits der Alpen die italienischen Bürger verachteten, „die erst seit gestern — den üblen Fettwanst gürteten mit ritterlicher Wehr". Dieser Vorwurf konnte auch nicht durch das Schauspiel verwischt werden, das die Italiener in dem neuen französischen Einbruch, nicht mehr königlicher, sondern republikanischer Truppen, zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts und in den Er- eignissen der Restaurationszeit darboten; und er wurde ebenso nur wenig gemildert durch die nicht immer einträchtigen, widerstandskräftigen oder vom Glück be- günstigten Kämpfe unserer Wiedererhebung. Wie peinlich dieser Vorwurf empfunden wurde, das beweisen die überaus zahlreichen Schriften, die besonders zwischen 1830 und 1848 ihn zu entkräften unternahmen, indem sie die leuchtenden Beispiele italienischen Kriegs- ruhms vorüberziehen ließen, im Zeitraum der mittel- alterlichen Stadtgemeinden, in der Renaissance und ganz besonders in der jüngstvergangenen napoleonischen Zeit. Ich hatte Gelegenheit, mich mit diesem Feder- krieg zu beschäftigen, als ich die Geschichte der ita- lienischen Historiographie im neunzehnten Jahrhundert verfolgte; allein es wäre ganz nützlich, wenn jemand eine eigene Abhandlung darüber schriebe, um den Stoff von allen seinen verschiedenen und belehrenden Ansichten her zu beleuchten. Trotzdem wirkten diese Streitschriften nicht über- zeugend und brachten die Frage nicht zum Abschluß. 21S Weshalb? Weil sie sich allzu wörtlich an die Aus- sprüche der Angreifer und Spötter hielten und jenen Vorwurf als einen Vorwurf natürlicher Unfähig- keit, der äem italienischen Volke gemacht wurde, auffaßten; so verstanden, war er offensichtlich eine Albernheit. Albern und leicht zu widerlegen, so wie denn ein alter napoleonischer Offizier und Verfasser geschichtlicher Darstellungen, Luigi Blanch, geant- wortet hat, kein Mensch, und noch viel weniger ein ganzes Volk sei unfähig, das Leben um irgendeines Beweggrundes, der zu seinem Herzen spräche, aufs Spiel zu setzen. Und die Italiener waren in der Tat dessen so wenig unfähig, daß kein Volk jemals so be- reit schien wie sie, das Leben, außerhalb der eigentlich militärischen Kämpfe, täglich wegzuwerfen : die italie- nischen Chroniken des siebzehnten Jahrhunderts, also der Zeit, in der die militärische Tüchtigkeit Italiens sich auf der tiefsten Stufe befand, bringen auf jeder Seite Nachrichten von wilden Streitigkeiten, von Zwei- kämpfen und Handgemengen, zwischen Einzelnen und Parteien, und erwecken die Vorstellung von einem Italien, in dem Tag für Tag das Blut durch Stadt und Land floß. Die Zweikämpfe der Adelsherren wurden damals in „Compagnien" ausgefochten, das heißt jeder pflegte seine Freunde mit sich zu führen, damit man sich aus den nichtigsten Gründen das Lebenslicht ausblasen könne. Noch gewalttätiger waren die Volksmassen und das Landvolk. Das war also alles andere eher denn Anhänglichkeit an das Leben! Es scheint vielmehr, daß dieses damals recht niedrig im Werte stand, und man könnte auf jene Zeugnisse das Gesetz der Erfahrung — noch durch andere Beobach- tungen gestützt - gründen, daß der geringern mili- 216 tärischen Tüchtigkeit einer Gesellschaft eine größere Neigung zu Bluttaten entspreche, und umgekehrt. Deshalb hat auch Marat in einer seiner Ansprachen dem Wunsch Ausdruck gegeben, bloß „dreihundert Neapolitaner, mit nackten Armen, bewaffnet mit Dolchen", um sich zu haben, um die Revolution in Frankreich endgültig zum Siege zu bringen. Jedoch in seinem versteckten und tiefen Sinn ver- standen, v^ar der Vorwurf richtig und unwiderlegbar. Insofern er nämlich, in anderer Form, aussagte, daß den Italienern der Zusammenhang mit einem starken Staatsgebilde, dessen Ausdruck die militärische Tüch- tigkeit ist, gefehlt habe. Die Beispiele selbst, die gegen ihn ins Treffen geführt worden waren, hatten nur den Wert von Ausnahmen, die die Regel bestätigen: das heißt, sie zeigten, daß stets, wenn es in Italien einen starken Staat gegeben hatte (zum Beispiel jenen des Hauses Savoyen), ein Gefühl nationalen Stolzes, oder zum wenigsten einen Innungsgeist, man sich vortreff- lich geschlagen hatte. 1798—99 flüchtete das neapoli- tanische Heer beim ersten Zusammenstoß mit den Franzosen; allein wenige Wochen später bildeten sich überall bewaffnete Banden, die auf die Franzosen und Jakobiner Jagd machten und nach einigen Monaten unausgesetzten Kampfes die Oberhand behielten. „Wie geht das zu?" fragte verwundert einer der französischen Heerführer, Thiebault (ich schreibe an einem Orte, wo mir keine Bücher zur Hand sind und ich mich auf mein Gedächtnis verlassen muß), „diese Neapoli- taner laufen davon, wenn sie Uniform tragen, und kämpfen, wenn sie sie weggeworfen haben." Ein Rätsel, dessen Lösung leicht ist: der Feldzug der Jahre 217 1798—99 ^^^ einer Berechnung der Kabinette ent- sprungen, war geführt mit einem ansehnhchen Heer unerfahrener Rekruten, von einem österreichischen Theoretiker befehhgt (demselben, der sich später von Napoleon in Ulm einschließen ließ) und vorausbe- stimmt, zu mißglücken ; w^ährend jene Banden unter dem Antrieb des Hasses gegen die Fremden und zur Ver- teidigung von Religion und König aufstanden: zwei gewaltige Mächte im katholischen und monarchisch gesinnten Süden Italiens. Ich könnte diese Anekdoten und die aus ihnen sich ergebenden Betrachtungen leicht vervielfachen; allein ich überlasse das demjenigen, der einmal jene Monographie schreiben wird, deren Stoff ich oben bezeichnet habe. Nun wohl: was bewirkt das italienische Heer, das jetzt unter der kräftigen und klugen Leitung des Gene- rals Cadorna kämpft.?^) Nichts Geringeres als dies: es ist im Begriff, das italienische Volk endgültig von einem fünfzehn Jahrhunderte alten Vor- wurf zu reinigen. Es beweist nämlich mit der Tat, daß dieses italienische Volk nunmehr seine nationale und politische Einheit erreicht hat, dessen Ausdruck die Stärke des Heeres ist. Es genügt, meine ich, diesen Sinn des gegenwärtigen Krieges darzulegen, um jedem vernünftigen Menschen, jedem gesunden Gemüte den überaus hohen Wert des Werkes, das sich vollendet, klarzumachen, dem gegen- über kein Opfer jemals groß genug, kein Ausharren wenig lohnend wird genannt werden können, und keine 1) Ich habe hier das Urteil wiedergegeben, das damals in aller Mund war; und ich lasse jetzt diese Worte (obwohl sie bis jetzt unveröffentlicht sind) unverändert, weil es mir scheint, ich würde mich, wollte ich sie jetzt ändern, einer, ich weiß nicht zu sagen, ob großen oder kleinen Feigheit schuldig machen. (Anmerkung Croces.) 2t8 im Bereich der Möglichkeit liegende Schwäche jemals von der Schuld eines echten und rechten Verrats an den höchsten nationalen Gütern wird reinzuwaschen sein. Angenommen auch, daß der gegenwärtige Krieg kein anderes Ergebnis für uns haben sollte, als daß wir den andern Völkern der Welt mit erhobener Stirn, von Gleichen zu Gleichen, ins Auge werden blicken können, so würde der Gewinn, nicht nur der sittliche allein, auch der politische ungeheuer sein. Die künftigen Ge- schlechter werden immerdar das Geschlecht segnen, das dies erstrebt und erreicht hat, so wie wir jene segnen, die mit ihren Anstrengungen, ihrem Märtyrertum, ihrem Blute Italien die Freiheit und Unabhängigkeit ge- schenkt haben. So abgebraucht diese Worte ins Ohr klingen mögen, in ihnen ist nichts von der Armut des Gefühls, die sich in fadenscheinige Redensarten hüllt; mir, dem einfachen Philosophen und Kritiker, begegnet es im Verlauf meiner Forschungen sehr oft, daß ich mir sagen muß : kann ich das schreiben, was ich denke, kann ich mich mit so vielen freien Geistern Italiens, Europas und anderer Teile der Welt verbunden und verbrüdert fühlen, so schulde ich das denjenigen, die hundertachtzehn Jahre früher, in meinem Neapel, unter dem grinsenden Hohn des Pöbels, auf dem Markt- platze den Tod am Galgen erlitten haben. Und darum ehre und segne ich sie. Indessen gibt es heute eine politische Partei in mannigfachen Abstufungen — der Kürze wegen will ich sie die sozialistische nennen — die spöttisch die Achseln zuckt und derartige Gefühle und Be- geisterungen als schlauen Betrug oder als naive Täu- schung verhöhnt; sie hat den Vorsatz, das Menschen- 2ig geschlecht, voran Itahen, von den Einbildungen über militärische Ehre und Ruhm zu heilen, setzt darum das große Werk, das sich unter unsern Augen vollzieht, herab oder befehdet es. Ich möchte die gebildeten und vernünftig urteilenden Sozialisten fragen — es sind deren viel mehr, als man glaubt, nur erscheinen sie w^enige, v^eil ihr Mut nicht so groß ist, daß sie laut die Folgen ihrer Ervv^ägungen bekennen v^rürden — ob sie v^irklich meinen, daß der Sozialismus (gesetzt den Fall, sein Ideal gesellschaftlicher Ordnung v\rerde eines Tages verw^irklicht) der Macht des Staates v^irklich entraten könnte, und w^äre es auch des Proletarierstaates, mit dem zugehörigen Heere, der Manneszucht, Rang- stufung, dem Ehrgefühle, militärischen Überlieferungen und Ruhmestaten, mit Belohnungen und Strafen und allen sonstigen notwrendigen Dingen. Welche Wunder man auch vom Sozialismus zu erw^arten geneigt ist, das eine vvrird man doch von ihm nicht erwarten wollen, daß er die Gestalt der Erden und Meere ändere, die ethischen und geschichtlichen Merkmale der ver- schiedenen Bevölkerungen, den gegensätzlichen Anteil, der sich daraus ergibt und dessen schwanker Aufbau immer entweder durch den Kampf oder die gegen- seitige Furcht gegeben sein wird. Es gehört die wunder- same Kindlichkeit der russischen Sozialisten dazu, um sich ein Heer zu denken, das durch den Odem demo- kratischer Predigten festen Zusammenhalt empfangen und kämpfen soll; es gehört ihre in Wahrheit unge- heuerliche Unkenntnis dazu, um als Stütze dafür das Beispiel der französischen Freiwilligen von 1793 an- zuführen, während jeder mäßige Kenner französischer Geschichte weiß, daß diese Freiwilligen zuerst die Probe recht übel bestanden haben und daß es strengster 2-20 Manneszucht bedurfte, um sie in das alte republi- kanische Heer einzugliedern, dessen Siege größtenteils den militärischen Einrichtungen des abgeschafften Königtums verdankt wurden. Was, glaubt man wohl, erregt so viel Furcht und so viel Widerstand dem Sozialismus gegenüber? Etwa die Störung der sogenannten privaten Interessen? Allein jedermann weiß, daß es geschworene Antisozialisten ohne einen Heller in der Tasche gibt, wie Sozialisten und dem Sozialismus Zugeneigte, die Millionäre sind. Der Mensch wird viel mehr, als man gemeiniglich glaubt, von idealen und geistigen Beweggründen getrieben, die von seinen unmittelbaren und persönlichen Interessen unabhängig sind. Störungen dieser Interessen, und mehr oder weniger ausgebreitete Umstürze gesellschaftlicher Klassen ereignen sich fortwährend, durch den Bruch eines Handelsvertrags, durch einen gewerblichen Um- schwung, ja selbst durch ein Kerbtier, die Reblaus oder die Ölfliege, und trotzdem zittert man deshalb nicht. Was aber tatsächlich Abscheu und Schrecken erregt, ist der Gedanke an politische Schwächung, gesell- schaftliche Auflösung, Anarchie, an die Gemeinheit, die blutdürstig und grausam wird, und nach alledem an die mühselige Rückkehr zu den früheren Verhält- nissen, unter allgemeiner Schädigung und Beschämung, oder zuweilen der besondern jener Klasse, die übel- beraten versucht hatte, sich auf Kosten des staatlichen Lebensgefühls zu erhöhen. Die antimilitaristischen Sozialisten müssen die zwei einzigen selbständigen Denker, die der Sozialismus gehabt hat, Karl Marx und Georg Sorel, sehr wenig und oberflächlich kennen, beide erfüllt von kriegerischem und in gewissem Sinne konservativem Geiste: Beweis dafür die große Ver- 221 wunderung, die es erregt hat, als man jüngst erfuhr, wie Marx zuzeiten fast wie ein MiUtarist und All- deutscher gesprochen hat. Jene aber sind unüberlegte und leichtsinnige Sozialisten, und es bleibt ihnen nichts anderes übrig — ist ihr Herz besser denn ihr Kopf — als in aller Hast Leid und Reue zu erwecken, wie es Herrn Herve gegangen ist. Es sind nun sieben Jahre her, also lange vor dem Krieg, da legte ich die Gründe dar, weshalb die sozia- listische Bewegung, allenthalben in die nationalen Be- wegungen aufgegangen, versagt und enttäuscht habe;, ich brachte unter anderem als Beweis dafür die Ver- schmelzung der deutschen Sozialisten mit dem deut- schen Reich, die seither durch den Krieg ihre Bestätigung gefunden hat. Allein, da alle Vorhersagen nur mäßigen Wert haben, will ich auch der meinen nur einen solchen zubilligen und will für einen Augenblick die entgegen- gesetzte Annahme aufstellen, das heißt die des mehr oder weniger nahen Sieges des Sozialismus, wohlver- standen, seines dauernden, nicht etwa vorübergehenden. Unter welchen Umständen wird er in Italien tatsäch- lich und dauerhaft sein? Bloß dann, wenn jene mili- tärische Kraft, die einst den lombardischen Adel, die venezianischen Patrizier, die Bürger von Florenz und ich möchte selbst sagen, die Neapolitaner beseelte, die bei Velletri die Österreicher schlugen, sich in großen Mengen gegen die Franzosen waffneten, 1848 ihren Königen Sizilien zurückgewannen und sie nicht ohne Ehren in Gaeta verteidigten — jene militärische und politische Kraft, die sich mit den liberalen und nationalen Ideen vermählend, 1 859 und 1 860 die Waffen des neuen Italien zur Geltung brachte und die heute, um so viel Z22 größer geworden durch die Teilnahme der gesamten Nation unsere Grenzen deckt und ins feindliche Gebiet vorrückt — wenn diese unversehrt, ja erhöht an die neuen sozialen Klassen übergeht. Dann werden diese sich in der Tat als reif erweisen, die Zügel des Staates zu übernehmen; die nationale Ehre, Kultur, Gesittung, die Intelligenz, die von einer langen Geschichte hervorgebrachten Werte werden dann in neue, aber gute Hände gelegt sein, und jedes großmütige Herz wird dann nicht um die erbärmlichen und vergänglichen „Privatinteressen" (diese dann vielmehr „herabgesunken" zu Privat- interessen) klagen, die geopfert werden können, genau so wie sie alle Tage, aus verschiedenen Ursachen, ge- opfert werden. Diese leitenden Klassen der Zukunft werden mithin nur so weit Kraft besitzen, als sie die politische und militärische Erbschaft des Heeres, das jetzt um Italiens Geschicke kämpft, anzutreten wissen werden ; und ich vermag, mich mit der größten Sach- lichkeit, wie ich oben getan, auf die Seite des Sozialis- mus stellend, nicht zu verstehen, wie die Sozialisten jetzt nur wünschen oder versuchen können, ein Erb- teil an Kraft zu zerstören, das anzutreten sie trachten sollten, und das sie darum vielmehr zu verteidigen und zu vermehren bestrebt sein müßten. Allein, die Toren glauben stets, daß Gesellschaft und Welt ein weicher Teig seien, den sie nach ihrer Weise von ihren kleinen Gehirnen her und mit ihren ungeschickten Fingern umkneten und herrichten können ! NOCH ETWAS ÜBER DIE PHILOSOPHIE DER POLITIK (Critica XVI, März 1918). - Ich will, wie schon gesagt, nicht mehr auf den Begriff des Staates als Macht zurückkommen, weil man wissen- 223 schaftlichen Wahrheiten zuweilen einen üblen Dienst leistet, wenn man sie allzusehr verteidigt. Sind sie ein- mal aufgestellt und verteidigt worden, so muß man ihren Leugnern gegenüber die Achseln zucken und zum Maccaronilatein : Quivult c apere capiat oder zum scho- lastischen: Scientia non habet inimicum praeter igno- rantem greifen. So pflegen wir es längst bei denen zu tun, die aufs neue fordern, die Poesie solle sich von der Sittenlehre leiten lassen ; und so wollen wir es von nun ab auch mit der Politik halten, die, um Worte Vicos in unserer Weise anzuwenden, „eine in gewissem Sinne tatsächliche Poesie" ist; glauben andere jedoch, daß eine garstige Dichtung durch den klugen sittlichen Vorsatz, der sie eingegeben hat, gefechtfertigt werde, oder die üble Politik eines Staatsmannes durch die edle Idealität der Gerechtigkeit, der sie entsprang, ent- schuldigt werden müsse, und sehen sie nicht ein, daß dieser Staatsmann oder jener Dichter sich vielmehr gegen ihre nächsten und genau bestimmten Pflichten schwer versündigt haben, nun so ist das ihre Sache, und sie mögen in ihrer Torheit verharren. Ich habe vordem versucht, das Wort: „Macht", das so viel Schrecken erregt, weil es die — bei geistig Schwachen immer sehr lebhafte — Einbildungskraft aufregt, mit „Tüchtigkeit" zu übersetzen, und zu zeigen, daß die Fähigkeiten nicht erkannt und erwählt werden können, falls man sie nicht miteinander kämpfen läßt; aber es ist verlorene Mühe! Um so mehr als (während sich in Sachen der Poesie doch zuweilen einer findet, der sich für unzuständig erklärt und schweigt) in Sachen der Politik „jeder seine Meinung hat" , auch die Vielen, die gar nicht wert sind, eine zu haben, da sie nicht im- stande sind, sich eine solche zu bilden; besonders die 224 Freimaurerei ist ein großer Kramladen von „Über- zeugungen", die zu volkstümlichen Preisen erworben werden können und nicht mehr und nicht weniger wert sind als sie kosten. Nur von einem Gesichtspunkt aus können derartige „Ansichten" ernst genommen werden, nämlich insofern sie die Gemüter der Vielen, der Überzahl beherrschen; sie bilden auf diese Weise einen Sturzbach, eine Masse, eine Lawine von Un- wissenheit, die aber eine Tatsache gleich andern ist, ein Schwergewicht, das man ohne Zweifel in Rech- nung ziehen muß. Allein derartige Rechnungen auf- zustellen, ist Sache des Politikers, der sich dieser auf ihm lastenden Masse oder diesem Gewicht, das sich an seine Füße hängt, gegenüber findet; nicht des Kri- tikers, der das Ungetüm umkreist, es anstaunt, aber nicht zu ihm spricht, weil er sehr wohl weiß, daß er selbst nur einen Mund, jenes aber tausend Mäuler hat, und daß mithin die Unterredung mit ihm nicht zum Zwie- gespräch werden kann. Sagt man aber, die moralisti- schen Theorien der Politik seien immerhin eine Reli- gion des Trostes für die besiegten, unterdrückten, schwachen und kleinen Völker, oder das politische Auskunftsmittel für solche, die die erworbene Macht zu behaupten suchen, indem sie dieser eine heuchle- rische, aber glänzende und darum nützliche Recht- fertigung geben, so möchte ich antworten, daß die ersten, statt sich mit jener falschen Religion zu trösten, besser daran täten, sich zu kräftigen und dauerhafte Bündnisse zu schließen, die andern aber, statt sich auf die über die Welt verbreitete Unwissenheit zu ver- lassen, vielmehr bedenken sollten, daß man mit Aus- kunftsmitteln wohl einen augenblicklichen, aber sehr gefährlichen Vorteil erzielt und man mit ihnen über 15 Croce, Randbemerkungen eines Philosophen 22 C das Nächste hinweg kommt, aber keineswegs zu leben vermag. DAS VORURTEIL VOM „BESTEN STAAT« [März igi8). — Der moralistische oder demokratische Irrtum (wie man ihn auch nach denen, die ihn be- sonders hätscheln, nennen könnte) in der Wissenschaft der Politik ist sicherlich einer der gewöhnlichsten ; ver- zichte ich hier auch darauf, ihn noch einmal zu wider- legen, so möchte ich trotzdem auf zwei ebenfalls recht eingewurzelte Irrtümer hinweisen, von deren einem sich ein schwacher Widerschein selbst in Treitschkes Politik bemerkbar macht; in einem Buche, das kürz- lich ins Italienische übersetzt wurde und dessen Le- sung und Ergründung nicht nachdrücklich genug emp- fohlen werden kann, so viel enthält es an Lebensweis- heit, dargelegt in einfacher und gedrängter Form. Es handelt sich dabei um ein sehr altes Vorurteil, ob es nämlich möglich sei, die beste politische Form, den „besten Staat" bestimmen zu können, der die größten Vorteile der übrigen Formen sämtlich mit den gering- sten Nachteilen in sich vereinige: diese Form ist für zahlreiche Publizisten des neunzehnten Jahrhunderts die verfassungsmäßige und parlamentarische Monar- chie gewesen, fürTreitschke wohl auch die verfassungs- mäßige, aber nicht parlamentarische Monarchie preu- ßischen Gepräges. Dagegen muß erinnert werden, daß politische Formen überhaupt nicht bestehen, sondern einfach Gedankenbauten der Theoretiker sind, und daß, was in Wirklichkeit besteht, die geschichtliche Tatsache ist, das heißt Formen, die nicht mehr ein- fache Formen sind, sondern Völker in bestimmten Augenblicken ihres Lebens, mit bestimmten Reli- 226 gionen und Philosophien, bestimmten praktischen und sittlichen Zielen, bestimmten Überlieferungen, in be- stimmten internationalen oder Weltlagen; daher sich alles, was man zugunsten oder zuungunsten der Form sagt, in der Tat immer auf diese bestimmte und festumschriebene geschichtliche Wirklichkeit bezieht. Die wissenschaftliche Folgerung ist demnach, daß, wenn jemand auf diesem Wege zu einer allgemeinen Wahrheit zu gelangen vermeint, er höchstens zu einer besondern gelangt, nämlich, daß ein gegebenes Volk in einem gegebenen Zeiträume gedeiht und die andern überflügelt; erhebt man aber diese besondere Wahr- heit zu einer allgemeinen, so öffnet man den so oft verworfenen politischen Utopien Tür und Tor, die nicht nur darin bestehen, daß man vollkommene Staats- wesen außerhalb des geschichtlichen Verlaufs und un- abhängig von ihm ohne Änderung beharrend oder be- stimmt, ihn mit einem paradiesischen Dauerzustand abzuschließen, feststellt, sondern auch darin, daß man aus der Geschichte zufällige Formen absondert und sie für unbedingt ausgibt. Daher stammen die un- überlegten Nachahmungen von politischen Formen fremder Völker oder solcher, die durch ein ruhmvolles politisches Leben ausgezeichnet sind: Nachahmungen, die namentlich im Zeitalter der französischen Revo- lution mitunter zu Zerrbildern entarteten, und die, gleichviel ob in ansehnlicher oder in verzerrter Auf- machung, immer auf der trügerischen Annahme ruhten, daß es, um Wirkungen hervorzubringen, denen ähn- lich, die sich in einem gegebenen Fall eingestellt haben, genüge, sich ein paar in jenem Fall an der Oberfläche beobachtete Verhaltungsweisen anzueignen : gerade so wie es die Petrarchisten mit der Dichtung Petrarcas 15» _ 227 oder die Raffaeliten mit Raffaels Malerei gemacht haben, und wie es die Professoren in allen möglichen Weltteilen mit der deutschen Philologie zu tun ge- wohnt waren. Wer sich die nötige geistige Freiheit be- wahrt, wer vorurteilslos zu sein versteht, gibt sich keiner Täuschung darüber hin, als ob heilsame Formen oder Staaten, die dauerndes Gleichgewicht erreicht hätten, bestünden, sondern schärft sein Auge, um die wirklich tätigen Kräfte zu entdecken und damit die wirklichen Möglichkeiten für ein bestimmtes Volk in einem bestimmten Zeitpunkt ; und wenn beispielsweise für dieses Volk oder diesen Zeitpunkt die wirksamste Lebensform in die Erscheinung tritt, mit der Repu- blik, ja selbst mit dem Sozialismus, so wird er in diesen Formen den besten Staat begrüßen, den besten, weil die besten Kräfte ihm Leben verleihen und ihn tragen, und weil die Geschichte uns niemals andere „beste" Staaten als die derart entstandenen und erhaltenen vor Augen geführt hat, so mannigfaltig auch ihre äußeren Züge gewesen sein mögen. Mit andern Worten : die Aufgabe des Politikers wird immer und einzig die sein, die Fülle des Lebens zu fördern, gleichviel, woher sie stammt, und stets und überall die Rückschrittlichen und Fortschrittsfeinde zu bekämpfen, seien sie Adels- oder Arbeiterklassen, Monarchisten oder Republikaner, Sozialisten oder Anarchisten, die ja sämtlich, von Fall zu Fall, zu Rückschrittlichen oder Fortschrittsfeinden werden können, geradeso wie ein Anhänger der unbe- schränkten Monarchie mitunter ein Fortschrittsmann und Revolutionär sein kann. Zu dem Vorurteil über den Wert gewisser, abstrakt genommener, politischer Formen gesellt sich mithin jenes andere über den fort- schrittlichen Charakter gewisser Parteien und den 228 rückschrittlichen anderer, während in der wirklichen Geschichte dergleichen Charaktere häufig die Rollen tauschen und einander ablösen ; ebenso kann ein Staat, dem Anscheine nach, im Vergleich zu andern, die den höchsten Grad der Verfeinerung erreicht haben, sehr wohl fortschrittlich sein, beispielsweise Rom ge- genüber den griechischen Städten Italiens und Siziliens, oder die germanischen Völker gegenüber den römi- schen Bürgern der späten Kaiserzeit. DAS VORURTEIL VON DER GRÖSSE DER VÖLKER {März 1918). - Hat nun der Politiker dieses Amt, so kann sein Hauptziel nicht darin be- stehen, die Größe und den Ruhm eines Volkes aufzu- richten ; denn diese Dinge entstehen und werden nicht künstlich gemacht. In der Tat nennt man Größe eines Volkes die Rolle, die es als Vorbild und Führer für andere innehat, als Vertreter jener Form der Gesittung, die zu einer bestimmten Zeit die höchste ist. Nun liegt aber diese Rolle fallweise in den Händen der ver- schiedensten Völker und keines hat sie jemals so fest- zuhalten vermocht, daß sie ihm für immer verblieben wäre ; vielmehr ist die höchste erreichte Stufe der Vor- herrschaft fast immer der Vorläufer nahen Abstiegs gewesen. Welchem Volke sie in der nächsten Zukunft zufallen oder ob sie unter verschiedene aufgeteilt wer- den wird, das ist das religiöse Mysterium der Ge- schichte, das Geheimnis der Vorsehung: jener Vor- sehung, die in einem gegebenen Augenblick bei dem Volke oder den Völkern, die sie erkoren hat, etwas wie eine wundersame Harmonie zwischen Gedanken und Tat, zwischen Gesellschaft und Staat, zwischen den verschiedenen Klassen herstellt, den Massen die Führer 229 gibt, den auszuführenden Werken die großen Einzel- wesen, die sie in ihrem Geiste zusammenfassen und zur VerwirkUchung bringen. Gehört aber diese Zu- teilung der Vorsehung an, so kann der Politiker nicht mit ihr in die Schranken treten, wenn er nicht auch hier schlechte Nachahmungen und törichte Zerr- bilder des Unnachahmlichen und Selbstwirksamen her- vorbringen will. Wie ein rechter Dichter sich nicht vornimmt, das große Gedicht oder die große Tra- gödie zu machen, sondern seiner Innern Stimme ge- mäß dichtet, und vollauf an knapper Lyrik oder der Novelle Genüge findet, indem er es der Muse über- läßt, will sie es, ihn zu jenen Werken zu leiten, die man als „große" ansieht und die doch nur solche anderer Art sind; wie der kluge Mensch nicht um sich blickt, die beneidend, die höher als er stehen, son- dern auf seine Arbeit bedacht ist und es dem Glück anheimstellt, ihn, liegt es in dessen Absicht, auf die nämlichen hohen Stufen, ja noch höher zu führen : so muß auch ein Volk danach trachten, das möglichst Beste aus den gegebenen Umständen zu schöpfen, nicht aber das Rom Julius Cäsars, das Makedonien Alexanders des Großen oder das Frankreich Napoleons nachzuahmen: es sind das Vorsätze, die in der Litera- tur von Federfüchsen und ähnlichen Lendenlahmen, in der Politik aber von den „Großmannsüchtigen", wie die genannt werden, die solches anstreben, gefaßt werden . Wahrlich, würden wir uns in Italien insgesamt von den Sittenpredigern der Politik, den Anhängern ab- strakter Form und abstrakter Größe (Demokraten, Dok- trinären, imperialistischen Nationalisten) freimachen, so hätten wir mit einer stattlichen Menge nicht nur leeren, sondern auch gefährlichen Geschwätzes auf- 230 geräumt, und Zeit und Raum gewonnen, um die wirk- lich ernsten Fragen unseres nationalen Lebens zu er- örtern und allmählich deren Lösung herbeizuführen. DAS AMT DER REDNER UND DIE PFLICH- TEN DER GELEHRTEN. VOM SAGEN UND NICHTSAGEN DER WAHRHEIT [JumigiS).- Vor einigen Jahren habe ich irgendwo die recht ober- flächlichen Vorstellungen über die sittliche Pflicht „die Wahrheit zu sagen", das heißt, andern die Wahr- heit mitzuteilen, kritisiert, indem ich erstens zeigte, daß man die Wahrheit nicht „sagt" und nicht „mit- teilt", als ein fertiges Erzeugnis, da jeder sie von sich selbst aus hervorbringen muß, und was man „Mit- teilung" nennt, ein Inbegriff^ praktischer Mittel ist, durch die man andere in eine bestimmte geistige Lage zu bringen sucht, geeignet, den Gedanken zu wecken und ihn in einer bestimmten Richtung tätig werden zu lassen; zweitens habe ich daraus abgeleitet, daß das Wort, in diesem seinem praktischen Gebrauch, als Mittel der Überredung, keinen theoretischen Wert weder als wahr noch als falsch habe, und recht wohl zu praktischen Zwecken angewendet werden kann, auch angewendet wird, die nicht unbedingt den Boden zum Hervorbringen der Wahrheit vorbereiten, vielmehr gewisse Lebensformen fördern sollen; ajs Beispiel habe ich die Worte angeführt, die man zu Kranken zu sprechen pflegt, um sie an Geist und Körper aufzurichten, oder zu Soldaten, um sie zu be- herztem Angriff zu veranlassen. Wie es mir aber auch in andern Fällen ergangen ist, so erweckte auch diese meine Theorie, deren Hauptzweck war, den Begriff der „erlaubten" oder „edelmütigen Lügen" zu be- 231 kämpfen — durch das einzige Mittel, durch das man einen falschen Begriff aus der Welt schaffen kann, nämlich seine Bestandteile und die Wahrheitsforde- rungen, die er enthält, aber übel zusammenfügt, auf ihren richtigen Platz zu stellen — irgendwie den An- schein des Zynismus. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll: ich kann bloß hervorheben, daß ich mit aller Schärfe gedacht und meinen Gedanken klar aus- gedrückt habe; ist er nicht oder übel verstanden wor- den, so liegt die Schuld nicht an mir, sondern an der Unaufmerksamkeit oder Oberflächlichkeit anderer. Es ist demnach an den andern, zu begreifen, denn meine Aufgabe, „klar zu unterscheiden" habe ich erfüllt. Hingegen mag es nützlich sein, hier die Erörte- rung nochmals auf ein geschichtliches, uns naheliegen- des, nämlich politisches und zeitgemäßes Gebiet zu verlegen. Wer hier fortfahren wollte, nicht oder übel zu verstehen, könnte mich hier — und ich wundere mich, daß es bis jetzt nicht versucht worden ist — des Widerspruchs mit mir selbst bezichtigen und der An- schein spräche in diesem Falle für ihn. Denn es ist Tatsache, daß ich, der Theoretiker der oben erwähnten Lehre, in die Lage gekommen bin, mit allem Nach- druck den „Kriegslügen", der „falschen Wissenschaft vom Kriege" entgegenzutreten, und des öftern auf der Notwendigkeit zu bestehen „die Wahrheit zu sagen", ohne sich über eingebildete Gefahren, die daraus für das Leben erwachsen sollen, den Kopf zu zerbrechen. DIE DEMOKRATIE, DIE VORGEBLICH „GEFÄHRLICHEN WAHRHEITEN" UND DIE VORGEBLICH „HEILSAMEN LÜGEN". - 232 In der Tat haben in unscrn Demokratien alle jene For- meln von den „gefährlichen Wahrheiten" und den „heilsamen Täuschungen" Umlauf, desgleichen tauchen hier alle jene Versuche wieder auf, eine besonderen praktischen Interessen dienstbare Wissenschaft aufzu- stellen, eine „demokratische Wissenschaft", wie es einst eine der Feudalen und der Klerikalen gegeben hat und noch gibt, ebenso wie jeder andern Partei, die zu ver- zweifelten Mitteln greifen muß, um sich zu verteidigen, wenn sie sich des rechtmäßigen Mittels verlustig sieht: der geschichtlichen und tatsächlichen Rechtfertigung. Dennoch wäre es eine Buße für meine Sünden — und nur als solche würde ich sie demütig hinnehmen — , wenn all diese Schmutzereien, gegenwärtig demokra- tisch, einst konservativ oder vielmehr rückschrittlich undjesuitisch, mit meinem Satze verwechselt und gleich- gesetzt würden: daß die Wahrheit nicht „mitgeteilt", sondern lediglich, je nach den Zeiten und Umständen, erzeugt werde, durch praktische Vorsorgen und Antriebe, geeignet, die Gemüter fähig zu machen, sie hervorzu- bringen. Denn diese Vorsorgen und Antriebe, von denen ich sprach, waren alle daraufgerichtet, nicht eine falsche Wissenschaft aufzurichten (eine falsche Wissenschaft, die aber dann, Gott weiß wie, für heilsam ausgegeben wird, um sie an die Stelle der wahren zu setzen, die, man weiß nicht wieso,als gefährlich ausgeschrieen wird),wohl aber der Wissenschaft Raum zu schaffen, der einzigen Wissenschaft, die die stets sich erneuernde Wahrheit ist; nur aus diesem Grunde riet ich, die Wahrheit dem zu verschweigen, der noch nicht würdig ist, sie zu hören und sich der leeren Formel bedienen würde, um seine Lei- denschaften zu befriedigen; desgleichen dem, der sich unter solchen praktischen Umständen befindet, daß es • 233 Torheit wäre und wie Hohn aussähe, ihn zum Nach- denken, Überlegen, Forschen und Urteilen veranlassen zu wollen, während das, was ihm einstweilen nottut, gerade ist, ihn aus dieser mißlichen Lage zu befreien. Hingegen greift die Theorie der „gefährlichen" Wahr- heit und Wissenschaft das Leben der Wissenschaft selbst an und zerstört es, da sie nichts anderes als den Auf- bau der falschen Wissenschaft befördert. Was ist nun diese letztere? Sie liegt nicht in den ein- fachen, irrationalen (wie man sie zu nennen pflegt) und doch wirksamen und erhabenen Worten, die ich als weder wahr noch falsch und dennoch als nützlich (wohl rational, allein in praktischer Hinsicht) bezeichnet habe, etwa solchen wie der Ruf: „Hoch Italien!" oder jener Garibaldis in Mentana: „Wollt ihr nicht mit mir sterben?" oder der Friedrichs des Großen an seine im Kampf entmutigten Soldaten: „Racker, wollt ihr denn ewig leben?" und ähnlichen; wohl aber in der kalt be- rechneten Lüge selbst, die als solche nichts anderes denn Täuschung hervorbringt und früher oder später Ent- täuschung, Niedergeschlagenheit und Erniedrigung im Gefolge hat. Zum guten Glück erzeugt sie viel öfter noch Langweile und Ekel, weil die, denen sie aufgetischt und angepriesen wird, kein Bedürfnis nach solchen Ge- richten empfinden, auch nicht in der Lage sind, weder die echte noch die falsche Wissenschaft in sich aufzu- nehmen, sondern sich eben so verhalten, wie es ihnen gemäß ist, und das Leben nach ihrer Weise führen, nach ihren eigenen Beweggründen, Überlieferungen oder Trieben, welcher Art sie auch sein mögen. Unglücklicherweise fallen jedoch derartige Erzeug- nisse gerade durch ihre Hülle „falscher Wissenschaft" auf jenen Teil der Gesellschaft zurück, der die Welt oder 234 . der Kreis der Wissenschaft heißt: ein Kreis, der unter anderem in der Absicht gebildet und umschrieben wor- den ist, daß Männer, Versammlungen, Unterredungen, Bücher, Zeitschriften und andere geistige Einrichtungen und Verhältnisse dieser, Art aufgestellt und erhalten werden, in denen die Notwendigkeit zu schweigen und Mittel rednerischer Überzeugung anzuwenden auf das äußerste beschränkt, hingegen die reine Darlegung kri- tischer und wissenschaftlicher Begriffe auf das höchste gesteigert ist. Gerade weil die Gesellschaft in ihren sonstigen Schich- ten etwas ganz anderes zu tun hat, und die Wissenschaft, die reine, strenge Wissenschaft dies durchkreuzen würde, sei es, daß sie von jenem Tun ablenkt, sei es, daß sie Übelgesinnten Vorwände zu Mißbräuchen liefert, ist es nur der Kreis der Wissenschaft selbst, in dem uns volle Freiheit verliehen ist, jene Freiheit, die keine unbe- dingte ist — denn Unbedingtheit hieße hier Unwirklich- keit — , vielmehr stets bedingt, die aber dennoch, wie gesägt, auf das höchste gesteigert ist und sein muß. So fälscht die falsche Wissenschaft, bricht sie hier ein, die Wissenschaft selber, stört deren Leben, bewirkt, daß der ganzen Gesellschaft ein Vorrat an Kraft entzogen wird und mangelt, der ihr ebensosehr oder noch mehr nötig ist als der an Korn und Eisen : die Erzeugung und Ver- breitung der Wahrheit. Ich gebe keine Beispiele, da ich schon da und dort deren genügend viel gegeben habe und meine Leser längst wissen, daß dank einer falschen Werbetätigkeit, die sich in die Wissenschaft eingeschlichen, für Italien und einen großen Teil der Völker, mit denen es vereint ist, der gesunde Begriff der Politik, der Geschichte und des Lebens verloren ge- gangen oder geschwächt worden ist. Dieses üble Werk 235 wird nach wie vor bezeichnet als „Anfeuerung der Geister", als etwas, „das für den Kampf den Rücken stärke" ! Als ob es, in welchem Betracht immer, für ein Volk oder ein Einzelwesen von Vorteil sein könnte, in eine derartige geistige Verwirrung gestürzt zu werden, daß es sich nicht mehr im Besitz der Bestandteile des Wahren findet: ähnlich einem, der das Gedächtnis für die Zahlenfolge und die pythagoreische Tafel ver- loren hat, in einer Welt, in der man nun einmal ohne Addition und Multiplikation nicht das Auslangen findet! DIE EHRFURCHT VOR DER WAHRHEIT UND DER SINN FÜR DAS ZWECKMÄSSIGE (Juni igi8). — Umkehr tut not, darin, wie in vielen anderen Dingen; vor allem kommt es den Männern der Wissenschaft zu, furchtlos die Wahrheit zu suchen und zu sagen, denn es gibt nun einmal keine „gefährlichen Wahrheiten", außer in dem allgemeinen Sinn, daß jede Bewegung, jede Gebärde des Lebens gefährlich ist, und o?nnia periculis sunt plena^ das heißt jegliches ist mit jeg- lichem verbunden. Allein, Wahrheit ist Licht und Licht ist der Welt Leben. So ist es notwendig, daß die werktätigen Menschen sich sorgfältig hüten müssen, ihren Nächsten, das Volk, den Pöbel (denn auch Volk oder Pöbel sind Menschen und müssen als solche gewertet werden) mit Hirn- gespinsten zu füttern; namentlich aber auch, ihnen nicht Speisen einflößen zu wollen, die ihre Mägen noch, nicht verdauen können, das heißt Wahrheiten, für die sie nicht vorbereitet sind; das will aber nicht etwa be- sagen, daß man, auf der andern Seite, diese Unerfahrenen und Unreifen mit Unwahrheiten füttern soll, sondern, im Gegenteil, daß man sich darauf beschränken müsse, 236 ihnen lediglich jene Wahrheiten beizubringen, die sie zu begreifen imstande sind, und im übrigen ihre Ge- fühle und Triebe auf die soziale Wohlfahrt und auf ihre stufenweise individuelle Erhebung hinzuleiten, die sie in einer mehr oder weniger nahen Zukunft dahin- bringen wird — vielleicht auch nicht dahin bringen wird — , auch die übrigen, jetzt noch für ihren Verstand zu schwierigen Wahrheiten zu begreifen. Eine schwere Aufgabe ! — Sie ist dennoch sehr leicht, vorausgesetzt, daß man ehrlich und vernünftig zu Werke geht. Was mich betrifft, so kann ich sagen, daß ich bei aufmerksamster Beobachtung meines Selbst in den mannigfaltigsten Lebenslagen und Beziehungen zu den verschiedensten Leuten niemals in die Notwendigkeit versetzt worden bin, eine falsche Theorie zurechtzu- zimmern oder etwas nicht Vorhandenes zu behaupten, um auf meinen Nächsten oder mit ihm zu wirken: höchstens, daß ich zuweilen in gewissen, sehr heiklen und fast verzweifelten (aber zum Glück außerordent- lich seltenen) Fällen schweigen oder gewissen Selbst- täuschungen ihren Lauf lassen mußte. Wenn es mir aber begegnet ist, beispielsweise mit einem Mann aus dem Volke oder einem Bauern sprechen zu müssen, der mich über den Krieg befragte und mir seinen Unmut über die Opfer, die er fordere, ausdrückte, so habe ich ihm gewiß weder die Lehre Machiavellis, noch die Vicos und Hegels auseinandergesetzt, aber ich hatte auch nicht das Bedürfnis, ihm die Theorien des Neu- thomisten Kardinal Mercier oder der Großmeister der westlichen Freimaurerei beizubringen und gegen ihn und gegen mich selbst zum Lügner zu werden. ' Ich habe ihm vielmehr in einfachen Worten gesagt: Mein Sohn, der Krieg ist gekommen wie Dürre oder Hagelschlag, 237 was ist dagegen zu machen! Bescheide dich, und da nichts anderes übrig bleibt, denk daran, das Gewehr fest in der Hand zu halten, das man dir gegeben hat, um das Vaterland zu verteidigen, das Vaterland, das du, ich, deine und meine Kinder sind, denn wir alle leben auf italienischer Erde. — Mit andern Worten, ich habe ihn nicht auf die Höhen der Wissenschaft, der Kritik, der begrifflichen Aufgaben geführt, weil ich es nicht konnte und weil kein Anlaß dazu war; aber ich habe ihm auch keine Lüge gesagt. IDEOLOGISCHE ÜBERLEBSEL {Polhica, Rom, Jahrg. I, Nr. 2, Juni igi8). — Nicht ohne eine gewisse geistige Genugtuung beobachte ich an den Fossilien der Demokratie die Schlußfolgerungen der Ideologen des achtzehnten Jahrhunderts: wie unfähig sie nämlich sind, sich neue Elemente anzugleichen und wie sie unaus- weichlich das alte geistige System in allen seinen Teilen wiederkäuen müssen. Da aber dieser psychologische Vorgang von erheblicher Bedeutung nicht nur für die Studien, sondern auch für die werktätige Politik ist, so möchte ich jetzt zwei dieser Wiederholungen der Vergangenheit näher beleuchten, zwei Gestalten oder Typen, die jedermann in der heutigen politischen Tages- schriftstellerei bewundern kann oder konnte: den Ver- antwortlichkeitsjäger und den politischenSitten- richter. Seit dem Beginn des Krieges, und leider auch jetzt noch, haben sich allzuviele— und sie lassen nicht davon ab — auf die Feststellung des „Verantwortlichen", des „großen Schuldigen", des „Verbrechers", der den Welt- krieg entzündet habe, geworfen; er ist leicht in einem Einzelwesen zu finden gewesen, das, obwohl es ein 238 Kaiser ist, nichtsdestoweniger ein Mensch, ein armer Mensch ist, unfähig, eine so gewaltige Last in Bewegung zu setzen und einen Umsturz herbeizuführen, wie ihn nicht einmal Zeus, die Brauen runzelnd, hervorge- bracht hätte; gar nicht davon zu reden, daß dieser Mann vor dem Kriege von seinen Volksgenossen be- schuldigt wurde, wenig Mut und geringe Geistesstärke zu besitzen, zu ängstlich zu sein, um sich jemals zu einer Kriegserklärung bewegen zu lassen. Aber wenn auch — und dies haben die Vernünftigeren getan — die Ermittlung des Schuldigen vom Einzelwesen auf eine Gesellschaftsklasse, besser noch auf ein ganzes Volk oder eine Gruppe von Völkern ausgedehnt worden ist, so wurde dennoch der Verantwortliche nicht entdeckt und folgerichtig nachgewiesen; denn ein Volk ist nicht für seine Vergangenheit verantwortlich, die ihm diese oder jene Gegenwart anweist und in dieser oder jener Art sein Handeln bestimmt und gestaltet. Daher stammt die Ergebnislosigkeit dieser angestrebten Ermittlung, die sehr bald Überdruß und Widerwillen erregt, wie jeder unfruchtbare Versuch, jeder Schwall von Worten, der dem Geiste keinerlei Erleuchtung bringt*). Was will nun die Ermittlung des für geschicht- liche Ereignisse Verantwortlichen besagen? Es ist ein alter, wohlbekannter Irrtum, der längst genau um- ^) Der Übersetzer kann sich nicht versagen, hierzu die sehr treffende Fuß- bemerkung des italienischen Herausgebers G. Castellano anzuführen: „Croce hat diese Worte viele Monate früher geschriet)en, bevor Zeitungen und Minister der Entente den Vorschlag machten, Kaiser Wilhelm als den »Schuldigen* vor einen Gerichtshof zu ziehen und zu verurteilen. Die französische Rejjierung er- langte dafür ein zustimmendes Urteil von zwei Professoren der Rechtsgelehr- samkeit: diese haben offenbar den Ehrgeiz, in der Geschichte einen noch höheren Platz einzunehmen, als die berüchtigten Rechtsjjelehrten des Reichstages von Roncaglia, die Friedrich Barbarossa zum Schaden der italienischen Kommunen befragt hat." 239 schrieben, hinreichend zergliedert, kritisiert und aui seine idealen Ursprünge zurückgeführt worden ist, für jeden, der sich jemals um geschichtliche Studien be- müht hat; er ist im Verzeichnis der falschen und zu vermeidenden Methoden aufgeführt; er ist das, was man.in der historischen Methodenlehre die individua- listische oder pragmatische Auffassung der Ge- schichte nennt; diese hat gerade im achtzehnten Jahr- hundert ihren Gipfel erreicht und ist von der Geschicht- schreibung des neunzehnten Jahrhunderts mit wach- samer Sorgfalt bekämpft, widerlegt und ausgemerzt worden. Desgleichen hat in Italien wie anderwärts die Zahl derjenigen zugenommen, die sich darauf verlegt haben, über die kämpfenden Staaten und Völker ein sittliches Urteil zu fällen, indem sie dem Rechte zusprachen, der sie nicht zu erwerben oder nicht zu verteidigen weiß, sowie Schranken und Pflichten für den, der, seinem eigenen Urteil folgend und das eigene Blut vergießend, mit Recht keine andere Schranke und Pflicht außer der anerkennt, die ihm sein Geist und seine Stärke raten und setzen. Die äußerste Grenze dieses Verhaltens hat man bei den russischen Revolutionären beobachten können, die, sobald sie in den Vordergrund gelangt waren, einen obersten Gerichtshof gebildet haben, der alle Völker, im Namen der Moral, zur Verantwortung über ihre Kriegsziele ur^d zu deren Prüfung vorlud, Schafe und Böcke sonderte; so haben sie auch, ebenso sittenrichterlich vorgehend, die gegenseitigen, auf Treu und Glauben geschlossenen diplomatischen Verträge veröffentlicht (Verträge, die ihrem würdevollen und reinen Bewußtsein als schändliche Geheimnisse er- 240 schienen); endlich haben sie das nämliche Verhalten einer höchst empfindlichen und genauen Ehrlichkeit auch gegen die feindlichen Generale und Unterhändler befolgt und dabei, außer der Ehre, auch die sogenannten „materiellen" Interessen ihres Vaterlandes vernichtet, indem sie dieses der Fremdherrschaft auslieferten. Es ist sicherlich zugleich widerwärtig und lächerlich, wie ein paar sogenannte „Intellektuelle", den in den KafFee- und Bierhäusern von Zürich, London und Paris — in denen zur Friedenszeit die Ausgewanderten und Dema- gogen sich versammelten und ihr Wesen trieben — an- geeigneten Formelkram wiederkäuend, sich nun als Sittenrichter aufspielen (sie, die dieses Amt vielleicht nicht einmal dem Einzelmenschen gegenüber auszu- üben berufen sind), als Richter über ganze Völker und Staaten: etwas, das in dieser großartigen Form nur in Rußland möglich ist, wo es durch die Mißwirtschaft und die ungenügende Entwicklung der herrschenden Klassen vorbereitet wurde; wobei aber nicht zu ver- gessen ist, daß dies theoretisch nichts anderes als die äußerste Folge des Verhaltens politischer Moralisten darstellt, das sich allenthalben in unsern reiferen und klügeren Ländern spreizt. Der wissenschaftliche Irrtum dieses Verhaltens stammt, wie jetzt schon längst klar sein sollte, aus dem Vorwand, die Politik als Moral zu behandeln, während die Politik -- das ist die einfache Wahrheit — eben nur Politik und nichts anderes als diese ist. Will man mir noch einmal erlauben, die Formel und den Vergleich, die ich liebe, vorzubringen, so wieder- hole ich, deren Sittlichkeit beruht allein und ausschließ- lich darauf, gute Politik zu sein, gerade so wie die Sittlich- keit der Dichtung (was auch die Unzuständigen darüber sagen mögen) einzig darauf beruht, gute Dichtung zu i6 Croce, Randbemerkungen eines Philosophen 2,A.l sein. Auch jener Irrtum entstammt ja dem achtzehnten Jahrhundert, der Aufklärung, die in ihrem Gegensatz zum Mittelaher und der Kirche eine Art ratipnaUstischer Nachahmung von Mittelalter und Kirche hervorbrachte ; da die letztere die Politik als Moral auffaßte, so behielt man diese Auffassung bei, nur daß der Moral ein an- derer, der neuen Zeit angepaßter Inhalt gegeben und die Auffassung verweltlicht wurde. Die Jakobiner er- klärten dem Königtum in der nämlichen Weise, mit dem nämlichen Ton und den nämlichen Worten den Krieg, wie einst die Kirche in den Kreuzzügen den Un- gläubigen. Wenn nun auch diese zwei typischen Vertreter irriger Gedankenformen bei den Völkern des westlichen Europa, dank dem Widerstand, den sie hier in der Überliefe- rung, Erfahrung und Verfeinerung der Geister finden, nicht den Schaden verursachen, den ihre Genossen (oder sagen wir besser ihre naiven Schüler) anderwärts ver- ursacht haben, so schwächen sie nichtsdestoweniger, oder versuchen es zu tun, das Bewußtsein von den Gefahren, denen zu begegnen, von den Anstrengungen, die zu machen, von den Anstalten, die zu treffen sind. Denn wäre der Krieg ein Verbrechen und gäbe es demgemäß einen dieses Verbrechens Schuldigen, nun, so ist es klar, daß dieser wie jeder andere Übeltäter früher oder später der Polizei in die Hände fallen oder sich der gebühren- den Strafe allein durch die Flucht und das Versteck entziehen und in der einen oder anderen Art die Ge- meinschaft der anständigen Leute von seiner Gegen- wart befreien müßte. Ebenso ist es klar, daß, gäbe es Völker mit „unsittlichen Zielen", die sich gegen Völker mit „sittlichen Zielen" erhöben, es nicht notwendig 242 wäre, sich darüber allzuviel Gedanken und Besorgnisse zu machen. „Die Pforten der Hölle werden nicht trium- phieren ..." Deshalb muß jeder gute Staatsbürger sich mit aller Kraft den Schnüfflern nach geschichtlichen Verantwortlichkeiten und den Sittenrichtern der Politik entgegenstemmen, als den unbewußten Verrätern an dem Volk, dem sie angehören. Allein, Leuten dieses Schlages gegenüber empfinde ich gewöhnlich etwas mehr und anderes als das einfache Gefühl von Mißbilligung, Mißtrauen und Vorsicht, das man gegen jemanden empfindet, der einen Irrtum hegt und die Gefahr bietet, daß er ihn in die Herzen anderer säe. Ich werde vielmehr von einem Gefühl des Wider- willens und Absehens ergriffen, wie einer Person gegen- über, die mit einer ekelhaften Krankheit behaftet ist. Denn in der Mehrzahl der Fälle (die Naiven aus- genommen, die auch hier nicht fehlen) sind jene Ver- antwortlichkeitsjäger nichts weiter als solche, die die Verantwortlichkeit fliehen, jene so überaus sittlichen Politiker nichts als Leute, die vor der aufrechten Moral ihr Ohr verschließen. Die ersten ersparen es sich, über der Ermittlung einer eingebildeten Verantwortlichkeit die eigene, persönliche zu suchen, die der Redliche vor jeder andern sucht; so umnebeln sie sich selbst und andere. Wenn sie zum Beispiel die Kategorien des Straf- rechtes auf die hohenzoUerische Majestät anwenden, so schütteln sie die Verpflichtung ab, Urteil und Strafe auf sich selbst anzuwenden, sie, die seit Jahren gegen die Heeresauslagen Widerspruch erhoben, gegen sie ge- stimmt und dazu beigetragen haben, ihr Vaterland zu entwaffnen. Jene Sittenrichter aber befreien sich, indem sie die heilige Sittlichkeit auf die politische Geschichte der Staaten in den verschiedenen Weltteilen anwenden, i6« 243 damit von der lästigen Sorge, alle jene kleinen Pflichten gegen die Wahrheit, das eigene Vaterland, den eigenen Beruf und das eigene Handwerk zu erfüllen, die die einzigen wirklich vorhan den enPflichtenausmachen, als die einzigen, die auf wirklichen, nicht eingebildeten Grundlagen ruhen. Höre und lese ich das von prahle- rischen Gebärden begleitete Geschwätz dieser Verant- wortlichkeitsjäger und politischen Sittenrichter, so fühle ich, wie sich die Vorschriften der Anstandslehre in mir lockern; ich raune mir dann die Worte zu, die der heilige Franz von Assisi dem Bruder Leo riet, dem Teufel ins Gesicht zu schleudern, der ihm als Ver- sucher unter der Gestalt der Gekreuzigten zu erscheinen pflegte: „Öffne den Mund usw.", und ich wiederhole die Verse unseres Carducci: „O Idealismus der Mensch- heit, versinke ..." (Carducci sagt, wohin, und weist jenen Leuten den ihnen gebührenden Platz an.) GESCHICHTLICHKEIT UND BEHAR- RUNGSVERMÖGEN DER FREIMAURER- IDEOLOGIE (Politica, Juni igi8). — Sagt man, wie auch ich es des öftern getan habe, die demokratische, intellektualistische Freimaurerideologie sei etwas Über- wundenes, ein Stück achtzehnten Jahrhunderts, so soll damit nicht gesagt werden, daß sie nicht in allen Zeiten, mithin auch den unsrigen, vorkomme. In welchem Sinne ist es dann zu verstehen, daß sie einer bestimmten Zeit angehöre.? In dem, daß sie sich in dieser mit besondern tatsächlichen Bedürfnissen und mit Handlungen, die auf deren Erfüllung gerichtet waren, verbunden hat, und daß sie gleichsam das Stichwort für jene Bedürf- nisse gewesen ist; darum war sie damals etwas ernst zu Nehmendes, das heißt, sie bezeichnete etwas Ernsthaftes, «44 später jedoch nicht mehr, weil sie nichts mehr besagte, leere Hülse geworden war. Es sind bekannte Dinge, daß Freiheit, Brüderlichkeit, Humanität und ähnliches im achtzehnten Jahrhundert geschichtlich und werk- tätig als Befreiung aus den Fesseln der Adels- und Kirchengewalt und als Aufruf an das gebildete Bürger- tum ganz Europas zur Mitarbeit an diesen Zielen aus- gelegt worden ist; kein fruchtloser Aufruf, wie sowohl die sogenannte Reformperiode, als die der französi- schen Revolution bezeugen, mit der Ausbreitung und den Gegenwirkungen, die sie in allen Ländern erfahren hat. Das verhinderte aber freilich nicht, daß diese Ideo- logie selbst damals, sofern sie sich als Theorie und Wissen- schaft gebärdete, in Zweifel gezogen und von kritischen und tiefen Geistern des Truges beschuldigt wurde. Ich will hier keine Namen nennen, um diese Randbemer- kungen nicht in Darlegungen elementarer Geschichts- kenntnisse zu verwandeln. Außerhalb dieses geschichtlichen Amtes, dem sie damals diente und in dem sie ihre Helden und ihre Blutzeugen aufweist — Ehre euch, ihr großen neapoli- tanischen Republikaner und „Freimaurer", die ihr auf den bourbonischen Blutgerüsten des Jahres 1799 euer Leben aushauchtet und das neue Italien schüfet! — ist die demokratisch - freimauerische Ideologie eine Geistesform, die sich immerwährend erneut; weil sie mit der Anfangsform des Nachdenkens über soziale Dinge zusammenfällt, mit deren abstrakter Betrach- tung, mit der zunächst gezogenen abstrakten Folge- rung über die Art, wie jene zu lenken und zu voll- kommener Ordnung zu erheben seien. Sobald man einmal das stumpfe Sichgehenlassen und die Ergebung in den wie ein unausweichliches Geschick hingenom- 245 menen Weltlauf überwunden hat und versucht, ihn zu verstehen, zu beurteilen und ihm Richtung zu geben, erscheinen Welt und Gesellschaft wie ein Inbe- griff der Unregelmäßigkeit und des Widerspruchs, her- vorgebracht und aufrechterhalten durch die Schlech- tigkeit einzelner und die Blindheit aller übrigen, ver- besserungsfähig dadurch, daß man den Betrogenen einfach die Augen öffnet, ihnen das Richtige weist, die Übelgesinnten und am Gewinn Beteiligten, die der Verwirklichung des Guten Widerstrebenden beseitigt oder zur Ohnmacht verurteilt. Es ist das die Jugendzeit des Aufrührerwesens, des Republikanertums, des Hu- manitarismus, des Krieges gegen den Krieg, des Fanatis- mus für die Entdeckungen der Naturwissenschaften und für die Macht der Vernunft des freien Denkens, der Auf klärung oder Erleuchtung. Es erscheint dann aber- witzig und verabscheuenswert, daß die Menschen ein- ander zerfleischen, während sie in heiligem, geruhigem Frieden leben und einander brüderlich beistehen könn- ten; daß die Gesellschaften von erblichen Fürsten regiert werden und in Klassen, aufgebaut sind, gebildet und geschieden durch Reichtum, Überlieferungen, Sitten und ähnliche Zufälle; daß so viele Menschen sich in die Kirchen drängen, vor alten Götzen beugen und Formeln, die sie nicht verstehen oder nicht ver- stehen können, herableiern — und so weiter, denn das Verzeichnis all dieser jugendlichen Kritiken gegen das Bestehende ist überaus weitläufig und ebenso lang als das der an sie geknüpften Träume, die sich bis zur Abschaffung der Gefängnisse und Zuchthäuser und zur Erlösung der törichten Jungfrauen versteigen. Jeder- mann durchmißt diese Staffel leichtwiegender Kritik und noch leichtwiegenderer Träume, und muß es tun, denn 246 es ist ein Gesetz des menschlichen Geistes, dafB man einen Irrtum nur dadurch überwinden kann, daß man ihn an sich erfährt, erlebt und wenigstens als vorläufige Annahme sich zu eigen macht. Alle beschreiten sie, allein die Ernsthaften, Verständigen, Gewissenhaften, die auf Selbstkritik Bedachten bleiben nicht auf ihr stehen, und gelangen ein wenig früher oder später auf die neue Stufe der Reife, auf der man weder in stump- fer Ergebung in den Weltlauf noch in abstrakter Em- pörung und Widerspruchslust mehr verharrt, sondern zum Verständnis des Weltlaufs in seinem lebendigen Gefüge, zu der harmonisierenden Auslegung einer an- scheinenden Unregelmäßigkeit fortschreitet, und in diesem Ausgleich die Einreihung des eigenen indi- viduellen Handelns in Mitarbeit, Zurechtweisung und Umänderung findet, die die organische Entwicklung unterstützt, nicht aber sie zu vernichten sucht, indem sie an ihre Stelle einen fein ausgeklügelten Mechanis- mus setzt. Andere aber (und es ist die Mehrzahl) kommen aus allzugeringer Kraft des Geistes, aus ungenügender Bil- dung, endlich dadurch, daß sie von andern Geschäften besonderer Art abgezogen werden und in ihnen auf- gehen — es sind das verschiedene Ursachen, die sich im Grunde immer auf eine und dieselbe zurückführen lassen — über diese Anfangsstufe nicht hinaus und voll- führen nicht den Übergang zur Selbstkritik und zu tieferem Verständnis. Diese sind die Vertreter der ! demokratisch-freimauerischen Ideologie, der wir allent- \ halben begegnen, handelnd aus eigenem Trieb, viel- leicht nicht einmal dem Freimaurertum zugehörig, ja selbst Katholiken. Es sind mithin keine unwissenden oder naiven Menschen, sondern solche von mittel- 247 mäßiger Bildung, noch nicht wissenschaftlich durch- gebildet «nd behutsam : Volksschullehrer, Diplomierte technischer Schulen, gelernte Apotheker, desgleichen auch Fachleute aller Art, wenn auch in ihrer Weise hervorragend, Ärzte, Rechtsanwälte, Ingenieure, Offi- ziere, die wohl ihr Sonderfach von Grund auf kennen, aber ihr Menschentum, das philosophische und ge- schichtliche Bewußtsein nicht genügend entwickelt und nach dieser Seite hin sich an den beim ersten An- lauf errungenen Ergebnissen, den ersten, notwendiger- weise abstrakten und vereinfachenden Kenntnissen haben genügen lassen; verfügten alle diese nicht über die demokratisch-freimaurerische Ideologie, so hätten sie in ihrem Gehirn nichts und aber nichts, um über die menschlichen Dinge zu urteilen und sich irgendwie in ihnen zurechtzufinden — und niemand vermag im Nichts zu leben. Allein die Mittelmäßigkeit der Bil- dung ist in diesem Falle eine Bedingung, der man nicht entgeht : et la garde qui veille aux barriires du Louvre rCen d/fend pas les roh! Selbst wenn Könige sich entschließen, aus jener großartigen, heroischen Unwissenheit herauszugehen, die bei vielen von ihnen, bei den größten, von einer tiefen triebmäßigen Weisheit des Regierens und Be- fehlens begleitet wird, selbst sie treten dann auf die intellektualistische oder demokratisch-freimaurerische Stufe hinüber, und werden dann, ist diese einmal erreicht, auf ihr festgehalten, da sie diese, ihrer Stel- lung wegen, die dergleichen nicht erlaubt, durch Nach- denken und die tägliche wissenschaftliche Zucht nicht zu überwinden vermögen. Daher die Erfahrung, daß gebildete Herrscher mit der Demokratie liebäugeln, 248 wenn nicht anders, so mit Worten und in abstrakten Ideen : Sie sind Rationalisten, Materialisten, Positivisten, Anhänger der Naturwissenschaften, Reformer usw., und — sieht man von ihrem -geheiligten Charakter ab — ihre Art aufzufassen und zu denken, enthüllt sich als ein wenig über oder unter jener der früher beschriebenen Menschengruppe stehend — ich denke an die Könige des achtzehnten Jahrhunderts und beschränke mich darauf, zu erinnern, daß der Größte unter ihnen, der Sohn des ungeschlachten und unwissenden Friedrich Wilhelm, der große Friedrich, sobald er sich Bildung und eine Ideologie zu eigen gemacht hatte, der voll- endetste Typus des aufgeklärten Schriftstellers wurde, in der Theorie Machiavelli bekämpfte, und in der Lite- ratur die mittelalterliche Epik wie Goethes neue Dich- tung mißachtete, im praktischen Leben aber nichts- destoweniger fortfuhr als König zu empfinden und zu handeln. „Ce sont-lä jeux de prince^'- — sagte die Fabel Florians von ihm: — „0;z respecte un moultn, on vole une province"-. Nun bedenke man, welche tiefe und schwerwiegende Gründe also dafür sprechen, daß man sich der Frei- maurerei und der von ihr ausgehenden Werbearbeit entgegenstellt. Diese Einrichtung ist an sich, in ihrem lehrhaften Inhalt, nichts weniger als originell; im ersten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts entstanden, konnte sie damals nichts anderes tun als die Zeit- philosophie annehmen und verbreiten; noch we- niger vermag sie heute auf einen selbständigen Inhalt Anspruch zu machen, jetzt, wo sie alten Plunder, abgedroschene und seichte Formeln auskramt. Original ist sie indessen darin, daß sie, statt die unreifen Gemüter zur Reife und die mittelmäßige Bildung auf eine höhere 249 Stufe zu bringen, es als ihr Ziel ansieht, die Mittelmäßigen in ihrer Mittelmäßigkeit und die abstrakten Geister in ihrer Abgezogenheit zu bestärken. Darum strömen der Freimaurerei mit Vorliebe jene Menschenklassen zu, die ich früher als zur abstrakten politischen Ideo- logie angelegt bezeichnet habe ; und da die Juden, durch den jahrhundertlangen Druck, der auf ihnen lastete, durch die Befreiung, die ihnen die französische Revo- lution brachte, auch durch ihren angeborenen Messias- glauben, meist Intellektualisten sind und des geschicht- lichen Sinnes entbehren, so wimmelt die Freimaurerei von Juden. (Nebenbei bemerkt, fällt es mir gar nicht ein, das törichte Gev^erbe des Judenfeindes zu betreiben, obvvrohl ich das tatsächliche Bestehen einer „Juden- frage" zugebe; ich meine jedoch, daß diese Frage vor allem die Juden selbst angeht, die danach zu trachten haben, deren Lösung zu finden, indem sie sich auf die gleiche Stufe mit der höchsten Kultur und den höch- sten Gedanken, die von der klassisch-christlichen Ge- sittung erreicht v^urde, zu stellen suchen müssen, gerade so w^ie sie, die antihistorisch Gesinnten, sie, die Jahr- hunderte außerhalb unserer Geschichte gelebt haben, geschichtlichen Sinn erwerben müssen.) Mit anderen Worten, das Freimaurerwesen ist ein Mittel der Ver- teidigung, Festigung, Ausbreitung für jene untergeord- nete Sinnesart, die ich vorhin gekennzeichnet habe; und als solches ist dieser angebliche Feind der Dunkel- männerei der schlimmste aller Dunkelmänner. Freilich sagte mir ein werter, der Freimaurerei ergebener Freund, als er eines Tages diese meine durch- aus nicht verblüffenden, aber trotzdem wissenschaft- lich begründeten Darlegungen hörte, und fühlte, daß er sich ihrer zwingenden Kraft beugen müßte, ich irrte ZSO mich, wenn ich glaubte, die Freimaurerei verschließe sich hartnäckig gegen jeden Wahrheitsbeweis, der ihre alten Gedankengänge umgestaltete; sie, die den Fort- schritt der Vernunft bejahe, könne sich vielmehr sehr wohl umformen und die festen sittlichen, geschicht- lichen, politischen, philosophischen Begriffe sich zu eigen machen, in der Art wie sie die Kritik festgelegt habe, namentlich wenn Männer, die dächten wie ich, sich entschlössen, dem Freimaurertum beizutreten. Ich erwiderte meinem arglosen Freimaurerfreunde (viel- leicht gerade deshalb Freimaurer, weil so arglos), daß dieser sein Traum nur ein Gegenstück zu dem schiene, den einst Antonio Labriola verspottete : der Papst, ent- sprechend aufgeklärt, könnte sich wohl eines schönen Tages entschließen, das Haupt der Freidenker- Vereini- gung zu werden. Würde der Papst aber zu einer sol- chen Vollendung gelangen, so müßte er innerlich, in diesem Augenblick selbst, seine Auflösung als Papst empfinden; und würde die Freimaurerei über das Bil- dungsmaß der Völksschule hinaus gedeihen und die Frucht vom Baume der Erkenntnis des Guten und Bösen brechen, so müßte sie sich ebenfalls, als Frei- maurerei, auflösen, denn was bliebe ihr weiter in der Welt zu tun übrig, wenn sie nicht darauf sehen müßte, jenes Bildungsmaß zu verteidigen, und zu ver- suchen, alle auf dieses herabzuziehen, die merken las- sen, daß sie sich darüber erheben wollen.? NATIONALE VERBESSERUNGSPLÄNE. GEGEN DIE SOGENANNTEN ALLGEMEI- NEN REFORMEN (Juli 1918). - Es ist zurück- haltend, wenn ich bekenne, nur geringes Vertrauen in die Pläne zu setzen, die die „allgemeine Reform" einer 251 Gesellschaft oder eines Volkes herbeiführen sollen — um mich gleich mit einem Beispiel verständlich zu machen, von der Art der Reforme intellectuelle et morale de la France^ die Renan nach dem Kriege 1 870—71 ver- öffentlichte: ich verhalte mich nicht allein vollstän- dig ungläubig gegen sie, sondern ich halte sie auch für schädlich. Ihre Hohlheit wird dadurch bev^iesen, daß ein Volk, ließe es sich jenen abstrakten Neuerern gemäß ummodeln, nichts Lebendiges, sondern nur mehr gehalt- loser Stoff w^äre ; der Schaden, den sie mit sich bringt, liegt darin, daß sie die Geister in Abstraktionen und leere Träume verlockt und derart die Faulheit großzieht, die eben nichts anderes erstrebt als das Nichts- tun. Eine gute Regel w^ill, daß man ein Volk für das nimmt, w^as es ist, als etwas Wirkliches und als solches auch Vernünftiges, als ein Lebewesen, das sein eigenes Gesetz und Gleichmaß hat; demnach wende man seinen Geist nicht auf eine phantastische „allgemeine Reform", die mit einem Schlag weiß Gott welchen Zustand von Glückseligkeit und Größe herbeiführen soll, sondern auf die mannigfachen besondern „Reformen", als welche letzten Endes die einzelnen Lebensäußerungen sind, wie sie jedes Einzelwesen betätigen muß, und die alle zu- sammen ein Volk „reformieren", das heißt bewirken, daß es handelt und im Handeln sich entwickelt. Sollten in Italien allgemeine Reformpläne, mit Anteil und Bei- fall aufgenommen und zum Gegenstand erbaulicher Erörterungen gemacht, auftauchen, Anweisungen zur nationalen Rettung, Panoramen einer neuen glück- lichen Gesellschaft mit neuen vernunftgemäßen Ein- richtungen, so wäre das ein Anzeichen dafür, daß man bei der Maul macherei, bei der ungeordneten und zersplitterten Lebensführung verharren will, ohne 252 sich zu einem gesammelten und vertieften Leben zu entschließen. POLITIK UND DENKEN IN ITALIEN. - Nehmen wir demnach Italien nicht als etwas, das zu schaffen ist, sondern als etwas, das da ist und selbst schafft; und beginnen wir mit der Erinnerung an einen alten, fast veralteten Grundsatz : daß Denken die Welt regiere. Wir erwähnen ihn, um ihn in Schutz zu neh- men, nicht sowohl gegen die sichern Männer und die Bank der Spötter, sondern gegen jene Neunmalklugen, die da behaupten, die Welt werde nicht von den Weisen, den Denkern regiert, sondern von den Tatmenschen, den Politikern, den Leidenschafts- und Willensmen- schen. Sie hätten sicherlich durchaus recht, gelänge es ihnen nur zu beweisen, woher die Tat- und Willens- menschen, wie die Politiker die Kenntnisse, die Unter- scheidungsmerkmale, die Begriffe nehmen, die die Vor- aussetzung ihrer Regierungshandlungen bilden ; woher anders denn aus der Wissenschaft, der Weisheit, der Einsicht, die in der Gesellschaft ihrer Zeit liegt, ver- erbt durch Überlieferung, bewahrt und vermehrt durch tägliche Geistesarbeit? Gewiß, die Männer des Geistes, die Forscher, Beschauer, die Gelehrten und Literaten sind schlechte Staatslenker; allein gerade deshalb, weil sie ihre Gedanken wegen der Besonderung ihres Ver- haltens und Berufes nicht in der besondern Form, die dem Tatmenschen eigen ist, besitzen; und dies bestätigt gerade, anstatt sie zu verneinen, die Notwendigkeit des Gedankens für das Handeln. Jegliche Regierung hat sich noch auf die Kultur bald dieser, bald jener ihrer Gesellschaftsklassen gestützt: ihrer Priester, ihrer Patri- zier, ihrer Bürger, ihrer Bureaukratie. 25.3 Und da Italien, insofern es da ist, sich nicht diesem allgemeinen Gesetz entziehen kann, so gewinnt auch in ihm die herrschende Klasse Nahrung und Kraft aus der Einsicht und Bildung des Landes. Und obwohl man von unsern politischen Vertretern reichlich viel Schlech- tes zu sagen pflegt, die Unwissenheit, die sie an den Tag legen, beklagt, die Oberflächlichkeit ihrer BegriflFe, die Lücken ihrer Allgemeinbildung, die Übereilung in ihren Urteilen, so müßte man sich doch gerechterweise fragen, ob man, wollte man die Gelehrten und Studienbeflissenen • Italiens in eine Tagung versammeln, nicht Anlaß zur gleichen Klage hätte. Würde man einwenden, daß unter diesen letzteren sich sehr viele in ihrem Sonderfach aus- gezeichnete Leute befänden, so wäre zu entgegnen, daß auch unter den Mitgliedern des Parlaments und der Regierung sich viele in besondern Zweigen ausgezeich- nete Männer finden, und was im allgemeinen bei ihnen zu wünschen übrig läßt, die Festigkeit und Gediegen- heit der Anschauungen ist, die Gesamtheit und das Gleichmaß der Bildung, das nachdenkliche und kritische Verhalten, die Gewissenhaftigkeit in Behauptungen und Feststellungen, die Verachtung von Wortschwall und leeren Formeln; diese Mängel finden sich bei den Parla- mentariern und Regierenden, wie sie sich, vielmehr weil sie sich ganz ebenso bei den Gelehrten und For- schern unseres Landes finden; die besten unter ihnen sind enge Fachleute, nicht hinreichend Menschen, Ge- lehrte, nicht wahrhaft Gebildete, mit geklärten An- schauungen über eine Beugungsform oder über die Phy- siologie des Herzens und der Nieren, aber mit unklaren, platten und erborgten Ideen von den Pflichten des Bür- gers, von Staat, Vaterland, Religion, Wahrheit; es ist das ein Mangel, nicht etwa vollständiges Fehlen, weil ÄS4 ja Italien sich trotzdem regiert und entwickelt, was be- weist, daß seine Kultur, mag sie auch unvollkommen sein, dennoch eine ist, und die Wirksamkeit, die sie auf das vaterländische Leben ausübt, wenn auch un- vollkommen, trotz alledem eine Wirksamkeit ist; von dieser Kultur, von dieser Wirksamkeit aus heißt es den Ausgang nehmen, um die erste zu heben und gleich- zeitig damit die zweite zu vertiefen. REFORMEN DES DENKENS UND DER KULTUR. — Im Grunde ist auch dies nicht etwas, womit jetzt begonnen werden kann, denn es geschah und geschieht täglich, wie es eben geht, und durch jeden, so gut er es vermag: der Ruf nach der Reform, der in gewissen feierlichen Augenblicken stärker ertönt, kann in Wirklichkeit nur eine Ermahnung, ein Antrieb sein, das Ziel fester ins Auge zu fassen, den natürlichen Anlagen und der erworbenen Fähigkeit eines jeden ge- mäß, ohne daß man damit verlangen will, der Gelehrte solle sich über Nacht zum Politiker wandeln; wohl aber ist die Forderung aufzustellen, er solle an sich arbeiten, um in politischer (das heißt nutzenbringender, staatsbürgerlicher) Hinsicht immer mehr Gelehrter zu werden. Es ist allbekannt, daß jenes Studiengebiet, das den politischen Dingen zunächst steht, das der geschicht- lichen Forschung ist, verstanden in ihrem weitesten und wahren Sinn, das heißt als Inbegriff der sogenannten moralischen oder philosophischen Fächer, die Kenntnis von Vergangenheit und Gegenwart der menschlichen Gesellschaft umfassend. Mathematik und Naturwissen- schaften bleiben, der humanistischen Bildung gegen- über, stets einfache Mittel oder Werkzeuge, die an sich nicht hinreichen, jene Überzeugungen zu entwickeln, 255 die dem werktätigen, politischen und sittlichen Handeln als unmittelbare Voraussetzung dienen. Blicken wir auf die Bedingungen der geschichtlichen Kultur Italiens, so müssen wir trotz der Verbesserungen, die in den letzten zwanzig Jahren eingesetzt haben oder sich lang- sam und vorsichtig vorbereiteten, einräumen, daß die mit historischem Sinn Begabten in Italien noch äußerst selten sind, und ebenso selten die Bücher, die als ge- eignet angeführt werden können, um der Zeit an- gemessene geschichtliche Kenntnisse zu verbreiten; es mangelt sogar an einer Geschichte Italiens, die mehr wäre als eine Wiederholung veralteter Gedanken oder eine ideenlose Klitterung. Hier liegt mithin ein genau umschriebenes Feld, dem man sich zuwenden müßte, um jener oben angeführten Ermahnung Folge zu leisten. Wir alle, seien wir nun viele oder wenige, die wir im- stande sind, geschichtlichen Sinn und geschichtliche Bildung in Italien zu vermehren, müssen diese unsere Aufgabe als eine hohe Pflicht und eine schwere Ver- antwortlichkeit betrachten; wir müssen dazu beitragen, Italien ein geschichtliches Schrifttum zu geben, indem wir unser Denken immer mehr verfeinern und die Stoffe, bei denen Klärung am meisten not tut, mit ihm durchdringen, ferner, was noch mehr bedeutet, die Art und Weise, wie die Dinge in geschichtlicher, das heißt sachlicher und wesenhafter Form zu betrachten sind, kräftigen und ausdehnen. Zu diesem Zweck wäre die Mitarbeit, wenn nicht geradezu die Leitung von Seiten des Hochschulwesens sicher sehr förderlich; allein — da die Universitätslehrer nun einmal sind wie sie sind und eine Reform der Stu- dienpläne und -Vorschriften ihre Geister und Gemüter nicht ändern würde, und eine gründlichere und ernst- 256 haftere Reform nur späte Früchte zeitigen könnte, sich anderseits auch nur durch eine Bewegung aus dem Schöße der Universitätswelt selbst bewirken ließe, von der bis jetzt keine Spur zu sehen ist — es handelt sich, was unsern Teil betrifft, inzwischen viel weniger darum, in erster Linie und unmittelbar auf die Universitäten zu rechnen, als sich an die Jugend zu wenden, die sie be- sucht. Diese — wir reden von den Begabtesten und Willigsten, den edelsten Herzen — hängt bekanntlich nur zum Teil, zu einem kleinen, äußerlichen Teil, von ihren Lehrern ab und erschließt sich im übrigen willig den Strömungen des zeitgenössischen Lebens, empfindet sie überaus stark (denn in den Universitätsjahren liest man sehr viel), ist einer leidenschaftlichen Erörterung zugeneigt, leiht dem Leben der Gegenwart gespannte Aufmerksamkeit und späht in die Zukunft . . . Nun wohl: es tut. not, daß die Universitätsjugend, soweit es an uns liegt, im Lande jene Stimmung ernster und wirksamer Bildung, von der oben bezeichneten Art, vor- finde, die es ihr ermöglicht, ihren Geist in organischer Weise zu bilden und sich zur künftigen führenden Klasse unseres Volkes auszubilden, sogar als künftige Neugestalterin unserer Universitäten, zu deren Schülern sie jetzt gehört. Man wird dies freilich nicht erreichen, wenn man darin fortfährt, ihr futuristischen Über- schwang, glänzende Verkehrtheiten, tägliche Über- raschungen abgebrauchter Paradoxe, tägliche Ver- sprechungen von Wundern vorzusetzen, wie dies leider noch manche zu tun pflegen, vielleicht dessen nicht bewußt, daß sie damit einen Verrat am Vaterlande be- gehen, indem sie, zum Vorteil eigener Bestrebungen und der eigenen Eitelkeit, den jugendlichen Trieb zum Neuen und die Unerfahrenheit der Jugend ausnützen. 17 Croce, Randbemerkungen eines Philosophen 2 C7 Immerhin ist es notwendig, das Schicksal, wenn auch nicht gerade der akademischen Einrichtungen, auf welche die Außenstehenden nur in geringem Maße ein- zuwirken vermögen, so doch einer andern Gattung der Schule sicherzustellen, derjenigen, die die Vorbereitung zur Universität bildet, des klassischen Gymnasiums, der einzigen wirklich humanistischen und bildenden Schule, die die heutige Gesittung besitzt, und die in Italien durch eine Reihe von Ursachen, die bereits von anderer Seite— am besten durch Gentile — auf das klarste beleuchtet worden sind, so schwer erschüttert worden ist, daß sie Gefahr läuft, sich aufzulösen, falls man nicht recht- zeitig zu Mitteln greift, die ebenfalls schon von zu- ständiger Seite (und auch hier wieder am klarsten und eindruckvollsten durch Gentile) in zuverlässigster Weise angegeben worden sind, von denen jedoch die politischen Kannegießer der Demokratie nichts hören wollen. Für diese handelt es sich in der Tat nicht um die Schule, sondern um ihren Schein ; nicht um die tiefgehende Er- ziehung des Geistes, sondern um einen oberflächlichen, verstandesmäßigen und antiklerikalen Rahmen; nicht um die Qualität, die starke Quantität erzeugt, sondern die tote Quantität, die nichts hervorbringt als Lärm und Unordnung. Der Keim der echten klassischen Schule ist bei uns unterdrückt, aber nicht erstickt worden, es ist not, ihn von dem Gewicht, das auf ihm lastet und seine wohltätige Auswirkung hindert, zu befreien. DIE REFORM DES DENKENS ALS DIE WAHRE „ALLGEMEINE" REFORM. - Es sind das nur einige wenige Beispiele von „Reformen", wie sie gerade leicht erreichbar zur Hand liegen, und die darum sehr viel mehr als die großartigen „allgemeinen 258 Reformen" taugen, die außerhalb des Bereiches unserer Hände wie der aller andern liegen. Wenn man genau zusieht, sind diese Einzelreformen, wie die sonstigen ebenso beschaffenen, die man von Fall zu Fall aut- stellen könnte, letzten Endes die wahre „allgemeine Reform" in ihrer qualitativen Bedeutung, insofern sie sich nämlich auf ihre wesentliche und Grundbedeutung beziehen. Denn welcher Art auch die praktischen Entschlüsse sein mögen, die in diesem oder jenem Umkreis des gesellschaftlichen Lebens, in diesem oder jenem Augenblick gefaßt werden, welches die poli- tischen Formen, die die Gesellschaften annehmen werden, das eine kann man für sicher halten, daß jene Formen die besten und geeignetsten sein werden, die von dem höchsten Wissen und Gewissen gezeugt und getragen sind. Der Glaube an Monarchie oder Repu- blik, an freien Wettbewerb oder an den Sozialismus, den Staats- oder den Gewerkschaftssozialismus und so weiter, sie sind sämtlich — was auch die Theologen und Priester der verschiedenen politischen Parteien sagen mögen — bedingte und zufällige Glaubensbekennt- nisse; der Glaube an die Kraft der Vernunft ist allein unbedingt und selbstverständlich. Ich sagte „Vernunft", und meine Leser wissen, welcher „Vernunft" ich da- mit meine Ehrfurcht bezeugen will; nicht der dürren „Vernunft" , deren sich die Freidenker in gewissen Logen, den heutigen Zufluchtswinkeln der Unwissenheit, rühmen, sondern der dialektischen, tätigen Vernunft; nicht — ich bedaure, wenn ich das Mißfallen vieler er- wecken muß, wenn ich den negativen Ausdruck der französischen, den positiven der deutschen Sprache entlehne — nicht der Raison^ sondern eben — der „Ver- nunft^\ GEDANKEN ÜBER DIE KUNST DER ZUKUNFT. ERWARTUNG SCHLIMMERER ZEITEN FÜR D!IE KUNST {Critica XFI, Juni igi8). — Männiglich fühlt und sagt, daß wir harten Zeiten entgegengehen, die uns die verschiedenartigsten, schwersten Proben auferlegen werden. Was ist zu tun? Wollen wir uns unterfangen, den Riesen, der sich vor- . wärtsbewegt, und die Welt heißt, an den Beinen zu- rückzuhalten? Das wäre ein kindisches Beginnen. Oder wollen wir darüber jammern und es verwünschen, daß er sich bewegt, und uns damit Unbequemlichkeit, ja Schlimmeres schafft? Das wäre Feigheit. Die einzige Wirkung, auf die diese Voraussicht zielt, die Mahnung, die sich in ihr ausdrückt, kann nur die sein, daß, wer es vermag, von nun an seine geistigen und sittlichen Kräfte stähle, und sich vorbereite, den langen, gefahr- vollen Weg einzuschlagen, in allem auf sich selbst ver- trauend, auf den Vorrat, den er mit sich führt und den festen Stab, den er sich zu schneiden gewußt hat. Wir wünschen, daß viele dieser Pflicht zur Sammlung ge- horchen werden; zur religiösen Sammlung, denn (geht auch in ruhigen und gewöhnlichen Zeiten das Bewußtsein davon verloren) religiös ist der Werdegang der Welt und er muß mit Religion aufgenommen und verfolgt werden, so wie der Beitrag des eigenen Tuns dazu mit religiösem Sinne geleistet werden muß. Allein ich wollte einmal über Literatur sprechen, und ich wurde nur durch eine allgemeinere und gewich- tigere Erwägung abgelenkt, aus einem Gleichfall her- aus, der sich mir von selbst darbot, daß wir nämlich auch in der Literatur schwereren Zeiten entgegenzu- gehen glauben. Nicht sowohl durch die Wirkung des Krieges — denn ist es wirklich der Krieg gewesen, der 260 auch auf politischem und sozialem Gebiet die zu beob- achtenden Übel und Schwächen hervorgebracht hat, oder haben diese nicht vielmehr schon früher bestanden, und hat sie der Krieg nicht aufgedeckt und ihre Offen- barung beschleunigt? — Nicht also durch die Wirkung des Krieges, denn das Ziel, auf das Literatur und Künste in Italien wie in Europa überhaupt (und in den deut- schen Ländern ebensogut und vielleicht mehr denn anderwärts) lossteuerten, war lange vor dem Krieg deutlich gekennzeichnet. Man könnte sich höchstens darüber wundern, daß der Krieg hier keine Änderung herbeigeführt hat; aber in der Tat bleiben äußerliche Tatsachen — das heißt Tatsachen, falls sie äußerlich aufgefaßt werden — wie der Krieg, unwirksam, weil sie in dieser ihrer Äußerlichkeit etwas Abstraktes haben und ihre Verinnerlichung und ihr konkretes Wirken schließlich mit der Wirklichkeit der Gemüter, in denen sie sich auswirken, völlig eins werden: ein dekadenter Schriftsteller (Nachahmer D'Annunzios, Pascolis, Clau- dels, ein Futurist) wird trotz allem immer in der Lite- ratur ein Dekadenter bleiben, denn Bombenwerfen, in Flugzeugen oder Unterseebooten fahren, sich auf den Feind stürzen, das sind alles Dinge, die an sich keineswegs in einem bestimmten und gewollten Sinne Stil, Gefühl und Einbildungskraft, allgemein gespro- chen, die Seele, verändern. So sehe ich, gewiß mit Mißvergnügen, aber auch ohne Verwunderung, daß die jungen Leute in den Schützengräben vor allem fu- turistisches und dekadentes Zeug lesen und daß sie von dort wohl ausgezeichnet um ihrer soldatischen Tüch- tigkeit willen, gutartig, ernsthaft und bescheiden zu- rückkehren, aber noch gänzlich in jener veralteten Literatur befangen, und daß sie nur in jenen Formen 261 zu sprechen und zu schreiben verstehen. Wenn der Krieg bei längerer Fortdauer der Phantasie auch eine andere Richtung geben wird, so ist es nichtsdesto- weniger ausgemacht, daß er sie für jetzt erhält, wie sie ist und sie hierin bestärken wird. DER FUTURISMUS EINE DER KUNST FREMDE SACHE. - Was pflegt man denn unter dem zusammenfassenden Worte „Futurismus" zu ver- stehen? Er ist nicht eine Form von Dichtung und Kunst, die erwogen werden könnte, die durch ihre Neuheit und Kühnheit schwierig für das Verständnis wäre oder eine Mischung von Schönem und Häf3- lichem darstellte, sondern schlecht und recht ein Ding, das weder Dichtung noch Kunst ist. Er wird so ge- nannt (sagte mein verewigter Freund Eduard Dalbono in seinem letzten Vortrag, da er* von der futuristischen Malerei sprach), er wird so genannt, einzig deshalb, weil ein anderes Wort fehlt, um ihn passend zu be- zeichnen : „das Wörterbuch ist ein Ding der Vergangen- heit, passatistisch^"- . Seine Anhänger handeln häufig in gutem Glauben, denn sie verzeichnen ihre Emp- findungen, alles, was durch ihre Augen und die andern Sinne eingeht, und geben sie zuweilen mit vieler bild- hafter Genauigkeit wieder; in der Meinung, daß die Poesie in dieser Genauigkeit liege, vermeinen sie Poesie zu geben. Wenn aber einer von ihnen, beim Lesen wahrer Dichtung, sich von einem Schauer durchrieselt fühlen sollte, von jenem Schauer, der wahrhaft poetisch ist, dann mag es sich ereignen, daß er wie benommen erwachen und bestürzt ausrufen wird: — fürwahr, das was ich bisher getan und bewundert habe, war ja etwas ganz anderes! — Ebenso glauben manche, wenn sie 262 Theater und andere Orte der Art besuchen, reichUch gewitzt zu sein, die Frauen und die Liebe zu kennen; wenn es aber einem davon begegnen wird, daß er sich einmal wirklich verliebt und den Zauber der Weib- lichkeit wirklich kennen lernt, so wird er wohl einsehen, daß die Liebe ein anderes Ding ist, als er bis dahin ge- glaubt hätte. Darum gebe ich mir keine Mühe, die futuristischen Erzeugnisse, wie sie mir vor Augen kommen, zu kriti- sieren; mein Feld ist die Dichtung, und jenes ist „ein ander Ding", sogar ein höchst wichtiges, wenn auch recht unerfreuliches Zeugnis von der geistigen Be- schaffenheit unserer Zeit. Den jungen wackern Leuten aber, die mir diese ihre Erzeugnisse bringen, und mich trotz meines Widerwillens nötigen, davon Kenntnis zu nehmen, um ihnen mein Urteil zu sagen, pflege ich gewöhnlich mit Scherzen, Fabeln und Paradoxen als Gegengabe aufzuwarten. Erst vor kurzem brachte mir einer dieser jungen Leute einen seiner Versuche zum Lesen, durchaus zerrissen, verstiegen, ausgeklügelt und schwatzhaft, in dem er die Bewegung eines Fächers in den Händen einer Frau schildern wollte; ich be- gnügte mich, ihm ein Verslein vorzusagen, das vor Jahrzehnten einmal ein alter Herr auf den Fächer eines Fräuleins in Neapel geschrieben hatte. Dieser alte Herr hieß ebenfalls Dalbono, Cesare Dalbono: er war ein Schüler Puotis, und liebte wie dieser das Latein, Grie- chisch und Französisch, übersetzte in vollendeter Weise Plato und Montaigne; er wußte mithin, wo die Kunst zu finden sei. Auf den Fächer seiner jungen Freundin hatte er aber diese acht Zeilen gekritzelt: Bella Martüy desidero che i tuoi pensieri 263 Sie7io sempre volatilt Steno sempre leggieri. E se ti dan fasttdio e se ti dan tormento sofßali col ventaglioy che se li porti il vento! (Schönste Maria, ich wünsche dir Daß all deine Gedanken Leicht und beschwingt stets möchten sein Und stoßen nie an Schranken. Doch schaffen sie dir Not und Pein Und sind sie dir zur Plage So scheuch' sie mit dem Fächer fort, Daß sie der Wind enttrage!) Meine Herren Futuristen, nichts für ungut, aber hier lebt im Rhythmus die ganze vielgestaltige Be- wegung des Fächers, sein Heben und Senken, sein Spiel regelmäßiger Wellen in der Ruhe, und sein rasches nervöses Zittern in der Ungeduld; aber auch noch etv^as anderes. Es liegt das Lächeln, das Wohlw^ollen, die Galanterie eines Alten darin, der noch die Erziehung des achtzehnten Jahrhunderts hatte; ein Hauch des Le- bens, und darum ist dieses Fächersprüchlein eine kleine Dichtung, v^as die eure nicht ist, wieder groß noch klein. Daß sie das nicht ist, läßt sich auch noch aus anderen untrüglichen Anzeichen schließen: einmal daraus, daß die Futuristen eine kaum übersehbare Schule ohne Haupt bilden, eine Vielheit, eine Herde von Genies, die nichts anderes als eine Herde von Armen im Geiste sein kann, denn Genie ist das Gegenteil von Herde; ferner, daß unter den vielen tausenden von Seiten, die die Futuristen alljährlich beschmieren und die von ihren Bekennern überaus gelobt und in den Himmel 264 erhoben werden, auch nicht eine einzige ist, die sich durch eigene Kraft dem Strom, der sie rasch ver- schUngt, entwunden, sich der Phantasie, dem Gedächt- nis, dem Ohr der ÖffentUchkeit eingeprägt hätte. Das ist ein schHmmes Zeichen! Denn echte Dichtung ist etwas, das sich vor allem anderem am stärksten ver- breitet, feiner als alle Gase, und der ansteckendste aller Stoffe. Es genügte — man erinnert sich dessen noch wohl — als ein junger, bis dahin ganz unbekannter Mensch, den die Kritiker im allgemeinen sehr übel behandelten, der arme Gozzano, drei oder vier gelungene Gedichtchen verfaßt hatte, daß jene Verse von der „Großmutter Speranza", vom „gestrengen Oheim" und der „kleinen Graziella" auf aller Lippen waren. Mithin wäre der Futurismus in Italien eine Schule ohne Haupt und ohne Hauptwerke, etwas Widersinniges, das aber sehr gut bestätigt, daß er Schule für alles mög- liche (etwa Automobilismus und Flugwesen), nur nicht für die Kunst ist. NOTWENDIGES VERHALTEN IN KUNST- FEINDLICHEN ZEITEN. - Gibt es ein Heilmittel dagegen? Mitnichten! Man muß warten, daß das Übel vorübergehe: diese neue Seuche, von der Dich- tung und Kunst befallen worden ist. Die Geschichte weist uns Fälle ähnlicher Seuchen nach ; das klassische Beispiel darunter bleibt in dieser Hinsicht immer das Pretiösentum oder der Secentismus, der nach sechzig Fieberjahren endlich erlosch, während deren er immer heftigere Formen angenommen hatte. Allein das ist nicht das einzige Beispiel; ein anderes bietet dem, der sie in ihren Einzelheiten verfolgt, die Romantik, die auch in Italien zwischen 1830 und 1860 in Aberwitz 265 und Lächerlichkeit verfiel, besonders im Bühnenstück, aber auch in der Lyrik und der Prosa. Man denke daran, daß während der vierziger Jahre sich in Neapel ein gew^isser Antonio Valentini „holdem Wahnsinn" ergab, als Verfasser eines Versbüchleins: „Mea culpa und ander es'-'- (Brüssel 1840); die Seele eines Menschen schlug darin krampfhaft um sich, der gezv^ungen sein sollte, Priester zu werden und sich von der geliebten Frau zu trennen; handgreifliche, „futuristische" Bilder waren darin verkoppelt wie: „Mein Schicksal steht vor mir, einem alten Leutnant gleich: — Du wirst Priester oder ich durchschneide dir die Gurgel! . . . oder: „Tausend Würmer fressen im Gehirn wie in einem Käse ..." Dekadententum und Futurismus sind die letzte notwendige Folge einer langen Entwicklung und einer langvorbereiteten sittlichen und geistigen Auf- lösung; wie könnte man sie unterdrücken.? Man muß ihnen freien Lauf lassen, um sich während ihres Wütens zurückzuziehen, das meiner Ansicht nach, wie gesagt, im gegenwärtigen Fall noch durch ein gutes Stück Zeit hin anwachsen wird. Sich zurückziehen : das ist der Rat, den ich zu geben mir erlaube, nachdem ich ihn mir selbst gegeben und ausgeführt habe. Auch während der secentistischen und romantischen Krankheit gab es Menschen, die sich so verhielten. Weiters: in der selbstgeschaffenen Ein- samkeit die großen, die wahren Dichter, die Harmo- nischen, KlarheitschafFenden, auch im Schmerzvollen und Tragischen voll goldener Schönheit lächelnden Dichter lesen und abermals lesen! Wir werden viel- leicht wenige sein, ähnlich der Gesellschaft des Deca- merone, mitten in der Pest, die in Florenz und ganz Europa raste; aber an dies Leben mit sich selbst oder 266 in Gesellschaft weniger hat uns bereits der Krieg ge- zwungen und gewöhnt. Er hat uns aber auch noch Besseres gegeben, uns den Geschmack und die Freude daran gelehrt; so daß es uns vielleicht niemals mehr gelingen wird, das Gesellschaftsleben von einstens wiederaufzunehmen, weil es uns im Vergleich dazu leer und stumpf erscheinen wird. Derart werden wir uns als Einzelwesen in Sicherheit bringen, zugleich aber auch die Idee dessen, was Dichtung und Kunst immer gewesen sind und sein werden, für eine bessere Zukunft erhalten. DAS RUSSISCHE DENKEN IN SEINER BE- LEUCHTUNG DURCH ZWEI NEUE BÜCHER (Giornale d'Italia, 4. September ig 18). — Als ich in einer französischen Zeitung die Schilderung las, welche Span- nung sich der russischen Revolutionäre bei der Nachricht von der bevorstehenden Ankunft ihres großen Denkers; des „Philosophen" der Partei, Lenins, bemächtigte, sowie den festlichen hingebungsvollen Empfang, den die Schüler auf dem Bahnhof von Petersburg ihrem dem Zug entsteigenden Plato bereiteten, der lächelnd, von seinem Ruhme gesättigt erschien, da war ich be- schämt von meiner Unwissenheit über diesen zeit- genössischen europäischen Philosophen, diesen be- rühmten Berufsgenossen, und ich suchte mir, freilich vergeblich, ein von ihm in Zürich veröffentlichtes Buch zu verschaffen, das ich in einer schweizerischen Zeitschrift angezeigt gefunden hatte. Indessen fand ich dann in dem dickleibigen Werke von Masaryk über Rußland und Europa (von dem bereits zwei Bände im Gesamtumfang von etwa tausend Seiten er- schienen sind, gerade russisches Denken betreffend: 267 Zur russischen Geschichts- und 'Religionsphilosophie 1913) ein kostbares Bruchstück Leninscher Philosophie, et- was von der Klaue, daran man den Löwen erkennt: Nachricht von einer Abhandlung, in der Lenin den empirischen Kritizismus eines Avenarius und Mach bekämpft, wie er von einigen russischen Marxisten nach dem Beispiel der deutschen Sozialisten angenommen wurde, immer auf der Suche nach Philosophie, um den schon recht löcherigen Mantel des Marxismus zu flicken. Der scharfsinnige Lenin beurteilt den empirischen Kritizismus nicht allein als „eine verkappte Erneuerung des „Solipsismus" (!) von Berkeley (!!) und Fichte (!!!) sondern auch als etwas, das „dank dem Subjektivismus den Glauben des gemeinen Menschenverstandes an eine objektive, von Gesetzen gelenkte Welt zerstört und damit die Religion (!) fördert, das heißt eine der Stützen des Bürgertums (!) und ihrer Herrschaft; des- halb ist der empirische Kritizismus eine reaktionäre Philosophie (!!)" (II, 331)..— Aber das ist ja (dachte ich bei mir), außer einer Anhäufung von Ungereimtheiten, nichts anderes als Engels, allertrivialster Engels, noch trivialer gemacht durch die papageienmäßigen Wieder- holungen, die mechanische Anwendung, die man seit Jahrzehnten davon gemacht hat! Die Tageszeitungen brachten mir dann noch andere Offenbarungen des Leninschen Denkens, in denen ich niemals andere als die abgebrauchtesten Begriffe und Worte zu finden ver- mochte. Allein dies ist nicht ein besonderes Merkmal Lenins, sondern es kommt den sogenannten Denkern und Philo- sophen Rußlands ganz allgemein zu, wie ich schon von ungefähr wußte und durch das genannte Werk Masaryks 268 bestätigt fand. Obwohl nun dieses, gleich den andern mir bekannten Büchern des vielberufenen tschechischen Professors und Agitators (über den Marxismus^ ein zwei- tes über Logik) nur eine Klitterung ist, so ruht es doch auf ausgebreiteter Kenntnis der Originalwerke. Eine andere Bestätigung der gleichen Tatsache gewinnt man aus einem Buche Miljukows, das unlängst ins Franzö- sische übersetzt wurde (Le mouvement intellectuel russe, übersetzt von Bienstock, Paris, Bossard 191 8); Milju- kows, der ebenfalls zu den führenden Persönlichkeiten des gegenwärtigen geschichtlichen Zeitraums gehört hat, während der ersten Monate der russischen Revolution Minister des Äußern war, und sich nach den jetzt über- setzten Proben als einen recht geordneten und klaren Geist zeigt. Was ist oder war denn der Slawismus, das Slawophilen- tum, von dem so viel geredet wurde, als von einer Drohung der russischen Seele gegen die Europas, als von einer Ankündigung eines neuen Geschichtsabschnittes, in dem das heilige Rußland seine besondere Weltansicht, sein politisch -gesellschaftliches Ideal, die Theokratie, Autokratie, Verachtung materieller Wohlfahrt, Askese, Mystizismus aufstellen würde.? War das etwa eine selbständige russische Bewegung.? Nicht im min- desten ; vielmehr die Nachahmung oder wörtliche Über- setzung, die einige russische Literaten der deutschen Geschichtsphilosophie angedeihen ließen, indem sie dem russischen Volke das Führeramt der Zukunft oder nächster Zukunft anwiesen. Was bedeutete die damit ver- bundene Kampfstellung gegen Europäer- oder Abend- ländertum? Die natürliche Abneigung des russischen Geistes gegen die abendländische Gesittung.? Nichts weniger als das; vielmehr einen Widerhall der rück- 269 schrittlichen, restaurationsfreundHcheri , kathoHschen, romantischen Polemiken und Lehren in Frankreich und Deutschland, von Bonald, De Maistre, Haller, Görres, Baader, des Schelling der zweiten Periode, alles Schrift- steller, die in Rußland gelesen wurden. Auch die Revo- lutionäre, das heißt diejenigen, die von einer anderen Vorherrschaft Rußlands träumten, seiner Führung in der gesellschaftlichen Umwälzung, haben nicht die Probe auf eine größere Unabhängigkeit bestanden, da sie alle von Hegel, nach orthodoxer Art verstanden oder miß- verstanden, ausgingen, dann von der Hegeischen Rech- ten zur äußersten Linken, zu Feuerbach und dem dia- lektischen Materialismus abschwenkten, und von da noch weiter zum nackten, rohen Positivismus und Materialismus. Dieses Schema wiederholt sich fast bei allen von ihnen, schon von den ältesten wie Belenskij und Herzen an; der erste übertrug einfach auf den Zaren Nikolaus die Sendung, die Hegel dem König von Preußen zugewiesen hatte, und konstruierte ganz hegelisch die Schlacht von Borodin, während der zweite sich so tief in den deutschen Idealismus versenkte und sich so trefflich an ihm schulte, daß er damit endete, den Gedanken als eine „Funktion des Gehirns" zu be- trachten! Bakunin bringt Formeln wie diese: „Der Staatsgedanke öder die Zentralgewalt ist die These, die Anarchie oder die Gestaltlosigkeit die Antithese, die Föderation die Synthese" (II, 1 6) ; man kann nicht um- hin, darin die Fülle des Inhalts sowie die ganz absonder- liche Wendung zu bewundern! Tschernitschewki, ein Nachfolger Feuerbachs, leugnet in einer von Masaryk angeführten und seine philosophische Beweisführung//? nuce enthaltenden Stelle die Wirklichkeit des Geistigen, indem er sagt, die Philosophie vermöge im Menschen 270 nichts anderes zu erblicken, als es Medizin, Physiologie und Chemie tun, die in ihm keineswegs eine „zweite Natur" finden. Pisarew will nichts als die „Wirklich- keit" anerkennen und leugnet, Feuerbach -Stirner fol- gend, „alle Grundsätze", den Begriff der Pflicht, „sämt- liche Ideen", die „Ideale"; er verlacht, die Realisten ausgenommen, alle Philosophen und nennt Plato einen „General der Philosophie, in der Art wie es Generale der Infanterie gibt" (II, 80, Worte, deren Spitze ich übrigens nicht verstehe, weil ich nicht einsehe, worin das Komische bei der Figur eines Generals der Infanterie liegt). Er bescheidet sich auch nicht dabei, den beiden früher erwähnten Hegelianern der äußersten Linken nachzuplappern, er hängt ebenso an den Rockschößen Vogts, Büchners, Moleschotts, löst den „dialektischen Prozeß der Geschichte" in den „physiologischen Pro- zeß" auf (II, 82) und fällt in seinem famosen Versuch über die Vernichtung der Ästhetik das erlesene Urteil: „Der Koch Dusseaux" — ein sehr geschätzter Koch in Petersburg — sei „ebensoviel wert wie Raffael" (II, 90). Als im Jahre 1862 das Programm des Jungen Kußlands in die Welt geschleudert wurde, bemerkte sogar Herzen, es sei unrussisch, da es ein ?nixtum compositum unver- dauten Schillers (des Schillers der Räuber) mit Gracchus Baboeuf und Feuerbach darstelle (II, 105); auch vom Nihilismus, der ein russischer Originalgedanke sein sollte, urteilte Herzen später, daß er „nichts Neues hervorgebracht habe, und daß es ihm nicht einmal ge- lungen sei, seine eigenen Grundsätze klar auszudrücken" (II, 102). Peter Lawrow fußte in seinen philosophischen Arbeiten auf Proudhon, Buckle, Rüge und Bruno Bauer (II, 134). Michailowski wiederholt alle, namentlich Hegel und Comte, und wärmt in einer neuen Namen- 271 gebung die „drei Perioden" der Menschheitsgeschichte auf, die er da nennt: „das objektive Anthropozentrische, das Exzentrische und das subjektive Anthropozentrische" (II, 1 58) ; er bekämpft die Metaphysik (die ausgesprochen hellenisch und mittelalterlich ist!) als die „Philosophie des Kapitalismus und der Arbeit des Kapitalisten, die vom erzeugenden Werkzeug getrennt ist!" (II, 181). Und so w^eiter und w^eiter. Überblicke ich die lange Reihe der von Masaryk ge- botenen Auszüge, so muß ich bekennen, daß ich in der Tat nicht nur kein Bedürfnis empfinde, die Werke dieser russischen Schriftsteller näher kennenzulernen, son- dern daß es mir selbst unnötig erscheint, ihre mitunter recht schw^ierigen Namen im Gedächtnis zu behalten, die sich mir lediglich als Pseudonyme v^ohlbekannter und uns allen vertrauter europäischer Schriftsteller dar- stellen. Auf den größten der russischen Philosophen, der als der erste v^ahre Philosoph dieses Volkes gefeiert worden ist, Solow^iew, hat hauptsächlich der grob- schlächtigste aller deutschen Metaphysiker, Eduard von Hartmann eingew^irkt, dessen System für Solov^iew eine Summa theologica bedeutete; von ihm hat er den Aus- gang genommen für seine slawophile Utopie, die in eine Reihe schreckhafter „Apokalypsen" auszumünden be- stimmt w^ar. Demnach muß es in Verw^underung versetzen, wenn Masaryk am Schluß seines Werkes von der „Originalität" des russischen Denkens spricht und in dem Bestreben, die von ihm selbst gebrach tenTatsachen abzuschwächen, daran erinnert, wie doch jedes Volk aus der Kultur und dem Denken der andern geschöpft habe. Das ist ebenso selbstverständlich, wie es selbstverständlich wäre, daran zu erinnern, daß jedes Volk und jedes Einzelwesen, 272 durch die bloße Tatsache seines Lebens, immer eine gewisse Originalität besitzt. Selbstverständlich, aber ganz allgemein, da die einem Einzelwesen oder einem Volk zu- oder abgesprochene Originalität nicht diese allgemein menschliche, sondern jene sonderartige be- deutet, die sich in der Verarbeitung der übernommenen Ideen ausspricht, in der Weise, wie sie mit den der nationalen Kultur entspringenden ausgeglichen werden, ferner in den neuen Ideen, die in ihr auftreten. Auch Italien hat sich im XIX. Jahrhundert dem deutschen Gedanken erschlossen; aber Galluppi, Rosmini, Gio- berti haben ihn weder einfach wiederholt, noch Hirn- gespinste an ihn geknüpft; sie glichen ihn sich einer- seits vielmehr an, anderseits wurde er ihnen der Antrieb zu neuen Problemen und Gedanken. Auch die Geschichtsphilosophie und Geschichtschreibung Deutschlands drang auf weiten Strecken in das Italien jener Zeit ein; hier stieß sie jedoch auf die Überliefe- rung von Muratori und Vico her, die sich selbst schon auf ähnlichen Pfaden bewegt hatte und mit der sie sich aneinanderzusetzen hatte. Nichts dergleichen läßt sich bei den russischen Schriftstellern verspüren, nicht einmal das vorsichtige und bescheidene Verhalten des emsigen Schülers, der dem Gedanken des Meisters zu folgen, ihn auszulegen, sich zu eigen zu machen und anzuwenden versucht. Denn, wie man gesehen hat, nicht nur die russische Bildung, sondern jeder ein- zelne jener Schriftsteller ging Hals über Kopf von einem zum andern Gewährsmann über, zu den aller- verschiedensten und einander entgegengesetzten, so wie sie ihnen gerade beim Lesen in die Hände gerieten; sie legten damit den geringen Ernst ihres jeder Strö- mung folgenden Geistes offen dar. Bei diesem Ab- is Croce, Randbemerkungen eines Philosophen ^^Q schwenken von einem zum andern Autor des Aus- landes lassen sie sich als beständig nur in dem einen bezeichnen, daß sie die kritische und wissenschaftliche Seite allenthalben vernachlässigen. Masaryk weist darauf hin, daß die russischen Philo- sophen an den Erkenntnisproblemen, die die europäi- schen Denker so stark beschäftigen, geringen oder gar keinen Anteil genommen haben, und daß sie die „Philosophie der Religion" und die „der Geschichte" zu ihrem Felde erkoren; es scheint mir jedoch, daß ihm entgeht, wie das gerade darum geschah, weil diese beiden Gebiete der Religions- und Geschichtsphilosophie die am wenigsten philosophischen Seiten der europäischen Philosophie darstellten, da in ihnen die gefühlsmäßige Richtung und mythologische Träume vorherrschten, während die erkenntnistheoretischen Forschungen den wahren kritischen und fortschrittlichen Mittelpunkt bilden, und den Prüfstein für ernst zu nehmende spe- kulative Geister abgeben. Masaryk sagt auch in der Tat (II, 508), daß die philosophische Kritik der Russen sich Hume und Kant zuwenden, den Nihilismus, die Verneinung des Alten, das antikritische Empörer- tum, das bequeme Aneignen und die ebenso bequeme Sucht des Nachahmens überwinden müßte. Müsste: das heißt also, es sei wünschenswert, daß sie es tue; allein bisher tat und tut sie das Gegenteil. Es kommt mir nicht in den Sinn, Masaryk nachzuahmen, und den Russen die Aufgabe ihrer philosophischen Zukunft vorschreiben zu wollen; nichtsdestoweniger muß es mir gestattet sein, meine Meinung dahin aus- zusprechen, daß für sie, wenn überhaupt, ein rich- tiges Schulprogramm ersprießlich wäre, die Mahnung, für jetzt, und noch für eine gute Weile, die große Phi- 274 losophie beiseite zu lassen und von den Grundlehren an zu beginnen, den Methoden des Studiums, der for- malen Logik : mit alledem, was uns Europäern gleich- sam durch tausendjährige Erziehung im Blute liegt, Rußland aber fehlt. Liest man Tolstoi, so stößt man, wie männiglich bekannt ist, auf verdrehte Erörterungen über religiöse, sittliche, politische, wirtschaftliche, selbst literarische Probleme — man erinnere sich der Schrift y^Was ist Kunst}'''' und des Buches, in dem Shakespeare vernichtet wird — und man verzeiht derlei dem großen Dichter: denn wem verzeiht man denn leidenschaftliche und verdrehte Beweisführung, wenn nicht geliebten Frauen und Dichtern? Nur ist diese Art der Darlegung, in der sich an höchst schwankende Voraussetzungen gewöhnlich widerwärtig starrsinnige Schlußfolgerungen knüpfen,und mit der verwegenen Ablehnung jeder Auto- rität und der festesten allgemeinen Überzeugungen die Unfähigkeit zu scharfem, behutsamem und tiefem Be- obachten verschwistert, in Rußland durchaus nicht bloß den Dichtern gleich Tolstoi eigen, sondern auch den Schriftstellern , die keine Dichter sind, sondern kritische und philosophische Arbeiten herausgeben. Man müßte sie in der Tat nach ihrer Besonderheit zergliedern und ihr einen sie kennzeichnenden Namen geben, etwa „auf russischer Art schließen?" — eine Bezeichnung, von der es mich Wunder nimmt, daß sie nicht schon längst her- vorgetreten ist. Ich finde bei Masaryk (II, 98) einen Aus- spruch Solowiews über die nihilistische Lehre, die er in dem Merkwort zusammenfaßt: „Der Mensch stammt vom Affen, liebe daher deinen Nächsten wie dich selbst" ; es scheint mir das ein Sinnbild des „Schließens auf russische Art" darzustellen. Diese Schriftsteller könnten also in zusammenfassen- 18» 275 der Weise unvorbereitete und noch schwache Geister ge- nannt werden, denen verwickelte und mit einer langen Geschichte beladene Lehren eingeflößt wurden, von denen sie, statt erzogen und gefestigt zu werden, vielmehr aufgeregt, verwirrt und unheilbar zugrunde gerichtet worden sind. Namentlich die deutsche Philosophie ist, als die einflußreichste, in Russland auch die verderblichste gewesen : von der Hegeischen an, die eine Philosophie für Erwachsene ist, bis zu der von Marx, zugleich rea- listisch und metaphysich, vorurteilslos und parteiisch, nach einer Kritik durch Erwachsene verlangend. Da- her hat auch die unendliche Zahl der von russischen Schriftstellern verfaßten geschichtlichen, sozialen, reli- giösen und sittlichen Theorien der Wissenschaft gar keinen Ertrag gegeben, nichts, was in deren Geschichte irgendeine Erwähnung verdiente. Damit soll nicht ge- sagt sein, daß dieses leidenschaftliche Drängen von For- meln und Ideologien keinerlei Wert für die soziale Geschichte hätte; im Gegenteil kann man daraus sehr gut abnehmen, welches die eigentlichen Kräfte des russischen Volkes sind, seine Empfindungen und Be- dürfnisse, welcher sein geistiger Höhenstand ist. Es wird auch dadurch klar, weshalb Rußland, während die übrigen Völker eine Wissenschaft und eine Kultur — mag sie groß oder klein sein — besitzen, statt dessen, wie man zu sagen pflegt, ein „Intellektuellentum" besitzt; etwas, das recht eigentlich weder Wissenschaft noch Kul- tur ist, vielmehr ein hitziges Streiten über alles mög- liche und ein Hervorstoßen von Paradoxien bedeutet : etwas, das im Grunde gar sehr dem ähnelt, was man schlecht und recht: Überspanntheit nennt ^). *) Croce macht hiezu folgende Anmerkung: „Es wird gut sein, hieran die Bemerkung zu knüpfen, daß ich in diesem Aufsatze nur vom russischen 276 DREI ARTEN DES SOZIALISMUS (Giornale d' Itaita, 8. Oktober igi8). — Es gibt oder gab etwas, das wir in unserer Jugendzeit, s'ist lange her, als Studenten unter Meister Antonio Labriola lernten und das ungefähr folgendes besagen wollte: „Das Bürgertum schafft die moderne Welt der Industrie, der Arbeit, Wissenschaft, Bildung, begründet und stärkt die nationalen Körper, macht die verschiedenen Vaterländer stark und ge- achtet; in dieser Tätigkeit jedoch nützt es sich ab, er- schöpft, schwächt es sich ; während es, durch dieses Tun selbst, eine neue Klasse großzieht und herausbildet, die Arbeiter, die Klasse seiner Söhne, Gegner und Totengräber, die ihm in einem gegebenen Augenblick oder allmählich, früher oder später, die Gewalt aus den Händen winden und die Leitung der Gesellschaft übernehmen werden. Sie werden sich ihrer bemäch- tigen, nicht indem sie das Werk des Bürgertums ver- nichten, sondern bewahren und steigern : seine Wissen- schaft und seine Bildung, seine Sorge um die nationale Ehre, indem sie das Vaterland, das jenes mit so viel Scharfsinn, Mühe und Opfern geschaffen, verteidigen und dessen Aufgehen in größeren Körpern nur dann zulassen wird, wenn diese neuen Gebilde tatsächliche Wirklichkeit besitzen und das Leben der einzelnen Völker gegen Gewalt und Ausbeutung zu schützen imstande sein werden." Derart war Antonio Labriola gleichzeitig Sozialist und Patriot, ja selbst Imperialist, Anhänger des Krieges und kolonialer Eroberungen. Denken, insoweit es Gedanke ist, das heißt die Philosophie angeht, spreche; ich habe damit kein Urteil über die Ereignisse in Rußland abgegeben, über die wir noch sehr wenig unterrichtet sind, und die jedenfalls unter einem andern, dem politischen Gesichtswinkel betrachtet werden müssen. Des- gleichen heißt die Bücher des Professors Wilson beurteilen, nicht die politische Tätigkeit des Präsidenten abwägen." 277 Wo ist heute, in der Welt der Tatsachen, dieser von ihm ersehnte und gelehrte Sozialismus ? Ich bin dessen sicher, daf3 er ihn, könnte er die Augen wieder öffnen, nirgends als in Deutschland finden würde, dessen So- zialisten (ich weiß, daß ich damit gegen die landläufige Meinung verstoße, allein ich muß trotzdem sagen, was mir wahr und nützlich erscheint) die Grund- sätze ihrer politischen Lehrer mit aller Strenge aus- gelegt haben, indem sie sich offen auf die Seite des deutschen Staates stellten; und in dieser Hinsicht ge- bührt ihnen Lob für ihre Folgerichtigkeit und ihren Ernst. Daß diese deutschen Sozialisten dann, in Aus- nutzung ihrer Beziehungen, Freundschaften und des Vertrauens, aus der Zeit her, da der Sozialismus international sein konnte , ihre Genossen in anderen Ländern zu verführen und zu täuschen gesucht haben, ihre einfältigeren, leidenschaftlicheren, weniger unter- richteten Genossen, und sie anzuleiten, die Völker, von denen sie einen Teil ausmachen, den Bestrebungen, dem Ehrgeiz und der Begehrlichkeit des deutschen Staates zu unterwerfen, das war zweifellos unwürdig und abstoßend, wie jeder Verrat und Mißbrauch guten Glaubens. Aber was ist da zu machen ? Die Deutschen pflegen nicht allzu zartsinnig zu sein, und zartsinnig sind nicht einmal die deutschen Sozialisten. Es gibt aber einen andern Sozialismus, der anders urteilt, und der denkt: Kultur, Gesittung, Wissenschaft, Moral, Vaterland, Unabhängigkeit, Ehre — ; was geht uns das alles an? Possen ! Ob wir den Fremdherrscher im Hause haben oder nicht, der Bauer bleibt immer über seinen Spaten gebeugt, der Arbeiter an seine Ma- schine gefesselt, und wer weiß, vielleicht mag die Fremdherrschaft, wenn sie die herrschenden Klassen, 278 die Industriellen, die Grundbesitzer, die Kapitalisten unterdrückt, dem Proletariertum nützen: denn die Volksmassen, ja sogar die Hefe des Volkes, gegen Bürgertum und Adel zu begünstigen, ist eine altüber- kommene Notwendigkeit für Eroberervölker wie für Gewaltherrscher und Tyrannen. Zur Zeit des Nieder- gangs, im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, frohlockte der italienische Pöbel, als Zuschauer der Kriege, die in Europa und auf Italiens Boden selber tobten : „Hoch Frankreich und der Spanier Staat, wenn man nur voll den Ranzen hat!"; Giovanni Arriva- bene berichtet in seinen Erinnerungen, daß er dieses niedliche Sprüchlein oder eine Variante davon noch in den ersten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts in der Lombardei gehört habe. — Wo ist dieser Sozialis- mus heute zu finden? In vorbildlicher Form, soweit man aus den uns bekanntgewordenen Tatsachen ur- teilen kann, dermalen in Moskau; als Sinnesart jedoch ein wenig fast allenthalben : eine beschämende Sinnes- art, die sich denn auch ihrer selbst schämt. Gehen wir darum über sie hinweg. Endlich gibt es noch einen dritten Sozialismus, auf seine Weise idealistisch, christlich, humanitär, dem tausendjährigen Reich zugewandt; er fühlt sich leicht und beweglich genug, um einen kühnen Sprung über die Geschichte hinweg zu machen, nicht allein über die der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart und Zukunft, über alle Geschichte, alle Wirklichkeit. Er folgert also (wir sagen „folgert", um höflich zu sein) : Es ist an der Zeit, mit dem Ringen der Völker und den Kriegen aufzuhören! Was sind Kriege.? Die Interessen einer kleinen Zahl von Menschen in den verschiedenen Ländern, Interessen, denen die große 27g Mehrzahl mit bUnder Willfährigkeit dient, Güter und Leben zum Opfer bringt. Diese Mehrzahl möge sich endlich empören, Nein sagen, sich weigern ; dann werden die Kriege wie mit einem Zauberschlag aufhören und der Weltfriede wird gesichert sein. Und da man mit gutem Beispiel vorangehen soll, so beginnen wir da- mit, unser Land zu entwaffnen. Die andern Völker werden, angezogen von dem himmlischen Schauspiel, sich beeilen, diesem Beispiel zu folgen: es wird ein Weltfeiertag werden. Diese sogenannte Schlußfolgerung zu widerlegen, wäre überflüssig; es genügt zu bemerken, daß die große Menge des Menschengeschlechtes keineswegs, wie diese naiven Theoretiker sich einbilden, aus Toren besteht, sondern aus Menschen, wenn auch wenig unterrichteten Menschen, und daß diese Will- fährigkeit, diese Unterwerfung unter ein Losungswort, unter die Befehlshaberschaft, die einer Minderzahl, den führenden Klassen zufällt, durchaus nicht Blind- heit, sondern tiefer Trieb zur Rettung, zum allge- meinen Besten und zur Pflicht ist, Sinn für tiefste Not- wendigkeit, Gehorsam vor den Gesetzen der Ge- schichte. — Wo findet sich jetzt diese dritte Art des Sozialismus ? Die Antwort ist dieselbe wie im früheren Fall : als Sinnesart, ein wenig fast allenthalben ; in ent- wickelter und wirksamer Form jedoch in Moskau, wo Materialismus und Aszetentum, Zynismus und Idealismus, Niedrigkeit und Heldenhaftigkeit Arm in Arm gehen. Ich war gerade im Begriffe, diesen kleinen Aufsatz zu schließen, als mein kritischer Sinn, der mich gegen Dreiteilungen mißtrauisch macht, wie sie in der Philo- sophie bisher überaus bedeutsam, allein auch sehr 280 leicht übel anzuwenden sind, mir zuflüsterte: — Gibt es denn nicht noch einen vierten Sozialismus? Einen, der richtig folgert, gerade so wie der, den du an erste Stelle gesetzt hast, der jedoch aus Politik sich den An- schein gibt, von Fall zu Fall, wie der Sozialismus Nummer zwei, auch wie der Nummer drei, zu urteilen, weil, wie sattsam bekannt, mundus vult decipi} Ein Sozialismus, dessen Anhänger, einzeln genommen, vor- treffliche Patrioten sind, die sich der Siege ihres Vater- landes freuen und über seine Niederlagen betrüben, jeden Augenblick mit ihm leben, allein in den Zei- tungen und Parteiversammlungen sich anders verhal- ten, aus Furcht, daß die Partei ihren Händen ent- gleite ? Ein Sozialismus, der den Sack schlägt und den Esel meint, der der Unwissenheit hofiert, allein recht gut weiß, was Wissen bedeutet, angriffslustig mehr in Worten und Tagesordnungen, als mit Taten, ein So- zialismus mithin — im guten und schlechten Sinn des Wortes — auf italienische Art ? Ich meine, daß es auch diesen gibt ... DER SIEG {Viü bei Turin, 5. November 1918). - Der Sieg ist da, vollständig, glänzend, und was das Beste ist, verdient. Verdient durch die Zähigkeit der Verteidigung unter schwierigen Umständen, durch die Standhaftigkeit des gesamten italienischen Volkes, durch die Entschiedenheit des letzten Angriffs ; er kam gleichsam als Folgerung der großen Schlacht im ver- gangenen Juni, in der Italien, gerade Italien, den Auf- takt zum Gegenschlag der Verbündeten gab, indem es sich an Zahl überlegenen, von Angriffslust erfüllten, aus langer Hand in vorteilhaften Stellungen bereit- gehaltenen Kräften entgegenwarf; eine Schlacht, die 281 später die Wirkungen, die sie enthielt, offenbar machte, und deren man sich, wie es zu gehen pflegt, damals nur zum kleinsten Teile bewußt war. Wer in Gedanken die jahrhundertlange Geschichte Italiens durchgeht, glanzvoll in jeglicher Kunst, jeg- lichem Wissen, jeder Art genialer Tätigkeit, voll der wunderbarsten Proben sonderlichen Wertes, und trotz- dem jener Zeugnisse gemeinsamer Kraft ermangelnd, die weniger begabten und weniger um die Gesittung verdienten Völkern nicht fehlen — der großen natio- nalen Kriege und Siege — der vermag allein und in Wahrheit den unschätzbaren Preis des Gutes zu er- messen, das die Italiener von heute erworben haben und ihren fernsten Geschlechtern vererben werden. Welch leuchtender Gegensatz zu den Tagen der Qual und Demütigung, die wir gerade vor einem Jahr durchlebt haben! Wie herrlich haben sich die Wünsche erfüllt, die wir damals kaum in unserm tief- sten Innern zu hegen gewagt haben ! Dennoch möchte ich nicht behaupten (und ich bin sicher, daß viele darin wie ich fühlen werden), daß die gegenwärtige Freude den Schmerz von damals über- trifft oder ihm die Wage hält. Unser Geist erkennt die Größe der vollendeten Tat, das Herz billigt sie, das Gemüt ist davon befriedigt; allein die Freude bricht nicht mit der Kraft und stürmischen Bewegung hervor, die dem furchtbaren Sturm, der damals unsere Brust durchtobte, vergleichbar wäre. Beruht also die Lehre mancher Psychologen und der welt- schmerzlichen Philosophie auf Wahrheit, daß die Freude weniger stark als der Schmerz sei: eine Lehre, die ich vordem stets kritisiert und zurückgewiesen habe .? 282 Nein, diese Lehre ist trügerisch, gerade aus dem Grunde, den die Kritiker anführen, weil es nämlich nicht möglich ist, hier von Intensität zu sprechen und Dinge, die ihrer Beschaffenheit nach verschieden sind, aneinander zu messen. Der Schein geringerer Inten- sität der Freude entsteht gerade daraus, daß sie Freude ist, mithin ihrem Wesen nach selbst nachdenkliche Sorge über die neuen Schwierigkeiten, die neuen Auf- gaben, die sich aus der neuen Lage ergeben, die neuen Pflichten, die in ihr heranreifen. Immer ist mir der Schluß des Rolandliedes als etwas Bewundernswertes er- schienen : Karl der Große, der, nachdem er gesiegt und Rache an den Verrätern genommen, sich vom Boten des Herrn zu neuen Unternehmungen und Mühen gerufen sieht: „Deus — dist li reis — si penuse est ma vie! Pluret des oilxy sa barbe blanche tiret" ^). In gewissem Sinne ist es mir recht, daß die Nach- richt vom Siege mich hier erreicht, in den Bergen, die sich schon mit Schnee bedecken, in einem Alpen- dörfchen, weit entfernt von dem Festgepränge der Städte. Auch hier ist ja der Sieg gefeiert worden, aber in aller Schlichtheit: die Bergbevölkerung, Mütter, Gattinnen, Schwestern, Greise, hat sich auf dem Platze versammelt, die Kinder haben den Ort durchstreift, dreifarbige Fahnen schwingend, und alles hat sich in die Kirche begeben, wo der Priester vom Altare aus rührende hohe Worte sprach. Das genügt mir. Zu Festen anderer Art fühle ich in mir weder die nötige Frische noch Ruhe. Und — muß ich es sagen.? — ^) Großer Gott — sprach da der König — so mühevoll ist mein Leben! Die Augen tränten ihm und er griff in den weißen Bart. 283 nicht allein stoßen mich diejenigen ab, die diese Tage benützen, um platte Beleidigungen gegen den Feind zu schleudern, und unsinnige Urteile in widerwärtiger Art wiederholen, sondern es erscheint mir selbst das Festgepränge, jedes Festgepränge, das äußerliche und materielle Formen annimmt, gemein. Feste feiern — zu welchem Ende? Unser Italien geht aus diesem Kriege wie aus einer schweren Todes- krankheit hervor, mit offenen Wunden, mit gefähr- licher Schwäche in seinem Leibe, die bloß fester Sinn, gehobener Mut, sich erweiternder Geist überwinden und durch harte Arbeit in Antriebe zur Größe wan- deln kann. Hunderttausende unseres Volkes sind da- hingerafft worden, jeder von uns sieht in diesem Augen- blicke die trüben Gesichter der Freunde vor sich, die wir verloren haben, zerrissen von Geschossen, entseelt auf nackten Felsen oder dem Rasen, weit weg von ihren Hütten und ihren Teueren. Und die gleiche Trostlosigkeit herrscht in der ganzen Welt, unter den Völkern unserer Verbündeten wie unserer Gegner, Menschen gleich uns, trostloser als wir, da der Tod aller ihrer Lieben, alle Mühen, alle Opfer nicht hin- gereicht haben, um sie vor der Niederlage zu be- wahren. Große Reiche, die Jahrhunderte hindurch die Völker eines großen Teils von Europa in sich ver- einigt, in Zucht gehalten, zur Arbeit des Gedankens und der Gesittung, zum menschlichen Fortschritt an- geleitet haben, sind dahin; große Kaiserreiche, an Er- innerungen und Ruhmestaten reich; jeder edle Geist muß vor der unerbittlichen Erfüllung des geschicht- lichen Schicksals von Ehrfurcht ergriffen werden, das die Staaten vernichtet und auflöst wie die Einzelwesen, um neue Lebensformen zu schaffen. Shakespeares 284 Helden — Vorbilder aller Menschlichkeit — feiern nicht Feste, wenn sie den Sieg davongetragen und die furchtbarsten Feinde niedergeschmettert haben; sie fühlen sich vielmehr von Schwermut durchdrungen und ihre Lippen bewegen sich fast nur, um des Men- schen, der ihr Gegner gewesen, und dessen Tod sie selbst herbeigeführt, zu gedenken und sein Lob zu verkünden! 285 ANHANG DER „VÖLKERBUND«. Ein Interview {Tempo, Rom, ly. Jänner 1919). Ich begegnete gestern Croce und fragte ihn, was er von der Frage des Tages, dem Völkerbund, hahe. Er entgegnete mir: Dasselbe wollte ich gerade Sie fragen, denn ich muß gestehen, daß ich noch nicht begriffen habe, um was es sich handelt. — Sie gehören, setzte ich fort, zu denen, die einen Völkerbund für etwas Unmögliches ansehen.? — Durchaus nicht; was ich nicht begreife, ist nur, wieso man verkünden kann, man wolle heute etwas schaffen, das bereits besteht. — Ja, besteht denn der Völkerbund bereits? — Ich denke wohl, da die Geschichte besteht und sich in jedem Augenblick entwickelt, was unmöglich wäre ohne das Zusammenwirken, mithin den Bund der Völker. — Wie soll ich mir das erklären? — Sehr einfach. Welches Ideal schwebt dem Völker- bund vor? Eine Art von Überstaat, der die verschie- denen Völker in sich faßt, in ähnlicher Weise, wie beispielsweise der Einheitsstaat Italien die verschiede- nen Staaten des alten Italien, die Königreiche Neapel und Sardinien, das Großherzogtum Toskana, den Kir- chenstaat und so fort in sich aufgenommen und den Frieden zwischen ihnen hergestellt hat. a86 — Gewiß, etwas der Art: einen Schritt weiter in der Einigung des Menschengeschlechts; und, einstweilen, das Aufhören gewaltsamer Lösungen durch den Krieg. — Nun gut: bedenken Sie, daß die Bildung eines Einheitsstaates nicht das Aufhören der Kämpfe im Innern eines Volkes bedeutet, vielmehr eine Form, in der diese Kämpfe sich entwickeln. Kämpfe zwischen Klassen, Landschaften, politischen Ideen und Ausgleich zwischen Klassen, Landschaften, Parteien: das ist das tägliche Leben eines Staates, so einheitlich er auch sein mag. Die Heftigkeit der Kämpfe wechselt, da sie von kleinen bis zu großen Reformen, von kleinen bis zu großen Umwälzungen, selbst solchen, die man Revolu- tionen nennt, reicht. Etwas Ähnliches oder wenigstens Entsprechendes bietet nun das Leben der Völker in ihren gegenseitigen Beziehungen, das heißt in ihrer internationalen Einheit. Auch hier handelt es sich um einen täglichen Kampf, und die Verständigung wird durch diplomatische Verhandlungen, durch Handels- verträge, durch Ententen, Bündnisse, durch die Her- stellung eines mehr oder weniger dauerhaften Gleich- gewichts erreicht; das ist das Leben dessen, was man Frieden nennt; Kämpfe und Ausgleiche, die in ge- wissen Augenblicken an Stärke gewinnen und innerhalb der internationalen Gesellschaft das Gegenbild der Re- volutionen, den Krieg herbeiführen. Nach diesem tritt eine neue Ordnung der Dinge ein, das heißt, es beginnt abermals ein Werdegang von Kämpfen in einem weniger strammen Rhythmus, der den neuen Friedensabschnitt bedeutet. Das ist der Bund der Völker, der ebenso wirk- sam ist wie jener des in einem einzelnen Staat vereinigten Volkes. Darum sagte ich, einen Völkerbund schaffen hieße etwas schaffen, das bereits vorhanden ist. 287 — Es macht mir den Eindruck, daß Sie ironisch sprechen und sich stellten, als ob Sie nicht verstünden, was Sie in der Tat ganz gut begreifen : daß nämlich der jetzt vorgeschlagene Völkerbund etwas vollkommen Neues ist, daß er dahin zielt, die Ursachen jener Kämpfe selbst zu beseitigen, die für gewöhnlich in Ausgleichen und Gleichgewichtszuständen ihre Entspannung finden, aber von Ziit zu Zeit sich in furchtbaren Kriegen ent- laden. — In welcher Art beseitigen? Etwa dadurch, daß man auf das internationale Leben jenes mechanische Ideal der Gleichheit überträgt, das im Leben der Einzelstaaten selbst niemals gedacht, geschweige denn verwirklicht werden konnte? Allein im internationalen Leben er- weist sich dieses Gleichheitsideal sofort als absurd, ja selbst komisch ; so groß sind die natürlichen, wirtschaft- lichen, geistigen, überhaupt alle wie immer genannten Verschiedenheiten zwischen den Völkern. Wozu soll ich Ihnen elementare Dinge wiederholen? Wäre es möglich, diese Verschiedenheiten zu beseitigen, das fort- währende Entstehen und Sichvervielfachen der Gestal- tungen zu unterdrücken, die Ursachen von Wettstreit und Kampf aufzuheben, so würde man die Triebfeder der Geschichte und der Wirklichkeit zerbrechen und die Welt endigte in einem großen Gähnen der Lange- weile. — Sie nehmen die Begriffe in allzu unbedingter Weise. Kann man die Triebfeder der Geschichte, als welche Kampf ist, nicht zerbrechen, so kann man doch eine bessere Art des Zusammenlebens zwischen den Staaten, als wir sie bis jetzt kannten, herstellen. — Gewiß, allein niemals auf Kosten der Logik; und da der Völkerbund unter der Form von Begriffen und 288 Theorien vorgeschlagen und erörtert wird, so gehe ich nicht in allzu unbedingter Form vor, wenn ich die Be- griffe und Theorien untersuche und zeige, daß sie wider- spruchsvoll und leer sind. Es bleibt die andere Frage übrig: ob sich das Zusammenleben der Völker auf eine höhere Stufe erheben könne; aber gestatten Sie mir, auch was das anbelangt, die Bemerkung, daß man nach etwas sucht, das längst erreicht ist. Aus welchem andern Grunde ist denn jemals ein Krieg unternommen worden, als um ein volleres, würdigeres, höheres, machtvolleres Leben zu führen ? Wir alle, Sieger und Besiegte, führen sicherlich ein geistig höheres Leben als das vor dem Kriege. — Wir verstehen uns noch immer nicht! Ich frage, ob die gegenwärtigen Bemühungen, ganz abgesehen von den Theorien, nicht dazu führen werden, die Er- neuerung des Krieges unter den gesitteten Völkern zu verhindern, des Krieges, der mit Waffen und unter Zer- störung von Gütern aller Art geführt wird. — Vielleicht, vielleicht auch nicht. Als Philosoph habe ich niemals den ewigen Fortbestand des Krieges in seiner zufälligen Form, auf die Sie anspielen, be- hauptet. Diese Form mag verschwinden und sie wird verschwinden, wenn der Vorteil, den sie bringt, hinter dem Schaden, den sie verursacht, zurückbleiben wird, das heißt, wenn der Krieg für die Menschheit wenig ertragreich, unwirtschaftlich geworden sein wird. Ob dies bald der Fall sein wird, das ist Stoff für Voraus- sagen; und diese liebe ich nicht, wie Sie wissen, viel- leicht weil ich dazu unfähig bin. — Allein bemerken Sie denn nicht die Anzeichen einer versöhnlicheren Stimmung der Geister, die in allen Teilen der Welt zum Vorschein kommt.'' 19 Croce. Randbemerkungen eines Philosophen 2oQ — Ich bemerke sie nicht; es mag das mein Fehler sein, da ich auf einer allzuweit entfernten Warte lebe, von der aus mir vielmehr in Europa selbst die Unter- schiede nicht allein in > der Gesittung (bedenken Sie : Engländer und Russen, Italiener und Kroaten, Christen und Türken), sondern auch in den Begriffen (bedenken Sie: gallische und germanische Ideologie!) derart groß erscheinen, daß ich nicht begreife, wie sie durch einen Vorgang friedlichen Wettbewerbes und Einverständ- nisses ausgeglichen werden sollen. — Trotzdem muß etwas Neues und Bedeutsames, wenn auch in unlogischer und mythologischer Weise, wie man will, ausgedrückt, hinter dieser Forderung eines Völkerbundes stecken. Wie? — Einverstanden; doch was? Das ist es, was ich von Ihnen zu hören wünschte, denn ich für meinen Teil weiß es nicht. Vielleicht deshalb, weil es noch nie- mand bis jetzt wissen kann ; da es sich um eine dunkle Schwangerschaft handelt, aus der ein Geschöpf, schön und heiter wie ein Gott, aber auch ein furchtbares Uii- geheuer, gegen das wir uns rüsten müssen, hervorgehen kann. Wir werden ja sehen; inzwischen wissen wir, zum Glück, was uns als Menschen und Italienern für den Augenblick obliegt; das genügt, oder genügt wenig- stens mir. THOMAS MANNS „BETRACHTUNGEN EINES UNPOLITISCHEN« (Critica XFIII, Mai ig2o). ^) Es sind das Blätter, die der berühmte Romanschrift- steller, Verfasser der Buddenbrooks, während des Krieges *) Dieser, wie die beiden folgenden Abschnitte, sind in der Sammlung Castellano's nicht enthalten. D. Ü. geschrieben hat; „notgedrungen" geschrieben, weil in anderer Weise zu handeln unmöglich war, wie ^ noch manch einem in diesen Jahren begegnet ist: Blätter, wie der Verfasser treffend sagt, die eher als eine „Frucht" ein „Überbleibsel", ein „Niederschlag", eine „Spur", eine „Leidensspur" zu nennen sind. Ich gebe diesen Hinweis auf sie für die wenigen, die noch Freude am Nachdenken haben und gut geschriebene Bücher zu schätzen wissen. Das Thema des Buches ist die Auf- lehnung gegen ^unpolitischen Geist, den demokratischen, demagogischen, phrasenhaften Literatengeist : kein neues Thema, aber neu empfunden und mit feinster Beob- achtung ergriffen. Ich für meinen Teil habe es mit durchgehender Zustimmung gelesen. Ich vermag nicht einmal den heftigen Ausfall gegen d'Annunzio gänz- lich zu mißbilligen (S. 597): „Aber woher nehme ich das Wort, um ein Maß von Verständnislosigkeit, Staunen, Abscheu, Verachtung zu bezeichnen, wie ich es an- gesichts des lateinischen Dichter-Politikers und Kriegs- rufers vom Typ des Gabriele d'Annunzio empfinde.? Ist so ein Rhetor-Demagog denn niemals allein.? Immer auf dem ,Balkon'.'' Kennt er keine Einsamkeit, keine Selbstbezweiflung, keine Sorge und Qual um seine Seele und um sein Werk, keine Ironie gegen den Ruhm, keine Scham vor der , Verehrung'.?" Auch nicht das folgende, das sich gegen Italien wendet, jenes Italien, das d'Annunzio Beifall klatschte und vorgeführt wird als ein „kindlich gebliebenes Land", in dem „aller poli- tisch-demokratische Kritizismus nicht hindert, daß es an Kritik und Skepsis in jedem größeren Stile dort fehlt, ein Land also, dem keine Vernunft-, keine Moralkritik, am wenigsten aber eine Kritik des Künstlertums Er- lebnis wurde" .? Allein der Verfasser, der den deutschen 19* 291 Geist als Gegensatz zu dem der „Zivilisation" im vorer- wähnt«n Sinne faßt, vertreten von den damals im Kriege mit Deutschland stehenden Völkern (außer Rußland), weiß sehr wohl und sagt es des öftern, daß der deutsche Geist, der w^ahre, von ihm gepriesene deutsche Geist, nicht mit dem tatsächlichen Deutschland zusammen- fällt, in dem die aus den lateinischen und angelsäch- sischen Ländern kommenden Strömungen sehr stark v^aren und es noch sind und die bezweckten und es noch tun, „Deutschland zur Demokratie heran- wachsen" zu lassen, das heißt zu einer Staats- und Ge- sellschaftsform, zu welcher Paraguay und Portugal schon des längern „herangewachsen" waren (S. XXXVIII). Man kann dagegen einwenden, daß, gleichwie Deutsch- land durch jene Gegensätze geteilt ist, es mehr oder weniger auch alle andern Länder sind, auch Italien, auch England, auch Frankreich. Von diesem Gesichtspunkt aus könnte man vielleicht zu dem Schlüsse kommen, daß das Thema seines Buches, ausgedrückt als der Gegen- satz zwischen dem wahren deutschen Geiste und jenem der lateinischen Länder, in symbolischer oder mytho- logischer Form (eines ethnischen Mythologismus) den menschlichen und ewigen Widerstreit zwischen Aristo- kratie und Menge verkörpert. Es ist sicher notwendig, gegen die Menge Stellung zu nehmen, sie zu um- schreiben, zu verhöhnen, mit Heftigkeit abzuwehren: man muß seinen Gefühlen freien Lauf lassen ; die Ge- duld hat ihre Grenzen. Allein, ist dies geschehen (und wenige haben es so getroffen wie Mann), so bleibt den- noch die Menge bestehen; sie bleibt, weil sie werktätig handelt — auf ihre Weise, wohlverstanden — , und erfüllt ihre vielfachen Aufgaben, unter denen auch die sich befindet, in der Aristokratie das Bewußtsein ihrer selbst 292 aufzustacheln und zu verstärken. Kein Krieg, keine Eroberung, keine Unterwerfung, kein Umsturz, kein Einbruch fremder Völkerschaften hat sie jemals ver- nichten können; und v^enn Deutschland (das Deutsch- land, das w^ie Mann denkt und fühlt) sich dieses Ziel vorgesetzt hat, so braucht es uns nicht in Verw^underung zu setzen, daß es den Krieg verloren hat, und daß ihn vielmehr jene gewannen, die ihre Rechnung mit der Menge besser zu machen verstanden haben. OSWALD SPENGLER - DER UNTERGANG DES ABENDLANDES. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Erster Band: Gestalt und Wirk- lichkeit. München 1 9 1 9 — {Critica XV III ^ Juli ig2o) — Die beifällige Aufnahme, die dieses Buch, zu Anfang 1 9 1 8 und 1 9 1 9 schon in vierter Auflage erschienen — jetzt ist es bei der achten angelangt — , in Deutschland gefunden hat, muß denjenigen ernstlich Sorge bereiten, denen das Geschick wissenschaftlicher Arbeit am Herzen liegt. Denn da es auf andere ähnlichen Schlages, wenn nicht seiner These, so doch seiner Methode nach (gleich jenem vielberufenen von Chamberlain) ge- folgt ist, so scheint es den Verfall — einen dem Krieg weit vorausliegenden Verfall! — von Kräften zu be- zeugen, mit denen Deutschland einst wohltätig auf das moderne Geistesleben eingewirkt hat. Ich meine damit die von diesem geschaffene, oder doch mindestens ge- förderte und verstärkte Gewöhnung, die Probleme mit voller Kenntnis des ihnen Vorausgegangenen, das heißt ihrer geschichtlichen Entwicklung, zu behandeln, um derart so weit als möglich Rückschritte oder un- nötige Schritte zu verhindern ; sowie ferner das in ähn- Hcher Weise geförderte Bewußtsein, daß die Wirklich- 293 keit Geistigkeit und Schöpfertum sei, und sich nicht von naturwissenschaftUchen Auffassungen unterdrücken läßt, die immer in fatalistische und pessimistische um- schlagen. Herr Spengler befindet sich aber in vollständiger Unvi^issenheit über die Geschichte der Fragen, die er zur Sprache bringt; seine Gedanken sind ebenso wie seine Gelehrsamkeit die eines Dilettanten; eines Di- lettanten, auf daß ich recht verstanden w^erde, vom Schlage unseres Guglielmo Ferrero, den er übrigens an Bildung und Scharfsinn überragt, da sein Dilettan- tismus (und Marktschreiertum) in einem innerlicheren und mannigfaltigeren Kulturmittel entstanden ist als das Lombrosianisch-Sozialistische, in dem Ferrero auf- wuchs. Da er nun die Geschichte jener Fragen nicht kennt, so stößt es auch ihm zu, daß er bei jeder zu- sammenhanglosen Klitterung von Begriffen, die er vor- nimmt, oder bei jeder Halbwahrheit, die ihm durch den Kopf schießt, Wunder von Entdeckungen, die das allgemein anerkannte Wissen umstoßen, vollbracht zu haben wähnt: die hemmungslosen Behauptungen des Pseudogelehrten gehen so Hand in Hand mit der ver- wegensten Sicherheit und Selbstgefälligkeit. Die Art, mit der er das eigene Werk ins Licht stellt, und jeden Zug unterstreicht, wäre von unsern alten Kritikern, die voll guten Menschenverstandes waren, wohl „thra- sonisch" genannt worden — nach der Figur des Maul- helden im Eunuchen des Terenz. Man lese als Probe nur wenige Sätze: „In diesem Buche wird zum ersten Male der Versuch gewagt, Geschichte vorauszubestimmen" (S. 3). Er erweitert sich zu einer völlig neuen Philosophie, der Philosophie der Zukunft (S. 6). Die Geschichtschreibung steht bis heute auf einem Ni* veau . . . dessen man sich in andern Wissenschaften geschämt hätte (S. 2i). Die heutige Art geschichtlichen Denkens entspricht dem ptolemäischen Weltsystem, „und ich betrachte es als die kopernikanische Entdeckung im Bereich der Historie, daß in diesem Buch ein neues System ... an seine Stelle tritt" (S. 24). Hier findet man „die bisher unbekannte Methode der vergleichen- den historischen Morphologie" (S. 64). „In diesem Buche liegt der Versuch vor, diese ,unphilosophische* Philosophie der Zukunft — es würde die letzte Westeuropas sein — zu skizzieren" (S. 65). Im Vorwort (s. S. VIII) wünscht er sich sogar (es war damals der Höhepunkt des siegreichen Vormarsches von LudendorfFs Heeren), daß sein Buch „neben den militärischen Leistungen Deutschlands nicht ganz unwürdig dastehen möge" ! Will man wissen, worin die von Herrn Spengler vollbrachte Entdeckung besteht, was seine „ver- gleichende morphologische Geschichte" bedeutet, durch die man dazu gelangen soll, die Geschichte „vor- auszubestimmen" .? Man sollte es kaum glauben : daß die menschliche Gesellschaft sich in Kreisläufen ent- wickelt, von Kultur zur Zivilisation übergehend, durch die Zersetzung der Zivilisation und die Rückkehr primitiver Bedingungen wieder zu neuer Kultur zu- rückleitend, nur daß in diesem Kreislauf, zusammen mit den politischen und sozialen Formen, auch Lite- ratur, Kunst, Wissenschaft und jegliche Sache sich änderten. Das heißt, es handelt sich hier um einen der ältesten Gedanken der Menschheit, um die Lehre von den geschichtlichen Kreisläufen, die, nach langer Durcharbeitung in Altertum und Renaissance, dann in Italien, es sind nun schon zwei Jahrhunderte her, einen philosophischen Genius fand, der sie sich zu eigen machte und mit philosophischen und historischen Begriffen von wunderbarer Frische und Mannigfaltig- keit bereicherte ; derart, daß nichts von alledem, was Spengler über sie vorbringt und das irgendwie berück- 295 sichtigungswert ist, etwas bedeutet, das nicht schon in der Scienza nuova zu finden wäre : dieser gehört, in gewissem Sinn, selbst die Voraussicht der Periode der Eroberungen und Expansionen sowie der neuen Bar- barei an, der die moderne bürgerUche Kultur entgegen- gehen soll. Nur ist in den zwei Jahrhunderten, die von Vico bis auf uns verflossen sind, diese Lehre erörtert, kritisiert, zum Teil verworfen, zum andern bewahrt, aus ihrer Starrheit gelöst, von Übertreibungen und phantastischen Inkrustationen gereinigt, mit der Lehre vom Fort- schritt wieder verknüpft worden, mithin verfeinert und im einzelnen durchgearbeitet, gerade durch jene Philo- sophen und Historiker, die Herr Spengler seine Ver- achtung fühlen läßt und für die er, seinem Ausspruch nach , sich schämt — ein Schamgefühl, das der Leser seines Buches zu erwidern sich bemüßigt fühlen möchte! Von all dieser kritischen Arbeit weiß Herr Spengler nichts; und wegen dieser Unwissenheit und Unbewußtheit ist sein Buch „unter aller Kritik" : mit- hin werde auch ich mir nicht die Mühe geben, es zu erörtern und zu widerlegen. Es gibt besseres zu tun. Wie wäre es auch zu erörtern, wenn darin allent- halben derselbe Mangel an Methode zu finden ist? Herr Spengler hat in gar vielen Gebieten des Wissens Neues zu bieten : von der Mathematik an, in bezug auf die er uns verkündet, etwas entdeckt zu haben, „was den Mathematikern selbst verborgen geblieben ist", daß nämlich die Zahl an sich nicht existiert und die Zahlen etwas Relatives sind, je nach den Völkern und den Formen der Zivilisation (S. 85), sowie daß Kant unrecht gehabt hat, die Kategorien und geistigen Formen für etwas allen Menschen Gemeinsames zu 296 halten (S. 87). Der Abschnitt über die Kunst beginnt mit einer Polemik (auch diese dilettantisch und ohne Zusammenhang mit den Vorstufen des Problems) gegen die Wichtigkeit, die der Einteilung nach Einzelkünsten beigelegt wird. Auch das heißt nur üblerweise eine Tür einrennen, die schon von andern weit geöffnet worden ist — ebenso mit der Behauptung, daß zwischen der Musik, der Bildnerei, der Mathematik und der Wissenschaft eines Zeitabschnitts eine weit größere Verwandtschaft bestehe als zwischen der Musik, Bild- nerei usw. zweier verschiedener Zeitabschnitte — was nur eine Halbwahrheit ist, da die Verbindungen zwi- schen den verschiedenen Erscheinungen einer Epoche solche der Kultur sind, jedes Kunstwerk dagegen ein ästhetisches Einzelwesen und darum unvergleich- bar ist. Ich lasse das also beiseite und gehe zu den politischen Voraussetzungen des Herrn Spengler über: trüb pessi- mistischen Vorraussagen, bei denen es wegen der qual- vollen Krisis, in die das große deutsche Volk eingetreten ist— und die es, wie wir hoffen, bald überwinden wird— zu befürchten steht, daß sie leicht und allgemein Zustim- mung finden,Torheiten, Schwächezustände, geistige und sittliche Schäden erzeugen werden, gleich jenen, die die Aufstellungen des Herrn Chamberlain und Genossen zur Zeit des Alldeutschtums und der Vorbereitung zum Kriege hervorgebracht haben. Herr Spengler behauptet, gestützt auf seine philo- sophischen und geschichtlichen Untersuchungen, daß die Periode von 1900 bis 2000 derjenigen der Hyksos in Ägypten, dem Hellenismus und der Herrschaft der Diadochen sowie der römischen Zeit von Scipio bis auf Marius entsprechen und daß sie durch Imperialis- - 297 mus und Sozialismus zusammen gekennzeichnet sein werde. Die folgende, von 2000 bis 2200, soll der 18. ägyptischen Dynastie, ferner der Zeit von Sulla bis auf Domitian entsprechen und gekennzeichnet werden durch den Cäsarismus, die immer mehr anwachsende Naturalisierung der politischen Formen, den Verfall der nationalen Körper, die zu gestaltlosen internatio- nalen Menschenhaufen herabsinken werden, und deren Aufsaugung in einem Imperium urtümlich - despo- tischer Art. Nach 2200 wird in Europa allenthalben Ägyptertum, Mandarinen- und Byzantinerwesen herrschen. Der imperialistische Mechanismus wird er- starren und seinerseits in Verfall geraten, alles zur Beute junger Völker und fremder Eroberer, werden; allmählich werden wieder vorgeschichtliche Zustände eintreten, man wird in die Wälder zurückkehren, Wälder, die, wie es den Anschein hat, nur sehr spär- liche Bäume aufweisen werden. Müßte ich als der Neapolitaner, der ich bin, auf diese Voraussagen antworten, so würde ich mich darauf be- schränken, die herkömmlichen Beschwörungsgebärden zu machen. Damit aber der aristokratische Denker Herr Spengler mich nicht als „Provinzler" verurteile (so nennt er verächtlich die übrigen Historiker), so will ich ihm als Philosoph, das heißt mit vieler Ein- fachheit antworten. Alles kann sich in der Welt er- eignen, auch daß nach 2200 unsere Urenkel in die Wälder unserer fernen Ahnen zurückkehren werden. Allein dies als eine gesicherte Tatsache auf Grund von „Analogien" zu behaupten (wären sie auch mit dem Wissen, dem Unterscheidungsvermögen, der Gewissen- haftigkeit vorgebracht, über die sämtlich Herr Spengler nicht verfügt), heißt törichtes Zeug reden, das keine 298 andere Wirkung hervorbringt als die allen Torheiten eigene, die Geister in Verwirrung zu setzen und die Ge- müter niederzudrücken. Von dem, was sich ereignen wird, wissen wir gar nichts ; aber wir wissen, unterdessen, sehr wohl, daß wir nicht in die Wälder zurückkehren wollen, auch nicht einmal zu ihrem Vorspiel, dem Mandarinen- und Byzantinertum , und ebensowenig zu dessen Vorläufer, dem Despotismus, der angeblich die einzige Herrschaftsform über die gestaltlosen Massen sein soll. Der Mensch ist Geistigkeit, darum Schöpfer- tum und trägt in sich unendliche Kräfte, die es ihm ermöglichen, allen Lagen die Stirn zu bieten, sie zu überwinden und umzugestalten, so schwierig oder ver- zweifelt sie auch zu sein scheinen. Herr Spengler rät, uns dem Imperialismus-Sozialismus, dann dem Despo- tismus und so weiter anzubequemen, da wir uns längst im Greisenalter Europas befinden, und der Greis leben muß, wie es dem Greise geziemt. Allein nicht einmal der Greis hört, in Sachen des Geistes, auf diese feigen Ratschläge, sondern fährt fort zu denken und zu schaffen, bis zum letzten Hauche; und so geschieht es zuweilen, daß er, wie Kant die Kritik der Urteilskraft mit fünfundsechzig Jahren schreibt, oder, wie Goethe den zweiten Teil des Faust mit achtzig, oder, wie Leo- pold Ranke, die Weltgeschichte mit neunzig ; oder daß er, wie Blücher , mit siebzig Jahren , Napoleon bei Waterloo besiegt. Und nun erwäge man, ob die mensch- lichen Gesellschaften ihnen Gehör schenken sollen, sie, deren Jugend und Alter bloß metaphorisch sind! Wie man sieht, habe ich aus Höflichkeit bloß Bei- spiele hervorragender Deutscher angeführt. Ich füge noch hinzu, daß die Vorläufer des Herrn Spengler, nicht in ihren Thesen (etwas, das wenig besagt), son- 299 dem in der Methode (was viel mehr sagen will) , die Chamberlain und andere desselben Schlages, ganz ähn- liche Diagnosen über uns Italiener gestellt und uns ge- raten haben, nach Greisenart zu leben und uns dem germanischen Eroberer- und Triumphatorentum zu unterwerfen. Allein die angeblichen Greise haben sich in vier harten Kriegsjahren nicht mehr und nicht weniger jung als alle andern Völker erwiesen ; daher die Verwunderung über die „unerwartete Widerstands- kraft der Italiener", die in deutschen Zeitungen und Büchern ihren Ausdruck fand. Denn was hatten jene Schriftsteller vergessen.? Daß der Mensch nicht ein Naturwesen, sondern ein Geisteswesen ist, und daß auch die Italiener Menschen sind, allem Elend unterworfen, aber auch fähig zu jeder menschlichen Größe. Und Herr Spengler vergißt seinerseits, daß die „Europäer" (über die er jetzt den Stab bricht) ebenso Menschen sind, und daß sie darum denjenigen sehr viele „Über- raschungen" bereiten, die mechanisch denken wie er. ÜBER DIE ZOOLOGISCHE STATION VON NEAPEL (Senatsrede, gehalten am g. Dezember ig2o vom JJnterrichtsminister Croce). Meine Herren Senatoren! Die langen Erörterungen von gestern und heute haben Sie genügend über den Ursprung und die Schicksale der Zoologischen Station in Neapel aufgeklärt. Ich will Sie nicht damit ermüden, nochmals diese Geschichte vor Ihnen zu entwickeln, obwohl ich dies für einige ihrer Teile mit größerer Ge- nauigkeit und mit passenderen Farben zu tun vermöchte. Ich wünsche bloß, daß man sich über das Wesen der Zoologischen Station wohl im klaren sei, die nicht eine wissenschaftliche Einrichtung im Sinne einer Universi- 300 tätsfakultät oder einer Akademie ist. Sie ist vielmehr — um mich so auszudrücken — eine große Herberge für Fachleute, die aus allen Teilen der Welt zu ihr kom- men, hier Arbeitstische, eine reiche Fachbücherei, alle Arten von Hilfsmitteln zur Erforschung der Tierw^elt des Meeres vorfinden, und vor sich die Bucht von Neapel, das Mittelmeer haben, das ihnen alles Erforder- liche in reichem Maße liefert. Allein jeder arbeitet hier auf seine Rechnung, seinen eigenen Zwecken gemäß, mit der größten Freiheit. Den Gedanken dieses Instituts hat der Embryologe Anton Dohrn aus Stettin gefaßt, hierhergeführt durch seine Forschungen über die Vorgeschichte der Wirbel- tiere; sie machten ihm den großen Nutzen deutlich, der sich daraus ergibt, wenn die Gelehrten sich an einem geeigneten Orte zusammenfinden und ihnen die zur Erforschung der Seetiere nötigen Behelfe geliefert werden können. Allein wie alle, die einen neuen und nützlichen Gedanken haben, mußte er, in Berlin nicht minder als in Neapel, viele Kämpfe bestehen und sehr viele Hemmnisse überwinden; in Berlin, wo das preu- ßische Kultusministerium ihm zunächst die bescheidene Beihilfe, die er verlangte, abschlug und die preußische Akademie ein ungünstiges Gutachten über seinen Plan abgab, in Neapel, wo er Mißtrauen und Eifersucht er- weckte, die dann in ungeahnter Weise aufhörten, als das Haupt der Mehrheit in der damaligen Gemeinde- verwaltung, Baron Savarese, nachdem er eine Schrift Dohrns gelesen, die Bedeutsamkeit des Planes er- faßte, den Verfasser kennen zu lernen wünschte, mit ihm eine dreistündige Unterredung hatte und dann die von Dohrn verlangte Konzession im Gemeinderat vor- schlug und siegreich zur Annahme brachte. Es ist Ihnen 301 schon mitgeteilt worden und beruht auch durchaus auf Wahrheit, daß Dphrn sein ganzes Vermögen, ja selbst die Mitgift seiner Frau an dieses Werk gesetzt hat; allein er hatte die Genugtuung, seine Schöpfung rasch gedeihen und zu großem Ruf, zu Weltruf gelangen zu sehen und der Wissenschaft unermeßliche Dienste zu erweisen. Der ehrenwerte Senator Volterra hat in Dohrns Taschen nachgeforscht, um darzutun, daß er sein Kapital zurückerlangt und vielleicht auch dessen Zinsengenuß erreicht hat. Ich bin nicht imstande, das nachzuprüfen und möchte nur nachdrücklich der Hoff- nung Ausdruck geben, daß Dohrn auf seine Kosten gekommen ist und daraus Vorteil ziehen konnte. Es wäre das nur der gerechte Lohn für sein Werk und seine Mühen gewesen {Sehr gut). Sicherlich fand er aber noch einen schöneren Lohn in der Achtung und Liebe, die ihm stets in Neapel zuteil geworden ist, das ihn auch anläßlich der fünfundzwanzig] ährigen Jubelfeier der Zoologischen Station zum Ehrenbürger ernannt hat. Als er starb, faßten Freunde und Bewunderer den Plan, ihm einen marmornen Denkstein zu errichten, und ich, der ich auf ganz andern Forschungsgebieten tätig bin, wurde damals eingeladen, der Kunstkommission bei- zutreten, die über das Werk des Bildhauers zu urteilen hatte. Es ist Ihnen auch gesagt worden, welcher Art der von Dohrn mit der Stadtverwaltung von Neapel geschlossene Vertrag war. Diese trat den Grund ab zur Errichtung und zum Betrieb der Zoologischen Station, und nach einer zunächst auf dreißig, dann (wegen der großen Erweiterung des Bauwerks) auf neunzig Jahre fest- gesetzten Frist sollte die Gemeinde Neapel vollkommen und ausschließlich Besitzerin der Station und aller ihrer 302 zugehörigen Bestandteile werden. Die Verlängerung von einem Zeitraum von dreißig auf einen von neunzig Jahren ist als etwas Ungeheuerliches erschienen; allein ich glaube, daß die Gemeinde Neapel damit sehr klug für das Gedeihen der Station vorgesorgt hat: denn wäre sie Eigentümerin geworden, was hätte sie Besseres tun können, als einen andern Konzessionär als Fortsetzer und Erben der Dohrnschen Überlieferung zu suchen? Sie auf eigne Rechnung zu führen, daran wird sie wohl niemals auch nur für einen Augenblick denken. Noch ein anderes Mißverständnis muß ich zerstreuen : daß nämlich die Station in ihrer Verwaltung vom preu- ßischen Staate abhinge und daß sie ihre Rechnungen nicht dem italienischen, sondern dem preußischen Staate ablege. Nun hat Preußen und, wie man hört, der deutsche Kaiser aus seiner Privatschatulle die Station mit reich- lichen Zuwendungen bedacht; es ist bei der Ordnung, mit der die Deutschen alle ihre Geschäfte abwickeln, natürlich, daß Abrechnungen verlangt und überprüft worden sind. Allein Italien, das, wie andere Staaten, einige Arbeitstische bezahlte, hatte, nachdem es diese zum Nutzen seiner Studierenden erhalten hatte, keinen vernünftigen Anlaß, sich weiter um die Geldgebarung der Station zu kümmern, die auf Gefahr und Kosten des Konzessionärs ging. Als Anton Dohrn im Jahre 1909 gestorben war, folgte ihm in der Konzession und der Leitung der Zoo- logischen Station sein Sohn, Dr. Reinhold Dohrn, über den ich von einigen Rednern nicht sehr günstige, oder besser nicht sehr sympathische Urteile gehört habe. Jedoch ein anderer Redner hat Ihnen schon in Erinne- rung gebracht, wie sehr anders der junge Dohrn vor 303 dem Kriege beurteilt, wie hoch und überschwenglich er von dem nämlichen italienischen Professor, jetzt Direktionsleiter der Zoologischen Station, begrüßt worden ist, dem Haupturheber der ganzen Treiberei, die ihren Widerhall hier im Senat gefunden hat. Ich, der ich, wie gesagt, andere Studien betreibe, bin nicht in der Lage, über die größere oder geringere wissen- schaftliche Fähigkeit des Dr. Dohrn zu urteilen ; allein ich muß in jedem Fall Ihre Aufmerksamkeit auf das lenken, was ich über das Wesen der Zoologischen Station vorgebracht habe, die an ihrer Spitze nicht einen Meister der Wissenschaft braucht, einen Entdecker oder Erfinder, ein Genie, sondern einen praktischen Organisator. Und Dr. Reinhold Dohrn ist ein redlicher und fleißiger Mann, der für das von seinem Vater begründete In- stitut volle Hingabe zeigt, dessen Überlieferungen kennt und dadurch Titel besitzt, um es lebenstüchtig und ge- deihensvoll zu machen, die man bei andern schwerlich in dieser Art beisammenfinden würde. Nun ist er auf seiner Rundfahrt durch das Ausland (um Unterstützung für die Station zu finden, von der er hofft, daß sie ihm wieder übertragen werde) von schwerer Krankheit be- fallen worden; Sie werden mir erlauben, daß ich ihm, wenigstens für meine Person, in diesem Augenblick, wo über einen Abwesenden und Kranken gesprochen wird, den herzlichsten Wunsch baldiger Wiederher- stellung ausdrücke. Es ist auch behauptet worden, daß die Zoologische Station in den Jahren vor dem Kriege einen gewissen, ausgesprochen deutschen Charakter angenommen habe, namentlich weil nach dem Tode Prof. Lobiancos, des Mitarbeiters Dohrns, dieser durch deutsche Gelehrte ersetzt worden sei. Das mag richtig sein oder nicht; 304 sicherlich aber muß das Übel nicht grofB gewesen sein, da damals nicht die leiseste Klage oder Widerrede er- hoben worden ist. Die Klagen und Widerreden sind sozusagen posthum: posthum nach dem Kriege. Denn durch den Krieg und allein durch den Weltkrieg, der sicherlich nicht durch Dohrns oder anderer Einzel- wesen Schuld entbrannte, sondern durch ein historisches Verhängnis, wurde die Krisis der Zoologischen Station hervorgerufen. Es ist nicht richtig, daß Dr. Reinhold Dohrn, wie der Senator Arlotta gesagt hat, 19 14 aus »Italien geflüchtet wäre und die Station ihrem Schicksal überlassen hätte. Dr. Dohrn verließ Italien im Mai 1 9 1 5, als dieses in den Krieg eintrat; er verließ es auf Anraten des deutschen Konsuls und ließ gar nichts im Stiche, sondern übergab, in vollkommener Korrektheit, seine Vollmacht für die Weiterführung der Zoologischen Sta- tion einem Italiener, Prof. Federigo RafFaele, dem Ver- treter der Zoologie an der Universität Rom, der seiner- seits den italienischen Unterrichtsminister davon sofort in Kenntnis gesetzt hat. Wie Ihnen dargelegt worden ist, beschloß die ita- lienische Regierung im selben Jahr 1 9 1 5 die Einsetzung einer Kommission für die zeitweilige, außerordentliche Leitung der Station. Der Bevollmächtigte Prof. Raffaele glaubte sich in seiner Eigenschaft als italienischer Bürger und Hochschullehrer nicht befugt, dem entgegenzu- treten und beschränkte sich darauf, einen Einspruch zugunsten der Wahrung von Dohrns Rechten nieder- zulegen. Ich gedenke nicht, die Ersprießlichkeit der damals von der italienischen Regierung getroffenen Ver- fügung zu untersuchen; diese übernahm ja im Grunde ein nichf ihr gehöriges Institut, das während des Krieges und des Auf hörens der internationalen Beziehungen ganz 30 Croce, Randbemerkungen eines Philosophen 305 gut in einem zeitweiligen Stillstand verharren konnte, und bestritt die Kosten dafür aus dem eigenen Säckel. Sei dem nun wie immer, die italienische Kommission zur Führung der Geschäfte gefährdete in nichts das Ge- schick des Instituts und entstellte nicht seinen Charakter. Dies geschah aber durch die Notverordnung vom 26. Mai 191 8; es ist die vor kurzem durch die Regie- rung aufgehobene, die wir eben erörtern : eine Verord- nung, die ich nicht von ihrer formalen juridischen Seite her untersuchen will; einigen rechtskundigen Rednern, die zu dieser Interpellation das Wort ergriffen haben,j^ ist sie als eine juridische Ungeheuerlichkeit erschienen. Ich möchte mir nur die Bemerkung erlauben, daß durch diese Verordnung nicht bloß Dr. Dohrn der Gerecht- same, die ihm nach dem mit der Gemeinde Neapel ge- schlossenen Vertrag zustanden, verlustig ging, sondern auch diese Gemeinde selbst ihr Eigentum nur mehr dem Namen nach und in widerspruchsvoller Weise besaß, da hierdurch aus der Zoologischen Station ein autonomes Gebilde mit unbegrenzter Dauer gemacht wurde, während die Konzession der Gemeinde Neapel auf eine Dauer von 90 Jahren festgelegt war, so daß ihr Übergang in das unbedingte und tatsächhche Eigen- tum der Gemeinde Neapel auf den Nimmermehrstag verschoben wurde. Ich muß aber daran erinnern, daß jene Notverord- nung noch nicht Gesetz geworden war ; so daß es mir, als dem neuen Unterrichtsminister, oblag, sie zur Annahme vorzulegen und die Erörterung darüber einzuleiten ; was so viel heißt, daß ich in gewisser Hin- sicht die Verantwortlichkeit dafür übernahm. Es ent- sprang also durchaus nicht einer bloßen Laune* von mir, wenn ich auf das, was geschehen war, zurückkam. 306 Noch eine andere Erklärung bin ich bemüßigt vor- auszuschicken; sie betrifft meinen Ruf als „Deutschen- freund" (um das im Kriege geprägte Wort zu ge- brauchen) : Deutschenfreund durch meine literarischen und philosophischen Forschungen und durch die Wertschätzung, die ich stets für die von Deutschland der Wissenschaft geleisteten Dienste bezeugt habe. In der schwebenden Erörterung hat man auch auf das Archäo- logische Institut angespielt, dessen Rückstellung an das Deutsche Reich ich beantragt habe. Jawohl, das habe ich beantragt, weil ich glaubte — und ich habe das lange vorher an den damaligen Minister Nitti geschrieben, ehe ich ahnen konnte, daß ich einmal selbst Minister würde — , es mache durchaus keinen schönen Eindruck, wenn man sich einer Sache be- mächtige, die der geistigen Arbeit anderer entsprossen war, und es ginge nicht an, zwischen den italienischen und den deutschen Forschern, welch letztere sehr viel auf ihre archäologische Bibliothek halten, und deren Rückstellung in Kundgebungen von Privatleuten und Vereinigungen wie auf diplomatischem Wege ver- langten, Haß und Zwietracht zu säen. Was die Zoolo- gische Station betrifft, so machten sich jedoch derlei Bemühungen nicht geltend, da auch die Deutschen sehr wohl wußten, es handle sich um eine private Ein- richtung internationalen Charakters. Demnach kommt das Verdienst oder die Schuld für das, was ich vorge- schlagen und durchgesetzt habe, mir allein zu, und ich wurde dazu einzig und allein durch das Interesse der italienischen Verwaltung bewogen. Als ich mich mithin, wie es meine Pflicht war, daran machte, die Frage der Zoologischen Station zu unter- suchen, fand ich mich folgender Sachlage gegenüber. 80* 'JQJ Vor allem ergab sich eine schwierige finanzielle Lage, da ich sah, daß Dohrn der Weg zu einer Klage auf Schadloshaltung offen stand und ich nicht voraus- sehen konnte, bis zu welcher Höhe sich diese erstecken würde : gewiß auf einen sehr hohen Betrag, wenn es auf Richtigkeit beruht, was meine Gegenredner an- führen, daß Dohrn aus dem mit der Gemeinde Neapel geschlossenen Vertrag reichlichen Nutzen gezogen hat. Underdessen hatte der italienische Staat für die Zoolo- gische Station 275000 Lire außerordentlicher Zu- schüsse verausgabt und mit den andern Kosten, nach den Berechnungen des Senators Volterra, ungefähr eine halbe Million. Nicht genug daran : der Leiter der Station kam zu mir, um für das laufende Jahr einen neuen außerordentlichen Zuschuß, ich glaube von 50 000 Lire, zu verlangen; er deutete verhüllt auf For- derungen der Beamten um Gehaltserhöhung hin. Auch damit war es noch nicht getan : eine Kommission (der auch der Senator Volterra angehörte) verlangte vom Staate zur endgültigen Neuordnung der Zoologischen Station einen festen Jahresbeitrag von 400000 Lire. Meine Herren Senatoren, ich habe die Mahnung, die aus dem Schöße des Senats ergangen ist, alle Er- sparnisse, die möglich, zu machen, ernst genommen: das hat mir etliche Verstimmungen eingetragen und tut es noch, was ich in Geduld trage (Sehr gut!). Allein, hier handelt es sich nicht um Ersparnisse, sondern um eine viel einfachere Frage, die ich als Verwalter stellen mußte: Weshalb sollte der itaHenische Staat, der vor dem Kriege nichts für die Zoologische Station (außer der Bezahlung für die Arbeitstische) ausgegeben hat, sich in dieses Meer von finanziellen Verantwortlich- keiten und Ausgaben stürzen? 308 Noch schlimmer war es um die Disziplinarlage der Station bestellt. Die zwei italienischen Professoren, die an ihrer Spitze stehen, waren schon untereinander in Streit geraten ; der eine setzte den andern herab, selbst im Auslande, indem er alles mögliche Unheil für die Station vorhersagte. Der also angegriffene Leiter be- kämpfte, wie es sich von selbst versteht, den andern und war überdies noch mißtrauisch gegen den Senator Volterra und den Ausschuß für Meereskunde, da er sie beschuldigte, die Zoologische Station in Neapel auf- saugen, sich ihrer Bibliothek bemächtigen zu wollen und ähnliches. Er selbst hat mir davon Mitteilung ge- macht; übrigens besteht ein schriftlich niedergelegtes Zeugnis dieses Zwistes, da Jenaer Leiter sich weigerte, mit den andern Beauftragten den letzten, schon früher erwähnten Bericht über die Neuordnung der Station zu unterschreiben. Was wäre mir nun zu tun übrig geblieben? Alle wegzuschicken und einen neuen Leiter zu wählen. Aber die Notwendigkeit dieser all- gemeinen Entlassung war keine leichte Sache, ebenso- wenig, eine geeignete Persönlichkeit zu finden. Tatsächlich rief auch diese Personenfrage einen an- dern wohlbegründeten Zweifel in mir wach, ob man nicht sehr übel daran täte, das Daseinsgesetz dieses In- stituts, als auf privatem Unternehmungsgeist ruhend, zu ändern. Es ist bekannt, daß es stets sehr gefährlich ist, die staatliche Organisation an Stelle dessen durchzuführen, was von Einzelwesen geschaffen und verwaltet worden ist, die ihre Begeisterung und ihren Vorteil an die Sache setzen [Sehr gut!). Die drei auf dem Wege des Wettbewerbes ernannten Leiter mit den drei zuge- hörigen Kanzleien und Instituten, die die Kommission für die Neuordnung vorschlug, machten mir Angst. 309 Das einzige Heil schien mir darin zu liegen, einen neuen Konzessionär zu suchen. Mußte man aber auf einen Unternehmer oder Kon- zessionär zurückgreifen, wozu dann den frühern ver- schmähen? Weshalb nicht die Gelegenheit ergreifen, einerseits die Streitigkeit mit Dohrn beizulegen — sie war schon durch eine Berufung an den Staatsrat und einen an den Minister des Äußern gerichteten Ein- spruch eingeleitet — , anderseits ein internationales Frie- denswerk zu vollbringen, durch die Beseitigung eines aus der Psychologie oder vielmehr der Psychose des Krieges heraus entstandenen Erlasses? Ich erinnerte mich damals, vom Ministerium des Äußern ein paar Monate vorher ein zu einem frühern Zeitpunkte eingebrachtes Gesuch Dr. Reinhold Dohrns erhalten zu haben, in dem dieser den Wunsch aus- drückte, noch an dem von seinem Vater geschaffenen Werke irgendwie mitarbeiten zu können: eine sehr bescheidene Forderung, die mich rührte, die ich aber nicht entgegennehmen zu können glaubte, da ja ein autonomer Körper gebildet worden war. Ich ließ da- mals Dohrn rufen und fragte ihn, ob er gegebenen- falls geneigt wäre, den Betrieb der Zoologischen Station unter den Bedingungen des Vertrages, den sein Vater mit der Gemeinde Neapel geschlossen hatte, wieder zu übernehmen. Dohrn zögerte etwas, da ihm nach allem dem Vorgefallenen, nach der Verwirrung, die der Krieg in seinen privaten Beziehungen und seinen Interessen hervorgebracht hatte, die Bürde nicht leicht erschien; endlich aber stimmte er zu, bewogen von seiner Liebe zur Sache. Ich fügte damals hinzu, daß es eine notwendige Vorbedingung sei, wenn ich diesen Plan in Erwähnung ziehen und dem Ministerrat vor- 310 legen sollte, daß Dohrn dem Ministerium des ÄufBern eine ausführliche und vollständige Verzichtserklärung auf alle seine Rechte und Forderungen gegenüber dem italienischen Staat für alles, was seit 19 15 vorgefallen war, überreiche. Nach einigen Wochen übersandte mir das Ministerium des Äußern Dohrns Erklärung; ich bereitete die Aufhebung der Notverordnung vom 26. Mai 191 8 vor und brachte sie vor den Minister- rat, der sie guthieß. In dieser meiner Entschließung liegt gar nichts Ge- heimnisvolles. Bevor ich sie faßte, benachrichtigte ich zwischen Juli und August den Leiter der Zoologischen Station, der, abgesehen von den gegenwärtigen Un- stimmigkeiten, ein alter Freund und Schulgenosse von mir ist, und besprach die Sache durch zwei volle Stunden mit ihm; er kam meinen Gründen gegen- über zu dem Schlüsse, daß „meine Logik keinen Sprung aufweise", daß er aber beauftragt sei, den italienischen Charakter der Station zu wahren ; worauf ich entgeg- nete, es sei mir weit wichtiger, daß er die zwingende Logik meiner Gründe anerkenne und daß ich ihm volle Freiheit ließe, gegen mich aufzutreten. Ich sehe, daß er von dieser ihm gegebenen Erlaubnis reichlichen Gebrauch gemacht hat, da sie mir unzählige Proteste aus Italien und dem Ausland zugezogen, Anfragen und Interpellationen in der Kammer, sowie zwei Tage der Erörterung im Senat eingetragen hat (Gelächter). Ich unterrichtete auch den Senator Volterra davon, der mich, ich glaube im August, aufsuchte, um zu fragen, was an dem Gerücht auf Wahrheit beruhe, ich beab- sichtigte die Zoologische Station wieder in ihr Verhältnis vor dem Kriege einzusetzen. Und da man ein großes Wesen aus der Tagesordnung einer Versammlung deutscher Naturforscher im vergangenen September gemacht hat, so will ich sagen, daß mir diese Tages- ordnung niemals mitgeteilt worden ist, und daß ich ebenso wie der Senator Volterra von ihr bloß aus den ita- lienischen Tageszeitungen weiß. Ich nehme an, daß Dohrn, der sich nach Deutschland begab, um die Fäden seiner Arbeit wieder aufzunehmen, etwas über die geneigten Absichten der italienischen Regierung hat verlauten lassen, und jene Naturforscher auf die Kunde davon sich bewogen gefühlt haben, Italien für seine Großmut und Gerechtigkeitsliebe zu danken. Es liegt also nichts darin, was uns Unehre machen könnte. Senator Volterra hat an der Schlußformel Anstoß genommen, die den Charakter der unmittelbaren Aus- führung des Auf hebungsdekretes betrifft. Allein, das ist die ständige Formel aller Notverordnungen, sowohl derjenigen, die die autonome Körperschaft einsetzt, wie der meinigen, die sie aufhebt. Senator Arlotta wundert sich, daß die Regierung, nachdem sie die Verpflichtung auf sich genommen, keine Notverordnungen mehr zu erlassen, trotzdem eine solche erlassen hat. Allein er vergißt, daß der Präsident des Ministerrates, als er diese Erklärung ab- gab, einige Fälle ausnahm und unter diesen befindet sich gerade der Fall der Notverordnungen, die den Staatshaushalt belastende Institute abschaffen : und wie dies bei der Zoologischen Station zutrifft, habe ich be- reits gesagt. Bei der Aufhebung dieser Notverordnung vom 26. Mai 191 8 und der Wiederherstellung des Vor- kriegszustandes hätte ich Dohrn einige andere Be- dingungen stellen können, abgesehen von dem bereits 312 erwähnten Verzicht. Weshalb tat ich es nicht? Wes- halb habe ich nicht einen italienischen Ausschuß, der die Geschäftsführung der Station zu überwachen hätte, eingesetzt? Gewiß nicht darum, weil Dohrn sich da- gegen gesträubt hätte; er hat sich allen Forderungen, die die italienische Regierung an ihn stellte, gefügig erwiesen und tut es noch. — Aber ich sehe keinen Mittelweg zwischen privater und staatlicher Geschäfts- führung, und ich liebe die Zwitterdinge nicht, die stets höchst üble Wirkungen haben. Ich deutete Dohrn an, daß die Veröffentlichungen der Zoologischen Station ein italienisches Titelblatt haben und Abhandlungen in allen auf den internationalen Kongressen zugelasse- nen Sprachen enthalten sollten; er hat dem zuge- stimmt. Ich sagte ihm, er müsse italienische Gelehrte zu seinen Mitarbeitern machen. Auch dem hat er sofort zugestimmt. Allein, ich verfolgte diesen Faden nicht weiter ; denn ich erwog, daß alle vernünf- tigen Einschränkungen und Überwachungsmaßregeln, die die italienische Regierung für gut erachten würde, sich bei andern Gelegenheiten festsetzen ließen : näm- lich wenn sie ihren Beitrag für die Arbeitstische oder bestimmte andere Aushilfen festsetzen würde. Meine Herren Senatoren, diese schlichte Darstel- lung, die ich Ihnen gegeben habe, enthält die voll- ständige Rechtfertigung für die von der Regierung, der anzugehören ich die Ehre habe, getroffenen Ver- fügungen. Erlauben Sie, daß ich mich nicht dabei auf- halte, gewisse Einwürfe, die ich schon stillschweigend widerlegt habe, nochmals zu entkräften. Ich möchte nicht der Versuchung zur Polemik, der ich in mei- nem Leben allzuoft nachgegeben habe, unterliegen. Wollte ich polemisieren, so müßte ich Ihnen jedoch zeigen, wie die mannigfachen Verwahrungen von Akademien und Fakultäten in diesem Falle wenig Wert besitzen, da es etwas anderes ist, eine Frage im allgemeinen als im besonderen zu betrachten; etwas anderes, sie von außen als von innen her zu erwägen. Ich erinnere mich, daß ich das vergangene Jahr in Neapel, als Vorsitzender einer Akademie, auf den Be- richt eines Mitgliedes hin, der Ihr Kollege in diesem Senate ist, eine Aufforderung an die Regierung be- schließen ließ, des Inhalts, sie möge die Abtragung eines alten Kirchturmes nicht zulassen; diesem Be- schluß traten alle übrigen Akademien, die literarischen und künstlerischen Gesellschaften Neapels bei, und hätten wir es gewollt, auch die von ganz Italien ; der Präfekt unterstützte ihn, und die Regierung zog den Auftrag zur Niederlegung des Turmes zurück. Allein durch eine Ironie des Schicksals kam dieselbe Frage ein paar Monate später vor die Denkmälerkommision des Landtages, zu deren Vorsitzendem ich mittlerweile ernannt worden war, wie der Berichterstatter von da- mals zum Beirat; und da ließ ich, gerade ich, nach- dem ich die finanziellen Kosten zu Lasten der Ge- meinde kennengelernt, ferner den Straßenzug, das Verkehrshindernis, das jenes Überbleibsel verursachen, und die häßliche Figur, die es machen würde, erwogen hatte, den Beschluß über seine Niederlegung fassen. {Gelächter.) Wer wollte einen Beschluß gleich jenem der Akademien und Fakultäten, die Zoologische Station betreffend, einen Beschluß, in dem das Italienertum verherrlicht und die Würde der italienischen Wissen- schaft in Schutz genommen wird, nicht unterschrei- ben? Allein, hier hat weder das eine noch das an- dere davon irgend etwas zu tun; die Frage ist eine ganz andere: sie ist rechtlicher, verwaltungsmäßiger, technischer Art; und ich, der ich sie aus meiner Amts- pflicht heraus studieren mußte, bin für sie zuständiger als sämtliche Akademien und Vereinigungen, die dies nicht getan haben. Ebenso könnte ich den Briefen, aus denen Ihnen der Senator Volterra einige Bruchstücke vorgelesen hat und die den Widerstand betreffen, den englische und französische Gelehrte der Zurückgebe der Station an Dohrn entgegensetzen, einen ganzen Stoß von Briefen, die ich hier vor mir liegen habe, gegenüberstellen, von hervorragenden amerikanischen, norw^egischen, däni- schen, ja selbst englischen Gelehrten, und die gerade das Gegenteil besagen. Unter anderem befindet sich darunter der Vorschlag, alles zu retten, indem man Dohrn die Stadion zurückgäbe und sie unter den Schutz des Völkerbundes stellte ! Allein, wohin würde es führen, wenn man die verschiedenen Meinungen einander gegenüberstellte? Welche Lehre würde sich daraus ergeben.? Daß die Anschauungen noch geteilt sind, daß viele noch die Nachwirkungen des Krieges fühlen und sehr viel andere sich schon in friedlicher Verfassung befinden. Es liegt auf der Hand, daß die nächste Zukunft, und wir müssen es uns wünschen, der Friedens-, nicht der Kriegsrichtung gehöre. Und diese friedliche Gesinnung eignet vielleicht mehr als jedem andern dem italienischen Volke, sie ist auch die meine, als Bürger, und als Mitglied der italienischen Regierung. Der Senator Arlotta (dem ich für die allzu wohl wollenden Worte, die er meiner Person gezollt hat, danken muß), hat daran erinnert, daß Mäßigung ein Ruhmestitel Italiens sei. Jawohl, das ist eine festgewurzelte Tugend und ein wohlver- 315 dienter Ruhm von uns. Ich glaube jedoch, daß im vorHegenden Falle die beste Weise, unsere National- tugend zu bekunden, in der von der Regierung ge- wählten Richtung, nicht aber in der von den ehren- werten Interpellanten gewünschten liegt, die sich von der Leidenschaft haben hinreißen lassen : ohne Zweifel von einer überaus edlen, aber blind wie eben jegliche Leidenschaft. Ich überlasse es jedenfalls dem Senate, diese Sache zum Austrag zu bringen. {Lebhafter Beifall^ der Redner wird beglückwünscht.) INHALT Vorwort des Übersetzers 7 1914 Als Einleitung (ein Interview) Ii Anläßlich einer Unterschrift . 15 Entscheidungsgründe 20 Deutsche Kultur und italienische Politik 24 1915 Unverdientes Glück 29 Gegen die Nebelhafiigkeit und den Materialismus in der Politik • • 35 Kampfmethoden des italienischen Nationalismus ... 46 Die Politik eines philosophierenden Chemikers .... 48 Hegelfeindliche Verstimmungen 50 Italiens Eintritt in den Krieg und die Pflichten des Ge- lehrten . 53 D'Annunzio und Carducci 58 Philosophie und Krieg 63 Ferrero und die Philosophie . 67 Kultur und Zivilisation 70 Nützliche und unnütze Dinge 72 Was jetzt die Philosophen sagen . . . . . . . . 73 Deutschfreundlichkeit (Interview) 74 Ein verrufenes Wort , ... 82 Ein verhaßter Name 86 Der Staat als Macht 89 Zum bessern Verständnis 94 1916 Nutzen der Polemik 98 Sittlichkeit der Lehre vom Staat als Macht 99 Deutscher Freimut . loi Sittlicher Tiefstand der Lehre vom Staat als Recht . . 103 Womit sich italienische Professoren mühen .... 104 Womit sich deutsche Professoren mühen iio Eine falsche Anekdote iii Grenzen der Lehre vom Staat als Macht 115 Gegen das 18. Jahrhundert . ii8 Geistige Kraft und Volkskraft 121 Leidenschaft und Wahrheit. Unzulängliche Gründe . 122 Vom Völkerrecht 127 Noch etwas über die Philosophie des Krieges . . . 131 Klassik und Romantik 135 Die neue Auffassung vom Leben 140 Noch ein weiteres 145 Von Italiens Geschichte '. 147 Optimismus 151 „Italienisch-französische Gesellschaft." Ein Wort für den Ernst der Wissenschaft 157 Für den Ernst des politischen Empfindens 160 1917 Organisation und geschichtliches Wesen 164 Tote und lebendige Geschichtlichkeit 167 Die neue Organisation . 171 T Literarisches Zwischenspiel 174 Schriftsteller aus der Zeit vor dem Kriege: (M. Barrys). 174 Der sinnlich gerichtete Nationalismus . . . . . . 179 Sinnlicher und geistiger Nationalismus 182 P. Claudel 184 Der Stil Claudels 187 Claudels religiöse Dichtung 190 Berühmtheiten aus der Zeit vor dem Kriege: A. Rimbaud 192 Die Ursache von Rimbauds literarischem Ruf. . . . 196 \ Rimbaud als Seelen werber für die katholische Kirche . 198 ^"*TÖer Krieg und die Studien 200 Krieg und Bürgertum 208 Der Krieg Italiens, das Heer und der Sozialismus . . 213 1918 Noch etwas über die Philosophie der Politik 223 Das Vorurteil vom „besten Staat" 226 318 Das Vorurteil von der Größe der Völker . . . . . 229 Das Amt der Redner und die Pflichten der Gelehrten. Vom Sagen und Nichtsagen der Wahrheit 231 Die Demokratie, die vorgeblich „gefährlichen Wahr- heiten" und die vorgeblich „heilsamen Lügen" . . 232 Die Ehrfurcht vor der Wahrheit und der Sinn für das Zw^eckmäßige 236 Ideologische Überlebsei . . . . 238 »/ Geschichtlichkeit und Beharrungsvermögen der Frei- maurerideologie 244 Nationale Verbesserungspläne. Gegen die sogenannten allgemeinen Reformen 251 Politik und Denken in Italien 253 Reformen des Denkens und der Kultur 255 Die Reform des Denkens als die wahre „allgemeine" Re- form 258 Gedanken über die Kunst der Zukunft. Erwartung schlimmerer Zeiten für die Kunst 260 Der Futurismus eine der Kunst fremde Sache . . . 262 Notwendiges Verhalten in kunstfeindlichen Zeiten . . 265 Das russische Denken in der Beleuchtung durch zwei neue Bücher 267 Drei Arten des Sozialismus 277 Der Sieg 281 ANHANG 1919 Der „Völkerbund" (ein Interview) 286 1920 Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen . . . 290 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes . . 293 Über die zoologische Station von Neapel (Senatsrede) . 300 AMALTHEA-VERLAG ZÜRICH/LEIPZIG/WIEN BENEDETTO CROCE Goethe Obersetzt von Julius v. Schlosser Mit einem bisher unveröffentlichten Goethebild von LIPS Preis brosch. M.35. — , geb. M. 45.— 3. — 4. Tausend Nürnberger Zeitung: „Dies Buch gehört zum Reifsten, was über Goethe gesagt wurde." „Literarisches Echo" : „Das stattliche, auch durch sein Äußeres besonders erfreuliche Buch enthält eine Fülle feiner und tiefer Bemerkungen . . . es ist einer der besten Führer in das Bereich Goethes." „Vossische Zeitung", Berlin: „Das Buch ist ein so ehrliches und wert- volles Bekenntnis zu Goethe, daß man es als ein goldenes Glied zu der Kette, die den geistigen Völkerbund zusammennält, bezeichnen kann." • Dantes Dichtung Übersetz^von Julius v. Schlosser Preis brosch. M. 45.—, geb. M. 55.— „Neue Zürcher Zeitung": „An der Hand dieses Buches durch die Gött- liche Komödie zu wandern, ist ein schönster und reichster Genuß. Dem Dichter Dante ist noch kein reineres, edleres Denkmal gesetzt worden." * Ariost, Corneille, Shakespeare übersetzt von Julius v. Schlosser Croce, Benedetto JAH191991